Fukushima: Das Atomdorf schlägt sich wacker

Nr. 10 –

Am 11. März jährt sich die Dreifachkatastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Super-GAU von Fukushima zum zehnten Mal. Trotz der Heftigkeit des Infernos ist Japan der Atomausstieg nicht gelungen.

  • Die Kleinstadt Futaba hatte vor dem Erdbeben und dem Unfall im AKW Fukushima rund 7000 EinwohnerInnen. Seither ist sie unbewohnbar.
  • Seit 2011 wurde verseuchte Erde auf einem Gebiet abgetragen, das so gross ist wie der Kanton Basel-Landschaft.
  • Ruine einer Schule in der Stadt Ishonomaki. Davor soll eine Gedenkstätte entstehen – die Bäume sind bereits gepflanzt.
  • Der Tsunami spülte grosse Mengen Abfall ans Land, der sich zum Teil von selbst entzündete und Waldbrände auslöste. Verkohlte Überreste sind noch heute zu sehen.
  • Das neue Tsunamimuseum im nordjapanischen Iwate. Gleich daneben stehen heute noch Ruinen.
  • Plastiksäcke mit kontaminierter Erde in Futaba.

3/11 ist in Japan eine allseits bekannte Chiffre wie 9/11 in den USA. Doch während die US-AmerikanerInnen am 11. September jeweils die Einheit der Nation beschwören, tut sich das offizielle Japan schwer mit der Erinnerung an die Ereignisse rund um den 11. März 2011. Denn die AKWs galten als absolut sicher, vom sogenannten Restrisiko wurde wenig gesprochen. Und da sich Japan bis heute nicht vom Atomstrom lösen kann, stört die Erinnerung an den Super-GAU die Energiepläne der Regierung, die Fukushima möglichst schnell vergessen lassen will. Die japanische Zivilgesellschaft ihrerseits, die Atomstrom heute mehrheitlich ablehnt, tut zu wenig, um ein Gegengewicht zu den staatlichen Stellen zu bilden und das Bewusstsein für die zerstörerische Kraft der Atomenergie wachzuhalten.

Natürlich wird immer noch gegen Atomkraft protestiert. Doch das Feuer der ersten Jahre nach 3/11, als einige Demos Zehntausende auf die Strassen brachten, ist erloschen. Nur die NGOs, die die Anti-Atomkraft-Bewegung anführen, sind dieselben geblieben. Um den 11. März findet jedes Jahr eine Gedenkdemo statt, dieses Jahr wegen der Coronapandemie erst am 27. des Monats. Rund tausend Menschen werden erwartet.

Lasche Sicherheitsstandards

Atomstrom hatte in der japanischen Bevölkerung nicht immer einen schlechten Ruf. Vor 3/11 unterstützte sie die Energiepolitik der Regierung, die stark auf Atomkraft baute. Deren Anteil am ganzen Stromkuchen sollte gemäss offiziellen, kurz vor der Katastrophe veröffentlichten Plänen langfristig sogar von damals dreissig auf fünfzig Prozent steigen. Dies war ganz im Sinn des sogenannten Atomdorfs, einer verschworenen Interessengemeinschaft aus Industrie, Bürokratie und Politik. In deren Zentrum standen die zehn Strombetreiber, die in ihrer jeweiligen Region über das Monopol und die Kontrolle über die Strompreise verfügten. Dies verschaffte ihnen viel Spielraum beim Schultern der Kosten – und viel Macht, die bis weit ins Wirtschaftsministerium und die Politik hineinreichte.

Doch am 11. März 2011 schien für das Atomdorf die Welt stillzustehen. Trotz Warnungen in der Vergangenheit, ein starkes Erdbeben oder ein Tsunami könnte eine Katastrophe auslösen, waren die Sicherheitsstandards lasch gewesen. Das Vertrauen in die Eliten war dahin. Plötzlich verstanden die JapanerInnen, dass es sich bei der «sicheren Atomkraft» bloss um einen Mythos gehandelt hatte. «Ziemlich schnell gab es in der Bevölkerung einen Konsens, der bis weit in die Kreise von Politik und Wirtschaft reichte: Japan muss so schnell wie möglich aus der Atomkraft aussteigen», erinnert sich Tetsunari Iida, der in Japan wegen seines grossen Engagements für die Erneuerbaren «Mr. Energy Shift» (Herr Energiewende) genannt wird.

Der Premierminister in diesen Monaten war Naoto Kan von der Demokratischen Partei Japans (DPJ). Diese hatte im September 2009 die Macht von den LiberaldemokratInnen (LDP) übernommen, die jahrzehntelang fast ohne Unterbruch regiert hatten. Kan hatte seine Karriere in der Zivilgesellschaft begonnen. Er war ein impulsiver Premier und hatte seinen eigenen Kopf. Vier Monate nach 3/11 erklärte er öffentlich, Japan werde langfristig aus der Atomkraft aussteigen, ohne jedoch ein genaues Datum zu nennen. Damit vollzog er eine wichtige Kehrtwende. Doch Kan hatte mit seiner Politik wenig Glück und musste im August 2011 wegen schlechter Popularitätswerte zurücktreten. In der Anti-Atomkraft-Bewegung kursierten Gerüchte, das Atomdorf habe Druck ausgeübt.

Auf Kan folgte sein Parteikollege Yoshihiko Noda, der eine widersprüchliche Energiepolitik verfolgte. Einerseits nahm er Rücksicht auf den für die DPJ wichtigen Gewerkschaftsverband Rengo, in dem die ArbeitnehmerInnenvertretungen der Nuklearindustrie eine starke Stellung haben. Trotzdem kündigte er im September 2012 an, Japan werde bis spätestens 2040 den Atomausstieg vollziehen und keine neuen Reaktoren mehr bauen. Viele JapanerInnen jubelten ihm zu. «Natürlich gab es in der Anti-Atomkraft-Bewegung auch Enttäuschte, die sich am späten Datum störten», erinnert sich Akiko Yoshida von der NGO Friends of the Earth Japan.

