Spaniens Rebellinnen: Wer Glück hat, kriegt 600 Euro
In Sevilla ist etwa die Hälfte aller Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeitslos. Wie schlagen sie sich durchs Leben? Die WOZ sprach mit BesetzerInnen der Plaza de la Encarnación.
«No nos vamos!» Nein, sie gehen nicht, jetzt erst recht nicht. Seit die Polizei am Freitag versucht hat, zwei Protestlager in Barcelona und Lleida gewaltsam zu räumen (es gab weit über hundert Verletzte) ist die Zahl der Indignados, der Empörten, in Spanien noch ein bisschen grösser geworden. Auch in Sevilla. Hier hatten sich am Freitagabend Hunderte auf der zentralen Plaza de la Encarnación versammelt und Blumen in die Höhe gestreckt. Es war eine friedliche Antwort auf die staatliche Gewalt und erinnerte an die Hippiezeit – zu der es ja wegen der Franco-Diktatur in Spanien nie gekommen war. Mit dem Pariser Mai 1968 hat die «Echte-Demokratie-Jetzt!»-Bewegung (siehe unten: «Für totalen Umbau») dagegen wenig gemein: Die Indignados wollen den bürgerlichen Staat nicht zerschlagen. Er soll nur endlich mal auch als Rechts- und Sozialstaat funktionieren.
Sie stehen mit den Beinen «auf dem Boden», wie die Medien erleichtert feststellten. Statt zu randalieren, campieren die Empörten seit fast drei Wochen friedlich auf den Plätzen, halten die Plazas sauber und sind gut organisiert. Aber pflegeleicht sind sie deswegen nicht: Als Reaktion auf die polizeiliche Gewalt in Barcelona haben die Protestierenden von Sevilla und Madrid am Sonntag an ihren offenen Versammlungen beschlossen, ihre Camps bis auf weiteres aufrechtzuerhalten.
180 Bewerbungen in sechs Wochen
Über einen längeren Zeitraum hinweg werden sie ihr Dauercampen kaum durchhalten. Das weiss auch der 23-jährige Geschichtsstudent Jesús Romero, der von Anfang an im Internet mitdiskutierte und mitorganisierte. «Keiner von uns hat mit diesem Erfolg gerechnet», sagt er auf der Plaza de la Encarnación. «Wir wussten zwar, dass wir nicht allein sind und dass es viele gibt, die die Nase voll haben.» Aber dass daraus eine solche Bewegung entsteht? Er selbst hat fünf Nächte auf der Plaza geschlafen, ist jetzt aber anderswo unterwegs, in Alcalá de Guadaíra zum Beispiel. Zu einem ersten Treffen, das er dort mit zwei Freunden anberaumt hatte, waren 400 Leute gekommen. Das ist nicht schlecht für die 70 000 EinwohnerInnen zählende Schlafstadt zwanzig Kilometer östlich von Sevilla.
«Es gibt viele, denen es so geht wie mir», sagt Romero, «wir haben nichts zu verlieren.» Er kann sein Studium nicht abschliessen, weil er durch eine Prüfung gerasselt ist und eine Wiederholung 200 Euro kostet – zusätzlich zu den 950 Euro, die er ohnehin pro Studienjahr bezahlen muss. Seit dem 16. Lebensjahr hat Romero gearbeitet, erst neben der Schule, dann zur Finanzierung des Studiums: «Anders hätte ich mir meine Ausbildung gar nicht leisten können.» Nun sucht er schon seit sechs Monaten einen Job. 180 Briefe hat er allein in den letzten sechs Wochen abgeschickt, Internetbewerbungen nicht mitgezählt. «Ich bin nicht wählerisch», sagt er, «inzwischen bewerbe ich mich auf jede Stelle in ganz Spanien.» Für seinen letzten Halbtagesjob als Verkäufer bekam er 400 Euro im Monat. «Und dafür musste ich meist fünf oder sechs Stunden arbeiten.» Romero braucht eine Stelle, wenn er sein Studium beenden will. Seine Eltern, bei denen er wohnt, können ihn zwar ernähren, aber nicht das Studium finanzieren.
