Durch den Monat mit der Soziologin Claudia Honegger (Teil 4): Warum helfen die Risikorechnungen nicht?

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Die Atomkatastrophe und die Finanzkrise hätten einiges gemeinsam, sagt die Soziologieprofessorin Claudia Honegger: Es habe schon lange warnende Stimmen gegeben, doch niemand wollte auf sie hören.

«All die Risiken werden einzeln und hochpräzis berechnet – doch was ist, wenn mehreres zusammenkommt?» Claudia Honegger vor einem Porträt, das H. A. Sigg 1966 von ihr malte.

WOZ: Die Welt ist nicht mehr dieselbe, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben. Erdbeben in Japan, Krieg im Maghreb. Zudem hat Saudi-Arabien über tausend Soldaten nach Bahrein geschickt, um angeblich die Herrscherfamilie zu schützen. Sie haben erzählt, Ihr Sohn weile in Bahrein. Wie geht es ihm?
Claudia Honegger: Er ist schon vorher wieder nach London abgereist. Saudi-Arabien hat wirklich die Gunst der Stunde genutzt und im Schatten von Tsunami und Libyen seine Panzer geschickt.

Wie geht es weiter?
Das ist offenbar schwierig zu sagen. Anders als bei den anderen Revolutionen herrscht punkto Bahrein auf dem Fernsehsender al-Dschasira weitgehend Funkstille.

Wir haben das letzte Mal über die Finanzkrise und das Buch «Strukturierte Verantwortungslosigkeit» gesprochen. Im Schlusskapitel wird die Risikogesellschaft thematisiert. Gibt es zwischen der Finanzkrise und der Atomkatastrophe in Japan Gemeinsamkeiten?
Ich denke schon, obwohl ich mich in der Atomdebatte nicht gut auskenne. Bei der Finanzkrise hat man so getan, als ob sie wie eine Naturkatastrophe über uns hereingebrochen wäre. Es hat aber schon in den achtziger und neunziger Jahren kritische Stimmen gegeben, man wollte sie einfach nicht hören. Das war ja bei der Anti-AKW-Bewegung nicht anders.

Sie erwähnen im Schlusskapitel Niklas Luhmann, dessen Analyse sich heute auch wie eine Fukushima-Prophezeiung liest.
Seine «Soziologie des Risikos» ist 1991 erschienen, schon damals warnte er vor den innovativen Finanzprodukten, aber auch vor den ökologischen Risiken – sie hätten «den Charakter unvorhersehbarer Effektakkumulationen, Schwellenüberschreitungen, plötzlich eintretender Irreversibilitäten und nicht mehr kontrollierbarer Katastrophen». Das war ziemlich hellsichtig.

Noch nie hat sich der Mensch so intensiv mit Risikoberechnungen beschäftigt wie heute. Warum hilft es nicht?
Wir sind von Risiken umzingelt. Permanent hören wir, wie hoch das Risiko ist, am Rauchen zu sterben oder an Krebs oder bei einem Flugzeugabsturz. Wir haben uns an die Risikogesellschaft gewöhnt, sonst könnten wir nicht mehr leben. Man errechnet Risiken für die Finanzmärkte, für den Immobilienmarkt, für Ereignisse in einem AKW oder für Naturkatastrophen. All die Risiken werden einzeln und hochpräzis berechnet – doch was man nicht berechnet: Was geschieht, wenn mehreres zusammenkommt? Die Wissenschaft teilt alles in kleine Einheiten auf. Darin werden dann hochkomplexe Modelle entwickelt, an die man unerschütterlich glaubt. Das gibt natürlich ein gutes Gefühl der Sicherheit. Der gesunde Menschenverstand hat da keinen Platz mehr.

Wie meinen Sie das?
Wie gesagt, ich kenne mich nicht aus bei AKWs, aber wenn ich höre, dass ein AKW Risse im Kernmantel hat, sagt doch mein Verstand, dass es gefährlich wird, wenn ein solcher Reak­tor bei einem Beben heftig durchgeschüttelt wird. Die schönen Modellrechnungen sagen aber etwas anderes. Oder bei der Finanz­krise – der gesunde Hausfrauenverstand sagt doch: Es kann nicht gut kommen, wenn Leute, die kein Geld haben, Kredite erhalten, um Häuser zu kaufen. Doch dann zerstückelt man das Risiko, verpackt es neu und tut dies nochmals und nochmals, bis man das Risiko nicht mehr sieht.

Ihr Essay über die Männerwelt der Banken trägt den Titel «Prestigedarwinismus im Haifischbecken». Was ist Prestigedarwinismus?
Den Begriff habe ich nicht erfunden, aber es geht um die Frage: Wie viel braucht der Mensch zum Leben? Superverdiener brauchen immer mehr Prestigeobjekte – einen Porsche, Rennpferde, einen Formel-1-Stall. Sie brauchen es, um zu zeigen, wer sie sind. Der Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, hat gesagt: Als er bei der Bank angefangen habe, habe er zwei Millionen Mark verdient. «Wenn ich heute noch ein vergleichbares Gehalt hätte, würde ich jeden Respekt verlieren. Man würde sagen: ‹Der hat keinen Marktwert.›» Ackermann begründet seinen Lohn also nicht mit der erbrachten Leis­tung, sondern nur mit dem Prestige – er muss die gewaltigen Summen annehmen, um sein «Gewicht» zu halten und zu mehren.

Sie zitieren auch die Chefin der Women’s World Bank, die gesagt hat: «Lehman Sisters hätten uns die Krise erspart.» Hätte es die Finanzkrise nicht gegeben, wenn Frauen die Bankenwelt regieren würden?
Der ganze Neoliberalismus war von Männern dominiert, auch wenn einzelne Frauen eine wichtige Rolle spielten – wie die britische Premierministerin Margaret Thatcher. Aber es geht ja immer um die Opportunitätsstrukturen: Investmentbanker sind wie Söldnerheere, die man an die Front schickt – sie tun, was man von ihnen verlangt. Einige fühlten sich verheizt und haben dies auch so ausgedrückt. Weibliche Söldnerheere kann man sich hingegen schlecht vorstellen. Aber letztlich bringt diese Diskussion nicht sehr viel: Es braucht weniger die «guten Frauen» als vielmehr klare Regeln und staatliche Kontrollen, damit dies alles nicht erneut geschieht. Und da sieht es im Moment ja nicht gerade vielversprechend aus.

Literatur

Claudia Honegger, Sighard Neckel und Chantal Magnin: «Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt». Suhrkamp Verlag. Berlin 2010. 298 Seiten.