Jean Ziegler: «Und das Gras wächst»

Nr. 34 –

Die Weltwirtschaft kommt nicht aus der Krise, von Ägypten bis Chile gehen Menschen auf die Strasse – während die Schweiz auf die kommenden Wahlen starrt. Wie sieht der 77-jährige Soziologe und Uno-Beauftragte Jean Ziegler die Lage? Ein Gespräch über Finanzoligarchen, Revolutionen und die Schweiz.


Ein heisser Mittag in Genf. Der Revolutionär biegt um die Ecke – in Anzug und Hemd, eine Mappe in der Hand. Jean Ziegler, der vom Protestanten zum Katholiken wurde, mit Jean-Paul Sartre verkehrte und Che Guevara kannte, legt sich seit Jahrzehnten mit den KapitalistInnen der westlichen Welt an. Seine Waffen sind Worte. Zwanzig Bücher hat er geschrieben, ein Bestsellerautor, der in vielen Sprachen gelesen wird. Inzwischen ist der Intellektuelle 77-jährig, er hält sich mit Judo fit, und er provoziert munter weiter. Zuletzt mit einer Rede, die er zur Eröffnung der Salzburger Festspiele halten sollte, bevor er von den OrganisatorInnen wieder ausgeladen wurde.

Ziegler ist umgänglich, witzig, schenkt unablässig Wein nach. Dann gehts zur Sache. Mit etwas Glück stossen wir hie und da eine Frage in seinen wortgewaltigen Redefluss.

Herr Ziegler, wir sitzen hier in einer Gewerkschaftsbeiz. Weshalb haben Sie diesen Ort ausgesucht?

Die Brasserie aux Cheminots ist die letzte Gewerkschaftsbeiz in Genf. Ein Galizier führt sie – und das sehr gut. Hierher kommen die Lokomotivführer und Kondukteure, bleiben ein, zwei Stunden, ehe sie wieder losfahren müssen. Genf liegt ja am Ende der Welt.

Sie wurden kürzlich von den Salzburger Festspielen als Eröffnungsredner ausgeladen, wegen Ihrer angeblichen Nähe zu Libyens Herrscher Muammar al-Gaddafi.

Das ist ein Blödsinn, der seit zehn Jahren immer wieder aufgewärmt wird. Meine Bücher kommen im Verlag al-Hayat auf Arabisch heraus. Gaddafi hatte theoretische Ambitionen. Er schrieb das Grüne Büchlein, ein fertiger Seich, völlig konfus. Er hat immer wieder Intellektuelle zum Gespräch eingeladen, auch mich. Für einen Soziologen ist es hochinteressant, einen solchen Staatschef über die afrikanischen Befreiungsbewegungen reden zu hören, auch wenn er ein Halunke ist, oder über Palästina. Ich habe mich aber nie mit ihm solidarisiert. Den Menschenrechtspreis, den er gestiftet hatte, um während des Embargos gegen Libyen die internationale Isolation zu durchbrechen, lehnte ich ab. Punkt. Das ist aktenkundig. Nachdem Gaddafi vor ein paar Jahren in Bengasi 1500 Menschen hatte massakrieren lassen, habe ich nicht mehr auf Einladungen reagiert.

Weshalb dann diese Vorwürfe?

Die UN-Watch, eine von Israel finanzierte Uno-kritische Organisation, fährt eine Diffamierungskampagne gegen mich. Das hat folgenden Hintergrund: Ich war der einzige Uno-Sonderberichterstatter, den die Israelis je in die besetzten Gebiete liessen. Zuvor hatte ich «Die Schweiz, das Gold und die Toten» geschrieben, über die Veruntreuung der Holocaustgelder durch die Schweizer Bankenoligarchie. Das Buch war in den USA ein grosser Erfolg. Deswegen lud mich der World Jewish Congress als Zeuge ein. Bundesrat Flavio Cotti rief mich vor der Anhörung an, in einer Sonntagnacht, er brüllte ins Telefon: «Das darfst du nicht machen!» Wegen meiner Aussagen vor dem Bankenausschuss des US-Senats wurde die Aufhebung meiner parlamentarischen Immunität beantragt. Ruth Dreifuss konnte das noch stoppen. Also: Aufgrund meiner Aussagen dachten die Israelis, ich sei auf ihrer Seite, und liessen mich deshalb in die besetzten Gebiete. Nachdem sie aber meinen sehr kritischen Bericht gelesen hatten, sagten sie: Der Siech hat uns reingelegt! Danach ging die Hexenjagd los.