Dem 27 Jahre alten Diplom-Geisteswissenschaftler Raúl Sánchez* geht es ähnlich. Auch er kann sich keine eigene Wohnung leisten, auch er ist arbeitslos. Vor vier Jahren war er mit seinem Hochschulabschluss in der Tasche nach Irland ausgewandert, wo er drei Jahre in einem Callcenter arbeitete. Kein Traumjob, aber zumindest konnte er vom Lohn leben. «Hier kommst du mit derselben Arbeit kaum über die Runden.» Doch dann verschied der keltische Tiger, wie Irlands Boomökonomie genannt wurde, und Raúl kehrte zurück. Anfänglich bekam er ein paar Monate lang Arbeitslosengeld; doch damit ist jetzt Schluss. Selbst wenn er eine bezahlte Tätigkeit finden sollte, bleiben die Aussichten düster: «In Andalusien liegt der Durchschnittslohn bei 600 Euro im Monat, mit Hochschulabschluss bekommst du vielleicht 800 Euro. Eine Einzimmerwohnung oder ein WG-Zimmer kostet aber mindestens 300 Euro, dazu kommen Strom, Wasser, Gas, Internet. Und essen muss ich ja auch noch.»
Raúl Sánchez sucht nicht nur eine Stelle, er bewirbt sich auch um ein Stipendium. Wie er würden sich gerne viele weiterqualifizieren – trotz der hohen Studiengebühren. Mit dem Abschluss hat es derzeit jedenfalls niemand eilig; der Arbeitsmarkt gibt ja nichts her. Und ist das Erststudium absolviert, würden viele gern den Master machen oder promovieren. Oder sie beginnen gleich ein neues Studium.
Dafür hat sich Zita Márquez entschieden. Die 25-jährige Diplomchemikerin lebt seit knapp drei Wochen auf der Plaza de la Encarnación. Sie spricht Spanisch, Englisch und Französisch, lernt jetzt noch Italienisch und Deutsch und will ab September Soziologie studieren. «Die Regierung fördert die Grundlagenforschung nicht, und in der freien Wirtschaft will ich als Chemikerin nicht arbeiten. Also muss ich mir etwas anderes überlegen.» Im Vergleich zu Jesús und Raúl geht es ihr passabel: Sie arbeitet halbtags in einem Fitnessstudio. Der Lohn reicht zwar nicht für eine eigene Wohnung, aber erstens ist das «ein Luxus, den sich ohnehin kaum jemand leisten kann», wie sie sagt, und zweitens kann sie damit zumindest ihr Studium und ihre privaten Ausgaben finanzieren. Und warum campiert sie auf der Plaza? «Wo sollte ich denn sonst sein?», antwortet Zita verwundert. «Schliesslich geht es um meine Zukunft!»
Es gibt mehr als zwei Parteien
Ruben Triana (18) sieht das auch so. Vormittags geht der Journalistikstudent zur Uni, den Rest des Tages und die Nächte verbringt er auf dem Platz, dessen Neugestaltung gerade rechtzeitig fertig wurde für die ungewöhnlichen Dauergäste. Er will «so lange wie nötig» hier bleiben und nennt als Hauptforderung die Änderung des geltenden Wahlsystems. Es basiert auf dem sogenannten D’Hondt-Verfahren, das angesichts der Zersplitterung des Landes in viele Wahlbezirke die kleinen Parteien benachteilige, sagt Triana. «Die Zweiparteienpolitik geht inzwischen so weit, dass die Leute gar nicht wissen, dass es Alternativen zur sozialdemokratischen PSOE und zur konservativen Volkspartei gibt.»
Alejandro Garrido* hingegen geht es vor allem um eine Änderung des Bildungssystems. «Der Bolognaprozess hat den Unterricht verschult und das Studium verteuert», sagt der 23-jährige Kunststudent, der kurz vor dem Abschluss seines Masters steht und jeweils von Juli bis September in einer Tomatenfabrik seiner Heimatstadt Badajoz das Geld für die Ausbildung verdient. Garrido will Lehrer werden – und muss dafür die absurd umfangreichen Auswahlprüfungen für den öffentlichen Dienst bestehen, auf die man sich normalerweise in einer privaten Akademie vorbereitet. Einen Job aber garantiert selbst ein erfolgreiches Bestehen nicht: Die Regierung hat die Zahl der Neueinstellungen um rund zwei Drittel gekürzt. Trotzdem ist die Beamtenlaufbahn derzeit beliebter denn je – auf eine freie Stelle kommen durchschnittlich hundert BewerberInnen.
Demnächst gibts gar nichts mehr
Miguel Velázquez* war bisher noch nicht auf dem besetzten Platz. Und doch kann der gelernte Autoelektriker (35) die Proteste gut verstehen. Seit zweieinhalb Jahren sucht er eine Stelle. Im ersten Jahr bezog er monatlich 600 Euro Arbeitslosengeld, seither bekommt die Familie 426 Euro Unterstützung im Monat. Da die Velázquez eine Tochter haben, wird ihnen diese Hilfe 21 Monate lang gezahlt. Kinderlose erhalten sie nur noch für maximal 6 Monate – und auch das nicht mehr lange: Die sozialdemokratische Regierung hat die Hilfe ganz gestrichen.
