Kommentar: Nichts gelernt aus Fukushima
Nur zwei Jahre nach ihrer Machtergreifung steckt die regierende Demokratische Partei Japans in einer tiefen Krise. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik ist auf dem Nullpunkt. Zudem setzt eine mächtige Beamtenschaft immer wieder Eigeninteressen durch.
Am vergangenen Montag wählte die Demokratische Partei (DPJ) den bisherigen Finanzminister Yoshihiko Noda zum neuen Vorsitzenden und Nachfolger von Naoto Kan, der in diesen Tagen nach nur fünfzehn Monaten als Premierminister zurückgetreten ist. Die Wahl ist symptomatisch dafür, wie abgehoben in Japan nach wie vor politische Entscheidungen gefällt werden: In einer Volksumfrage hielten nur gerade vier Prozent den farblosen Noda für den besten Kandidaten. Sein früherer Kabinettskollege Seiji Maehara brachte es auf stolze vierzig Prozent, scheiterte jedoch an parteiinternen Fraktionskämpfen.
In der Bevölkerung macht sich derweil masslose Enttäuschung breit. Die Popularität von Kans Regierung erreichte in den letzten Monaten immer wieder neue Tiefstwerte. Dabei war seine Partei 2009 mit dem Anspruch angetreten, endlich für Stabilität und inhaltlich fundierte Politik zu sorgen. Statt um Politskandale, Affären um illegale Parteispenden und Machtkämpfe wollte sich die DPJ endlich um die grossen Probleme kümmern, die Japan schon seit langem belasten. Dazu gehört in erster Linie die horrende Staatsverschuldung, die über 200 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts beträgt.
So hatte Kan kurz nach seinem Amtsantritt im Juni 2010 eine Anhebung der Konsumsteuer angekündigt. Doch tat er dies derart plötzlich und ohne die nötige Überzeugungskraft, dass er viele JapanerInnen verärgerte. Die anschliessenden Wahlen zum Oberhaus verlor er – was nicht nur seine Pläne erschwerte, sondern auch das Vertrauen seiner ParteifreundInnen in ihn zerstörte. Von diesem Rückschlag hat Kan sich nie mehr richtig erholt, fast alle seine Initiativen scheiterten in der Folge am Widerstand seiner Partei oder der Opposition.
Auch mit ihrem zweiten grossen Versprechen blieb die DPJ auf halbem Weg stecken. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, den übermässigen Einfluss der Verwaltung zu beschränken und die herrschende Misswirtschaft zu beseitigen. Doch die entsprechenden Budgetkürzungen scheiterten am Widerstand der BeamtInnen. Immer noch werden VertreterInnen der alten Garde in hohe Positionen befördert.
Wie schwer es ist, gegen diese anzukämpfen, beweist das neue Gesetz zur Errichtung eines öffentlichen Entschädigungsfonds für die Opfer der Atomkatastrophe von Fukushima. KritikerInnen bemängeln, dass es zu vage formuliert sei und verschiedene Interpretationen zulasse. Auf Initiative des Ministeriums für Wirtschaft, Handel und Industrie wird eine Zerschlagung von Tepco, dem regionalen Stromkonzern für Tokio und Betreiber des havarierten AKWs in Fukushima, ebenso verschoben wie die Trennung des Strommarkts in Produzenten und Netzbetreiberinnen. Zudem müssen die Unfallkosten von den StromkundInnen übernommen werden. Und angeblich wird eine Tür geöffnet für die Auszahlung von Steuergeldern an Tepco, die später für die Förderung neuer AKWs verwendet werden könnten. Immerhin: Am 26. August wurde das Gesetz zur Förderung erneuerbarer Energien im Parlament angenommen – ein Trostpflaster für viele AtomkraftgegnerInnen.
Dass sich Vetternwirtschaft und Machtpolitik auch nach der verheerenden Katastrophe vom März nicht entscheidend geändert haben, zeigt, wie tief sie in den oberen Sphären der Politik verwurzelt sind. Stellvertretend für viele BürgerInnen schrie Tatsuhiko Kodama, Chef des Radioisotopenzentrums an der Universität von Tokio, vor kurzem während einer Anhörung im Unterhaus vor laufenden Kameras die anwesenden PolitikerInnen an: «Selbst fünf Monate nach der Katastrophe habt ihr in Fukushima immer noch nichts zum Schutz der Kinder vor der radioaktiven Strahlung unternommen. Was macht ihr eigentlich?»
Die Sorge der Bevölkerung um die Kinder ist und bleibt ein wichtiges Thema auch für die Umweltorganisationen, die für ein atomkraftfreies Japan kämpfen. Sie wollen ihre Anliegen während einer Aktionswoche präsentieren, die am 9. September beginnt – sechs Monate nach Erdbeben und Tsunami, die die Atomkatastrophe ausgelöst haben. Der Protest richtet sich diesmal insbesondere gegen die Forderung einiger PolitikerInnen, vom Netz genommene Reaktoren wieder einzuschalten, noch bevor deren Sicherheit überprüft worden ist. Zurzeit stehen 41 der 54 Atommeiler still, ohne dass es zu Stromlücken gekommen wäre. Allerdings haben die Elektrizitätswerke rigorose Sparmassnahmen angekündigt und durchgesetzt. Fünfzig Prozent der Bevölkerung lehnen die Wiederinbetriebnahme der AKWs ab.
Einen weiteren Schock erlebten die rund 80 000 Menschen, die nach der Atomkatastrophe ihre Heimat verlassen mussten. Viele hofften, die Evakuierung habe nur vorübergehenden Charakter. Doch nun ist es offiziell: 800 Quadratkilometer werden zur Sperrzone erklärt, da der Boden nur beschränkt dekontaminiert werden kann. An eine Rückkehr der Bevölkerung ist während Jahrzehnten nicht zu denken. Gleichzeitig wirbt die Regierung dafür, in der Präfektur Fukushima ein atomares Zwischenlager zu errichten.