Weshalb sollten ausgerechnet Sie die Eröffnungsrede der Festspiele halten?

Landeshauptfrau Gabi Burgstaller hatte mein jüngstes Buch «Der Hass auf den Westen» gelesen. Und sie wollte mit einem Ritual brechen, sie wollte eine aktualitätsbezogene Rede. Eineinhalb Monate später wurde ich wieder ausgeladen. Gaddafi war bloss ein Vorwand. Wahrscheinlich stecken die Sponsoren der Festspiele dahinter: UBS, CS und Nestlé. Sie laden ihre Grosskunden an die Festspiele ein, die dann auf teuren Logenplätzen sitzen, Steuerhinterzieher aus Deutschland etwa. Die hätten mir dort eine halbe Stunde zuhören müssen, ohne wegrennen zu können. Diesem Druck haben die Organisatoren nachgegeben.

Die Rede liegt jetzt als Büchlein in den Buchhandlungen auf.

In Europa gibt es zum Glück eine vitale Zivilgesellschaft. Elfriede Jelinek, Peter Turrini, Michael Scharang und andere riefen eine zivilgesellschaftliche Plattform ins Leben. Sie wollten, dass ich zur Eröffnung der Festspiele an der Universität eine Gegenrede halte. Ich lehnte ab. Von Trotzreaktionen halte ich nicht viel. Dann forderten sie mich auf, die Rede zu publizieren («Der Aufstand des Gewissens». Ecowin. Salzburg 2011. 16 Seiten. Fr. 3.90). Die Initianten der Plattform taten das nicht etwa, weil sie mich speziell gern haben. Es geht ums Prinzip. Wenn im demokratischen Raum Konzerne bestimmen, wer reden darf, wirds gefährlich.

Will heute noch jemand Radikalkritik hören?

Das Büchlein hat sich in zwei Wochen 25 000-mal verkauft, die Rede ist auch auf YouTube zu sehen und zu hören. Die Leute erwarten die radikale Kritik geradezu. Sie wollen die Kausalzusammenhänge der kannibalischen Weltordnung verstehen. Sie wollen wissen, weshalb jetzt Zehntausende in Ostafrika an Hunger sterben. Die Presse spricht von einer Klimakatastrophe. Die seit fünf Jahren anhaltende Dürre ist bloss eine von vielen Ursachen. Aber weshalb haben Äthiopien, Dschibuti, Eritrea und Kenia keine Nahrungsmittelreserven? Weil Spekulanten in den letzten Jahren die Agrarpreise in die Höhe getrieben haben. Diese armen Staaten können sich das Getreide nicht mehr leisten.

Wer sind die Spekulanten?

Hedgefonds, Banken. Sie stiegen in den letzten Jahren aus der Finanzbörse aus und auf Agrarrohstoffe um. Hier in Genf an der Rue de Rhône kann man am UBS-Schalter Reiszertifikate kaufen, letztes Jahr liessen sich damit über dreissig Prozent Rendite erzielen. Eine Tonne philippinischer Reis ist zeitweise von 110 auf 1200 Dollar gestiegen, der Maispreis um 93 Prozent, eine Tonne Weizen kostet heute 270 Dollar, vor einem Jahr war es noch die Hälfte.

Seit Ihrem Buch «Die Schweiz ist über jeden Verdacht erhaben», also seit Mitte der siebziger Jahre, gelten Sie als Nestbeschmutzer.