Wie lebt man von 426 Euro? «Ich arbeite schwarz nebenher – mal hier ein kleiner Auftrag, mal dort», sagt Velázquez, der nur 250 Euro Hypothek bezahlen muss; das rettet ihn. Wie viele Bewerbungen er verschickt hat, weiss er nicht. Er geht lieber direkt zu potenziellen Chefs und hat schon bei allen Autohändlern und Werkstätten in der Provinz angeklopft. Aber nichts, nicht einmal für ein paar Wochen. Und in neun Monaten bekommt er auch vom Staat nichts mehr. Wegziehen geht auch nicht: «Hier habe ich meine Familie, die mir hilft, wenn es hart kommt», sagt er. «Es müsste schon ein verdammt gut bezahlter Job sein, damit sich der Umzug lohnt. So einen gibt es aber derzeit in ganz Spanien nicht.»
Das weiss auch Rocío Pérez*. Die arbeitslose 36-jährige Bürokauffrau (sie erhält keine Unterstützung, weil sie bisher als Freiberuflerin angemeldet war) bewirbt sich auf jede Stellenausschreibung. Angeboten wurde ihr bisher aber nur ein Job bei einer Reinigungsfirma – für einen Stundenlohn von vier Euro. Damit würde sie das verdienen, was die Regierung als Mindestlohn festgesetzt hat, 640 Euro monatlich. Eigentlich könnte sie sich diese Stelle nicht leisten: Schon die monatliche Hypothek für ihre Fünfzig-Quadratmeter-Wohnung liegt 200 Euro über dem, was ihr da angeboten wird. Und doch überlegt sie: «Lieber das als gar nichts.»
Auch Rocío Pérez hat bisher nicht an den täglichen Vollversammlungen auf der Plaza von Sevilla teilgenommen haben. Aber sie freut sich wie Miguel Velázquez, dass sich etwas bewegt: «Endlich wehrt sich jemand und sagt, was Sache ist. Wie Idioten haben wir bisher alles geschluckt.»
* Namen von der Reaktion geändert
Was will die Bewegung? : Für totalen Umbau
Sie nennt sich «Plattform zur Koordinierung von Bürgerinitiativen» und findet den Beifall von SpanierInnen aus allen Altersschichten und sozialen Klassen: Die neue Bewegung «Echte Demokratie Jetzt!» (spanisch abgekürzt DRY) wird zunehmend zu einer selbstständigen politischen Kraft – und hat mittlerweile auch in Griechenland NachahmerInnen.
Ursprünglich hatten die DRY-InitiatorInnen nur für den 15. Mai – kurz vor den Kommunalwahlen – Demonstrationen in allen grösseren Städten Spaniens organisiert. Doch dem über Twitter und Facebook lancierten Aufruf waren viel mehr Leute gefolgt als erwartet; und die wollten sich nicht mit zwei Stunden Protest zufrieden geben.
Seither fordern sie den kompletten Umbau der Politik, die Beseitigung aller Privilegien der PolitikerInnen (inklusive Wegfall der Steuerbefreiungen und der parlamentarischen Immunität), die Verstaatlichung angeschlagener Grossunternehmen, die Wiederherstellung der Arbeitslosenhilfe, radikale Kürzung der Militärausgaben – und konsequente Bekämpfung der Arbeitslosigkeit mit Jobsharing und Arbeitszeitverkürzung.
Es fehlt fast nichts im Forderungskatalog: Die Enteignung leer stehenden Wohnraums, Mietzuschüsse für niedrige Einkommen, Einführung einer Spekulationssteuer, ein Steueroasenverbot für die Banken, mehr Gesundheits- und Lehrpersonal, finanzielle Unabhängigkeit der Universitäten, preisgünstige öffentliche Verkehrsmittel und auch die Einführung von Volksabstimmungen.
Aber wie weiter? So genau wissen das auch die DRY-InitiatorInnen nicht. Sie wollen die Bewegung dezentralisieren – hin zu den Quartieren und Kleinstädten. Aber wo sie sich dann treffen, ist noch unklar. Auf eine Unterstützung vonseiten der Gewerkschaften oder der Vereinten Linken hoffen sie nicht; sie wollen unabhängig bleiben. «Wenns sein muss, treffen wir uns halt weiterhin nur im Internet», sagt Jesús Romero, der in Sevilla mitorganisiert hat.