Zur WOZ-Leserinnenreise: Noch immer ist in Wien billig wohnen

Nr. 25 –

In Wien befindet sich über die Hälfte aller Wohnungen in städtischem oder genossenschaftlichem Besitz. Damit sind die Mieten anders als in Schweizer Grossstädten für alle bezahlbar. Ein nachhaltiger Erfolg des Roten Wiens der Zwischenkriegszeit.


Stolz thront der Karl-Marx-Hof – Wiens grösster Gemeindebau – am Rand des Nobelbezirks Döbling. Mit 1382 Wohnungen und fast 5000 BewohnerInnen hat der festungsartige Komplex die Grösse einer Kleinstadt.

Zwei Zentralwäschereien, zwei öffentliche Bäder, zwei Kindergärten, eine Mütterberatungsstelle, ein Jugendheim, eine Bibliothek, eine Zahnklinik, ein Ambulatorium, eine Apotheke, ein Postamt, Arztpraxen, Kaffeehäuser, Räumlichkeiten für politische Organisationen und 25 Geschäftslokale machten dieses Symbol des Roten Wiens bei seiner Eröffnung 1930 zu einem Mikrokosmos des Proletariats.

Friedenszins und Gemeindebau

Noch heute ist Wien mit 220 000 Wohnungen und 1,8 Millionen EinwohnerInnen weltweit die Grossstadt mit dem höchsten Anteil staatlicher Wohnbauten: Ein Viertel aller WienerInnen leben in Gemeindewohnungen. Die Mietzinse liegen deutlich unter den marktüblichen Preisen und sind nicht nur niedriger als in Zürich, London oder Paris, sondern auch tiefer als in Innsbruck und Salzburg. Und anders als in anderen Grossstädten finden BewerberInnen in Wien schnell ein Dach über dem Kopf. Der von der HausbesetzerInnenbewegung errechnete Leerstand beträgt über 80 000 Wohnungen – die Stadt Wien spricht offiziell von 10 000, während in Zürich im letzten Jahr nur 107 Wohnungen frei waren.

Auch die MieterInnen privater Bauten profitieren von früheren Privilegien: Während des Ersten Weltkriegs hatte Kaiser Franz Josef die privaten Mieten nämlich auf dem Niveau des «Friedenszinses» von 1914 eingefroren, sie durften nicht erhöht werden. Lange Zeit konnten MieterInnen dieses Privileg an direkte Nachkommen weitervererben, seit einem Beschluss der Wiener Stadtregierung 2003 werden diese Verträge aber nicht mehr erneuert. Die marktüblichen Mietpreise liegen heute entsprechend ein Vielfaches über den Mieten von 1914. Allerdings wurden diese Substandardwohnungen von den HauseigentümerInnen kaum renoviert. «Substandard» heisst in der Regel, dass sich mehrere – meist ausländische – Familien das Klo auf dem Gang teilen müssen.

Nach dem Ersten Weltkrieg war vom Vielvölkerstaat Österreich nur der deutschsprachige Westen übriggeblieben, eine katholisch geprägte Alpenregion, in der die multikulturelle Millionenstadt Wien wie ein Fremdkörper wirkte. Geprägt haben die Stadt einerseits jüdische Intellektuelle und andererseits proletarische ZuwanderInnen aus allen Teilen der Monarchie, die nach dem Ersten Weltkrieg zu AusländerInnen wurden. Die Metropole war zugleich Sitz konservativer Bundesregierungen und Experimentierfeld roter Bürgermeister.

Die Sozialdemokratie war damals eine revolutionäre Bewegung: Die von ihr gegründeten ArbeiterInnensportvereine, Bibliotheken und öffentlichen Bäder verschafften dem Proletariat plötzlich Würde und Selbstbewusstsein. Die ArbeiterInnenfamilien – zu einem grossen Teil mit böhmischem Migrationshintergrund – wurden in den neuen Gemeindebauten untergebracht. Diese waren nicht nur weltweit beachtete Hochburgen des sozialen Wohnungsbaus, sondern auch ästhetisch ansprechende Komplexe, die dem barocken Wien einen neuen Charakter gaben.

Während des kurzen Bürgerkriegs im Februar 1934 wurde der Karl-Marx-Hof vom Bundesheer unter Artilleriebeschuss genommen – er war als das Symbol der sozialistischen Rebellion den konservativen Militärs ein Dorn im Auge. Das austrofaschistische Regime unter Engelbert Dollfuss taufte ihn Ende der dreissiger Jahre in «Biedermannhof» und später in «Heiligenstädter Hof» um. Das Kaffeehaus auf Stiege 3 wurde zur katholischen Kapelle.

Heute: Genossenschaftsprojekte

Seit 1945 wird Wien wieder sozialdemokratisch regiert, und der Karl-Marx-Hof trägt seinen ursprünglichen Namen. Doch vom Aufbruch des Proletariats ist heute nur mehr wenig zu spüren. Was seit den fünfziger Jahren an Gemeindebauten errichtet wurde, sind seelenlose Wohnkästen, deren Ästhetik mit den Modellen der Zwischenkriegszeit nicht zu vergleichen ist. Auch auf Spielplätze, Grünanlagen und Begegnungsstätten wurde aus Kostengründen weitgehend verzichtet. Seit den achtziger Jahren wurde der kommunale Wohnbau weitgehend eingestellt und durch Genossenschaftsprojekte ersetzt. 25 Prozent des seither gebauten Bestandes wurden von gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaften errichtet. Die Stadt Wien beteiligt sich nur mehr in Form von Subventionen.

Das jüngste Grossprojekt eines wegweisenden Zweckbaus in Wien, die 2003 eröffnete Stadtbibliothek des Architekten Ernst Mayr, knüpft wieder an die Tradition der Volksbildungsidee der 1920er-Jahre an. Auch damals errichtete die Regierung Bibliotheken und Volkshochschulen, um Arbeiterkindern die Matura auf dem zweiten Bildungsweg zu ermöglichen. Neben Kursen boten die Volkshochschulen auch Lichtbildabende und Vorträge auf hohem wissenschaftlichem Niveau. Es galt, sich geistig fit zu machen für den Klassenkampf.

Von Klassenkampf redet heute kaum noch jemand. Eine grosszügige Freitreppe zur dreigeschossigen Stadtbibliothek soll Weltoffenheit und freien Zugang zu Wissen signalisieren. Eine Weltoffenheit, die im Klima zunehmender Fremdenfeindlichkeit in Wien allerdings immer mehr unterzugehen droht.


Ins Rote Wien

Wenn Sie nicht nur die Orte des kommunalen Wohnungsbaus im Wien der Zwischenkriegszeit selber besuchen wollen, sondern noch einiges mehr über das Rote Wien erfahren wollen, dann fahren Sie mit der WOZ vom 12. bis 20. August 2011 in die Hauptstadt Österreichs. Anmeldeschluss ist der 30. Juni 2011.

Detaillierte Informationen finden Sie auf www.woz.ch/unterwegs.