Ein bescheuerter Ausdruck. Erstens ist die Schweiz kein Nest, und Kritik hat nichts mit Schmutz zu tun. Punkt. Die Schweiz hat Mühe mit kontradiktorischen Debatten. Die Toleranzschwelle ist so tief, dass jeder, der den Gottesdienst stört, ausgegrenzt wird. Angenehm ist das natürlich nicht. Ich wäre in den siebziger Jahren fast von der Uni geflogen. Die Studenten streikten für mich. 1992, als das Parlament meine parlamentarische Immunität aufhob, brach eine Prozesslawine los. Ich hatte neun Prozesse in fünf Staaten, zwei sind noch offen. Ich habe 6,6 Millionen Franken Schulden. Ich sehe diese Auseinandersetzung in der Perspektive des Klassenkampfs.

Wovon leben Sie?

Als ich noch Professor war, gab es die üblichen Lohnpfändungen. Ich fahre ein geleastes Auto, das Haus, in dem ich wohne, gehört meiner Frau. Seit ich für die Uno arbeite, geniesse ich wieder Immunität. Meine Gegner müssten deren Aufhebung am Internationalen Gerichtshof in Den Haag beantragen.

Und nach der Uno?

Darüber mache ich mir keine Gedanken. Ich bin ein blinder Passagier in einer Luxuskabine. Wäre ich eine portugiesische Putzfrau, wäre ich längst weg vom Fenster. Ein internationales Unterstützungskomitee hat mir geholfen, meine Anwaltskosten zu zahlen. Für mich waren die Gerichtssäle ein Kampfplatz für die Sache. Mein hartnäckigster Gegner, gegen den ich einen Prozess verlor, war der Bankier Edmond Safra. In «Die Schweiz wäscht weisser» mussten Passagen geschwärzt werden, ich musste ihm Geld zahlen. Safra hat ein tragisches Ende genommen. Er wurde in Monaco ermordet.

Sie werden wegen Ihrer Bücher immer wieder bedroht. Haben Sie Angst?

Natürlich habe ich Angst um meine Familie. Der deutsche Sozialist Oskar Lafontaine, den ich gut kenne und sehr schätze, wurde nach einem Vortrag von einem Verrückten niedergestochen. Als mein Sohn noch klein war und in unserem Garten herumstreifte, biss ihn ein Polizeihund. Das ist das Einzige, was uns zugestossen ist.

Trotz allem: Sie wiederholen immer wieder, Sie würden die Schweiz lieben.

Die Schweiz ist ein grossartiges Land mit einer grossartigen Geschichte. Während die Revolutionen von 1848 in Athen, Madrid, Rom und Paris in Blut ertränkt wurden, gelang sie in der Schweiz. Ich identifiziere mich mit diesem multikulturellen Volk mit seinen unterschiedlichen Charakterzügen. Das Berner Oberland, das ist doch etwas! Aber wir sind ein kolonisiertes Land, wir sind besetzt, im Griff einer Oligarchie, einer fremden Macht im eigenen Land.

Eine fremde Macht?

Im Griff der Bankenoligarchie, dem Schweizer Ableger der globalen Finanzdiktatur. Und sie gehorcht einer Profitstrategie, die nichts mit dem Gemeinwohl der Schweiz zu tun hat.

Sie schreiben als Kommunist gegen diese an. Was halten Sie von den ehemaligen kommunistischen Regimes?

Ach, kein Mensch auf diesem Planeten hat je in einem kommunistischen Land gelebt, gopferteckel! Die Sowjets waren so kommunistisch wie ich buddhistisch bin. Bis zur Implosion der Sowjetunion gab es eine Bipolarität der Staatengesellschaft. Der kapitalistische Produktionsmodus war regional beschränkt. Nach dem Zusammenbruch der bipolaren Welt eroberte der kapitalistische Produktionsmodus die Welt wie ein Buschfeuer. Eine Kapitalart hat sich autonomisiert: das Finanzkapital. Die Globalisierung des kapitalistischen Systems führte zu einer unglaublichen Akkumulation von Reichtum. In den zehn Jahren von 1992 bis 2002 verdoppelte sich das Weltbruttosozialprodukt, der Welthandel verdreifachte sich und der Energieverbrauch verdoppelte sich alle vier Jahre. Das sind Zahlen der Weltbank. Die liberale Wahnidee hat durch die Privatisierung von möglichst vielen öffentlichen Sektoren und einen massiven Abbau der Normativkompetenz des Staates – die Totalliberalisierung des Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehrs – zu einer unglaublichen Produktivitätssteigerung geführt.

