Japan und die Atomkraft: Vertrauen in die Technik

Nr. 11 –

In Japan gibt es durchaus einen Widerstand gegen die Atomkraft. Er findet aber wenig Gehör. Paradoxerweise hängt das mit dem Trauma von Hiroshima und Nagasaki zusammen.

Japan ist dicht besiedelt, stark erdbebengefährdet und wurde als einziges Land der Welt Opfer von Atombombenangriffen. Das sind Faktoren, die grosse Zurückhaltung im Umgang mit der Atomtechnik erwarten liessen. Doch Japan setzte bislang stark auf die Atomkraft. Eine japanische Anti-Atom-Bewegung, war dieser Tage öfter zu lesen, gebe es nicht. Ein erstaunlicher Befund – aber stimmt er?

Es gebe sehr wohl eine Tradition des Widerstands gegen die Nutzung der Atomkraft, sagt Gesine Foljanty-Jost, Professorin am Institut für Politikwissenschaft und Japanologie an der Universität Halle. Er sei aber über Japan hinaus kaum bekannt, da er – wie andere soziale Bewegungen Japans – vorwiegend lokal organisiert sei. Dort sei er auch durchaus wirksam und habe schon mehrere AKWs verhindern können. So liess der Bürgermeister von Maki 1996 über ein geplantes Atomkraftwerk abstimmen. Die GegnerInnen gewannen, das Werk wurde nicht gebaut. Dass die japanischen AKWs vorzugsweise in dünn besiedelten, strukturschwachen Regionen wie in Fukushima stehen, sei vor allem darauf zurückzuführen, dass der Widerstand dort am geringsten gewesen sei. Auch die Konzentration mehrerer Reaktoren am selben Standort sei der Minimierung des Widerstands geschuldet.

Keine nationale Organisation

Eine starke nationale Dachorganisation indes gibt es nicht. Das 1975 gegründete Citizens’ Nuclear Information Center (CNIC) in Tokio betrachtet es als seine Aufgabe, unabhängige Informationen über Atomanlagen bereitzustellen; es gibt die Zeitschrift «Nuke Info Tokyo» auf Japanisch und Englisch heraus und organisiert Symposien, und es versteht sich als «anti-nukleare Organisation», die auf das Ziel einer atomkraftfreien Welt hinarbeitet. Wegen überlasteter Telefonleitungen war es der WOZ nicht möglich, mit dem CNIC zu sprechen.

Die Bekanntheit und Wirkung des CNIC scheint indes eher gering zu sein. Die amerikanische Geografin Nathalie Cavasin schrieb 2008 in einem politikwissenschaftlichen Aufsatz, der Protest gegen AKWs äussere sich in vier Gruppierungen: AnwohnerInnen, Parteimitglieder, Frauengruppen und AkademikerInnen. Doch die Szene sei «fragmentiert». Es fehlt ihr also, was in den siebziger Jahren entscheidend war für die Stärke der Anti-AKW-Bewegungen im deutschen Sprachraum: die Vernetzung, die die maoistische Studentin mit dem konservativen Weinbauern Seite an Seite kämpfen liess.

Cavasin schreibt allerdings auch von den «Anfängen eines nationalen Netzwerks». Störfälle in jüngerer Zeit, darunter der Atomunfall von Tokaimura von 1999, bei dem mehrere Hundert Menschen verstrahlt wurden, oder die Wiederinbetriebnahme des Schnellen Brüters von Monju 2010 lösten breitere Kritik aus. Fälle von Misswirtschaft in Atomkraftwerken waren bekannt (vgl. «Ein Konzern ausser Kontrolle» ). In der «Japan Times» schrieb die amerikanische Atomfachfrau Leuren Moret vor sieben Jahren: «Die Frage ist nicht, ob sich in Japan ein nukleares Desaster ereignet, die Frage ist nur, wann das geschieht.» Der atomfreundliche Kurs der Regierung aber stand nie infrage; gegenwärtig baut Japan zwei neue AKWs, mehrere weitere sind in Planung.

Angst vor Energieknappheit

Neben der Bevölkerungsdichte und der Erdbebengefährdung, die eigentlich Atomskepsis bewirken müssten, gibt es einige Faktoren, die den Mangel an Widerstand erklären helfen. Die Angst vor Energieknappheit ist eine Konstante in der japanischen Geschichte. Japan hat keine Kohle-, Öl- oder Gasvorkommen. Die Industrialisierung wurde im 19. Jahrhundert nicht mit kohlebetriebenen Dampfmaschinen, sondern mit Wasserkraft und schon früh mit Elektrizität vorangetrieben. Japans Überfall auf China 1937 galt auch den chinesischen Kohlevorkommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Atomkraft ein Weg, nicht von Kohleimporten aus China abhängig zu werden. Bis heute ist es in Japan üblich, elektrisch zu heizen – das besonders stromfressende Heizen mit der Klimaanlage gilt als fortschrittlich. Energiesparprogramme erzielen kaum Wirkung, erneuerbare Energien werden erst sehr zögerlich ausgebaut. In der internationalen Klimadiplomatie gehört Japan zu den grossen Bremsern.

Trauma der Bombe

Einen weiteren Grund für die Atomfreundlichkeit sieht der deutsche Umwelthistoriker Joachim Radkau paradoxerweise ausgerechnet im Trauma der Bombe: «Vermutlich waren die Atomkatastrophen von Hiroshima und Nagasaki so ungeheuer, dass sie von vielen Japanern nicht mehr kreativ verarbeitet, sondern nur noch verdrängt werden konnten.»

Dazu sagt Foljanty-Jost: «Wenn in einem derart erdbebengefährdeten Land wie Japan AKWs gebaut werden, muss viel Verdrängung im Spiel sein. Auch die Erdbebengefahr wird verdrängt.» Und die viel gelobten japanischen Erdbebenvorbereitungen? «Die werden stark mystifiziert. Wenn man da lernt, sich im Falle eines Bebens unter dem Tisch zu verstecken, so hat das symbolischen, kaum aber praktischen Wert.»

Die Debatten um Atomwaffen und um die friedliche Nutzung der Atomenergie verliefen in Japan bisher getrennt. Als 1954 japanische Fischer durch den ausser Kontrolle geratenen amerikanischen Atombombentest Castle Bravo verstrahlt wurden, erwuchs daraus eine bis heute aktive Friedensbewegung. Gegen AKWs hat sie sich nie gerichtet. Die Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW), deren europäische Sektionen Teil der Anti-AKW-Bewegung sind, richten sich in Japan nicht gegen die friedliche Nutzung der Atomkraft. Umgekehrt, sagt Foljanty-Jost, argumentieren die AKW-GegnerInnen nicht mit Hiroshima und Nagasaki.

Japanerinnen und Japaner sind ziemlich technikgläubig und beispielsweise stolz auf ihre erdbebensichere Architektur. Doch die japanische Gesellschaft hat schon mehrmals bewiesen, dass sie in ökologischen Krisen umdenken kann – etwa nach dem so genannten Minamata-Skandal in den fünfziger Jahren, als quecksilberhaltige Abwässer über 20 000 Menschen vergifteten und 3000 töteten. Werden wir auch jetzt ein Umdenken erleben? Das wage sie nicht zu sagen, sagt Foljanty-Jost. «Weil die Ursache ein Erdbeben war, steht der Weg offen zu sagen: Das war Schicksal.»