Und wo sehen Sie das Problem daran?

Die 500 grössten Konzerne der Welt kontrollierten letztes Jahr 52,8 Prozent des Weltbruttosozialprodukts. Die haben eine Macht, wie sie kein König, kein Kaiser, kein Papst je zuvor besass. Wir leben unter der Weltdiktatur des globalisierten Finanzkapitals. Gleichzeitig verhungert in der südlichen Hemisphäre – notiert das! – alle fünf Sekunden ein Kind, jeden Tag verhungern dort 37 000 Menschen, fast eine Milliarde Menschen ist permanent unterernährt. Das ist ein strukturell bedingter Hunger. Der Welternährungsreport der Uno vom April dieses Jahres stellt fest, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase ihrer Entwicklung problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte, also fast das Doppelte der gegenwärtigen Menschheit. Der objektive Mangel ist überwunden. Ein Kind, das verhungert, wird ermordet. Punkt.

Das System, das sich nach der Implosion der Sowjetunion durchgesetzt hat, steckt in einer schweren Krise: Die Staaten sind verschuldet, die Finanzmärkte ausser Rand und Band.

Ach was. Das ist nur eine Krise für die Arbeitenden. Sie bezahlen die Zeche – in Griechenland, in Spanien, in Portugal. Ihnen werden Sozialleistungen gestrichen, neue Steuern auferlegt, während sich in privaten Händen unglaubliche Kapitalreserven häufen. Die Plünderung der Banken durch hohe Bonizahlungen hat sich seit der Finanzkrise sogar gesteigert. Credit-Suisse-CEO Brady Dougan sackte letztes Jahr 70 Millionen Franken ein. Die Oligarchie kann den Staaten befehlen, noch mehr Schulden zu machen, die arbeitende Bevölkerung bezahlt sie. Die Bankhalunken müssen endlich bezahlen, nicht die breite Bevölkerung. Grossbanken gehören verstaatlicht.

In der arabischen Welt haben sich die Menschen erhoben, in Israel gehen die Menschen auf die Strasse, in Griechenland, in Spanien und Frankreich protestiert die Jugend, in Grossbritannien brennen die Städte.

Es gibt in Europa kein Klassenbewusstsein mehr, es gibt objektiv keine Arbeiterklasse mehr, es gibt kein Bewusstsein ihrer Ausbeutung, es gibt keine revolutionäre Organisation mehr, nur noch Sekten. Doch es entsteht etwas radikal Neues. Wir befinden uns an der Schwelle zu einem Aufstand des Gewissens. Was heute wirkt, ist der kategorische Imperativ. Immanuel Kant sagte, die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir. Ich war 2007 in Heiligendamm am G8-Gipfel. Die Staatschefs hatten sich hinter Stacheldraht versteckt. Draussen protestierten Lehrer, Pfarrer, Lehrlinge und so weiter. Ihr Motor war kein Zentralkomitee, keine kohärente Ideologie, kein Parteiprogramm. Der einzige Motor war der kategorische Imperativ: Wir wollen die kannibalistische Weltordnung nicht mehr. Ich war lange im Komitee des Weltsozialforums. In Belem waren wir 220 000 Menschen, die 8000 Organisationen vertraten. Alle kämpfen an verschiedenen Bruchstellen des Kapitalismus. Es gab kein Programm, es gab nicht mal eine Schlusserklärung. Hier entsteht ein neues historisches Subjekt. Daher bin ich hoffnungsvoll. Marx schreibt: Der Revolutionär muss imstande sein, das Gras wachsen zu hören. Das Gras wächst.

Erblicken Sie jetzt eine Art Revolution?

Als sich am 14. Juli 1789 Handwerker sagten: «Gopferteckel, jetzt befreien wir unsere Copains aus dem Kerker, sie haben Familie und Kinder, die sie ernähren müssen» – und sie dann die Bastille stürmten, war ihnen nicht bewusst, dass sie eine Revolution lostraten. Hätte ein WOZ-Reporter am Abend des 14. Juli am Seine-Ufer einen Revolutionär gefragt: «Herr Dupont, Sie haben die Bastille gestürmt, was wird in der Verfassung der ersten Republik stehen?», wäre das völlig absurd gewesen. Der revolutionäre Prozess ist die Befreiung der Freiheit im Menschen, wie Sartre schreibt. Was der Mensch mit dieser Freiheit individuell und kollektiv anstellt, ist unvorhersehbar. Freiheit hat eine eigene Dynamik. Dass der französische König hingerichtet wurde, dass die Republik erfunden wurde und so weiter, das konnten die Revolutionäre nicht wissen. Klar ist, dass der Wille zur Freiheit konstitutiv ist wie das Essen, die Liebe, der Sexualtrieb. Die Menschen lassen sich nicht ewig unterdrücken. Sie sprengen die Ketten. Heute bilden eine vitale Zivilgesellschaft, die Frauenbewegung, die Landlosenbewegung, Attac, Via Campesina das revolutionäre Potenzial – das ist radikal neu, schreibt das auf! Ich bin überzeugt, wir stehen am Vorabend einer Revolution, der Aufstand des Gewissens kommt.

Braucht es einen Dialog dieser Bewegungen mit den Mächtigen?

Ich bin gegen jegliche Form des Dialogs. Das ist, als würdest du die Waffen weglegen, dich selbst entwaffnen, als würdest du kapitulieren. Du musst den Gegner identifizieren und ihn dann bekämpfen. Als ich noch im Komitee des Weltsozialforums war, wollte Klaus Schwab vom Wef eine Liveschaltung nach Porto Alegre installieren, um unsere Differenzen zu diskutieren. Ich war total dagegen. Soll ich wegen der Hungerkatastrophe, die weitgehend von der Börsenspekulation mit Grundnahrungsmitteln verursacht wurde, aufs Sekretariat der UBS telefonieren, Herrn Grübel verlangen und sagen: «Herr Grübel, ich würde gerne mit ihnen einen Dialog über die Nahrungsmittelspekulation führen – die Leute sterben jetzt.» Der würde antworten: «Was werfen Sie mir vor? Termingeschäfte, Futures, Short Sellings – das sind alles legale Mittel.» Versteht Ihr? Wir müssen Radikalkritik üben und die kannibalische Weltordnung mit demokratischen Mitteln stürzen.

Mit welchen Mitteln?

Schaut in die Verfassungen der demokratischen Staaten. Das sind die Waffenarsenale. Nur benutzt sie niemand. Wir könnten das ganze durch Verwaltungsräte kolonialisierte Parlament abwählen und neu besetzen mit Leuten, die wirklich das Volksinteresse vertreten und neue Gesetze durchsetzen. Man könnte Spekulation auf Agrarrohstoffe und Agrardumping der EU in Afrika sofort verbieten. Dann müsste der afrikanische Bauer nicht gegen Billigimporte konkurrieren und könnte seine Familie ernähren. Dann würde der Strom von Hunger- und Wirtschaftsflüchtlingen abreissen. Diese Menschen, die Tausende Kilometer auf offenem Meer zu den kanarischen Inseln zurücklegen, würden nicht mehr in den Fluten des Atlantiks ertrinken. Das Parlament könnte unsere Finanzministerin zwingen, an der nächsten Weltwährungskonferenz im Oktober in Washington für die sterbenden Kinder, also für die Totalentschuldung der fünfzig ärmsten Länder einzustehen anstatt für die Gläubigerbanken. Denn im IWF ist die Schweiz eine Macht, dort gilt nicht «one country, one vote», sondern «one dollar, one vote». Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie.

Ist die Schweiz mitschuldig am Elend der Welt?

Nicht die Schweiz, aber die von hier operierenden Banken und Konzerne. Dieser Schweizer Sekundärimperialismus ist funktional sehr wichtig. Wir sind die Hehler des internationalen Finanzkapitals. Die Schweiz hat auch in der südlichen Hemisphäre ein unglaubliches Investitionsimperium.

Die meisten Schweizer sehen das anders. Die spenden lieber ab und zu.

Spenden sind wichtig. Jeder Franken bedeutet, dass ein Kind 48 Stunden länger lebt. Punkt. Das ist nicht in politischen Kategorien zu messen.

Es hilft, die eigene Schuld zu verdrängen.

Schuld ist für mich in diesem Zusammenhang ein sinnloses Wort. Leute, die an Hunger sterben, kümmert Moral einen Dreck – die halbverhungerten Kinder, die Frauen, die mit dreissig aussehen wie achtzig, die Menschen, die grau im Gesicht sind und keine Zähne mehr haben. Die kümmert der psychische Zustand eines Kleinbürgers aus Genf nicht.

Sie sprechen von Waffen, die bereitliegen. Weshalb holt die Schweizer Linke sie nicht hervor?

Die Schweizer Linke liegt im Koma. Sie sollte in die Opposition gehen, raus aus dem Bundesrat, weg von dieser Dialog- und Konsenspolitik. In diesem Land halten die Steuerzahler die Banken aus, in Genf geht die Hälfte des Lohns für die Miete drauf, wenn du überhaupt eine Wohnung findest. Die Linke sollte den Generalstreik anvisieren. Punkt. Auf der anderen Seite sind die Menschen im Land total verunsichert, sie fürchten sich vor dem nächsten Tag, sie fürchten um ihre Arbeit, um ihre Rente. Diese Angst ist real.

Die SVP holt die Leute bei ihren Ängsten ab, die Partei legt bei den nächsten Wahlen vielleicht nochmals zu.

Weil die kämpferische Linke in diesem Land praktisch inexistent ist, kann die SVP die Sündenbockkarte spielen. Die funktioniert immer. Heute sind es die Flüchtlinge aus der Dritten Welt, die Ausländer. Persönlich mag ich Christoph Blocher gut. Wenn er spricht, weiss ich, dass er selbst spricht und nicht irgendein Hampelmann, der die Sache seines Herrn vertritt. Vor einem halben Jahr war ich mit Blocher in einer Fernsehsendung. Dort zitierte ich Georges Bernanos: «Gott hat keine anderen Hände als die unseren.» Das hat ihn aus dem Häuschen gebracht. Er wollte nach der Sendung unbedingt mit mir darüber reden. Ich hatte keine Zeit, ich musste auf den nächsten Zug. Ich sagte ihm: Ich habe alles in der Sendung gesagt. Er antwortete: Darum geht es nicht, es geht um etwas Ernstes, um das, was du über Gott gesagt hast. Er hat mich mit seinem grossen Volvo zum Hauptbahnhof gebracht und mit mir diskutiert. Er sagte mir: «Das mit Gott darfst du nicht sagen, Gott ist allmächtig!, er braucht uns nicht!» Dieser Blocher, der lebt!

Das ist etwas viel Lob für Blocher. Er gibt sich als kleiner Mann, kämpft für die Reichen und schürt Hass auf Ausländer.

Er erweist der Oligarchie unglaubliche Dienste, indem er die politische Debatte – über die Wohnungsmisere, die Steuergerechtigkeit und so weiter – völlig blockiert. Warum, weiss ich nicht. Aus Machtdrang. Aber er glaubt auch an seine Wertvorstellungen – das sind Höhlenbewohnerwertvorstellungen. Die Schweiz ist ein von der Finanzoligarchie kolonisiertes Land, man muss diese Leute fortjagen. Grübel und seine Kumpane sollen nach Florida Golf spielen gehen. Die Schweiz muss befreit werden.