Auf der Seite der AtomstrombefürworterInnen traf Nodas Ansage jedoch auf starken Widerstand. Japan war in den nuller Jahren durch die Übernahme der US-Konkurrenz und durch Allianzen zum führenden Atomkraftwerksbauer aufgestiegen: 2006 hatte Toshiba Westinghouse gekauft. Die westlichen Mächte, allen voran die USA, befürchteten, der Westen könnte bei einem japanischen Atomausstieg in der zivilen Atomtechnologie hinter China und Russland zurückfallen. Aber auch Keidanren, der mächtigste japanische Wirtschaftsverband, protestierte offiziell. Das Atomdorf hatte nach einer Phase der Zurückhaltung sein Haupt erhoben – und Nodas Ankündigung blieb eine leere Worthülse und schaffte es nicht bis zum Kabinettsbeschluss. 2018 verkaufte Toshiba Westinghouse wieder.

Medien unter Druck gesetzt

Die Stunde der Wahrheit für das Atomdorf kam bei den Unterhauswahlen im Dezember 2012. Die LDP mit Shinzo Abe am Ruder war Favorit. Obwohl sich dieser im Wahlkampf für Atomstrom ausgesprochen hatte, siegte er haushoch und übernahm das Amt des Premierministers. Zusammen mit ihm zog ein Mann in die Residenz des Premiers ein, den man später den «japanischen Rasputin» nennen sollte. Takaya Imai war ein langjähriger Getreuer von Abe und wurde nach den Wahlen dessen Sekretär. Für Imai gehört Atomstrom zur Familie. Einer seiner Onkel etwa, Takashi Imai, ist Vorsitzender des Verbands der japanischen Atomkraftindustrie. «Unter Abe stieg Takaya Imai zum mächtigsten Drahtzieher in der japanischen Politik auf», sagt der atomkraftkritische Publizist Shigeaki Koga, ehemaliger Kollege von Imai im Wirtschaftsministerium.

Doch Abe und Imai fürchteten bei der Umsetzung ihrer Energiepläne die öffentliche Meinung und verfolgten deshalb einen Schlingerkurs. Vordergründig betonten sie, die Abhängigkeit vom Atomstrom reduzieren und die Erneuerbaren voranbringen zu wollen. Im Hintergrund taten sie aber alles, um die Atomkraft zu fördern und zu den alten Verhältnissen zurückzukehren. Bereits 2013 begann man, atomkraftkritisches Personal in der Energiekommission und der Atomregulierungsbehörde zu entlassen. 2014 wurde von der Regierung ein neuer Energieplan veröffentlicht, der der Atomkraft wieder grössere Bedeutung beimass.

Auch sprachlich bemühen sich ExponentInnen des Atomdorfs, auf die Stützung der Atomkraft hinzuarbeiten. Sie rechtfertigen diese mit dem Hinweis auf die Abdeckung der sogenannten Grundlast und bewerten sie nach wie vor als «billig». Dabei operieren sie mit frisierten Zahlen und einem Best-Case-Szenario, gemäss dem die AKWs vierzig Jahre ohne Störfall laufen. Gleichzeitig begann Abe, von den «besten Atomsicherheitsstandards der Welt» zu sprechen, die der 2012 geschaffene Atomkraftregulierungsausschuss garantiere. GegnerInnen des Atomstroms widersprechen. Die beiden Energieexperten Hiroshi Sato und Tsuyoshi Suzuki von der Kommunistischen Partei Japans (KPJ) etwa weisen darauf hin, dass der Inselstaat beim Thema Sicherheit Europa und den USA weit hinterherhinke. So besitzen japanische Atommeiler nur zwei, europäische und US-amerikanische aber vier oder mehr Notstromaggregate, um bei Stromausfall die Reaktorkühlung sicherzustellen.

Zwei Störfaktoren für Abes Energiepolitik waren jedoch schwieriger zu beseitigen: die Erinnerung an den Super-GAU und die kritische Haltung mancher Mainstreammedien. Doch es gelang Abe, beides unter seine Kontrolle zu bringen. Im September 2013 bekam Tokio die Austragungsrechte für die Olympischen Spiele 2020 zugesprochen, die nun auf dieses Jahr verschoben wurden. Die Spiele dienten Abe als Ablenkungsmanöver. Sie wurden kurzerhand «Fukko Gorin» (Wiederaufbauspiele) getauft und sollten demonstrieren, dass Japan die Katastrophe von 2011 überwunden hatte. Fukushima wäre danach Geschichte gewesen.

Ein weiterer Dorn im Auge waren dem Premier die Medien, insbesondere die liberale Tageszeitung «Asahi», die nach 3/11 ihr Team von investigativen JournalistInnen verstärkte und der Energiepolitik grössere Bedeutung schenkte – sehr zum Missfallen des Atomdorfs. Die Chance zum Gegenschlag kam im Sommer 2014, nachdem «Asahi» eine kritische Story über die Angestellten im Kraftwerk Fukushima 1 und deren Flucht während der Katastrophe veröffentlicht hatte. Die vermeintliche Verunglimpfung der «Helden von Fukushima» wurde allseits kritisiert, und die Zeitung war gezwungen, um Entschuldigung zu bitten. Das Investigationsteam wurde reduziert, und «Asahi» hielt sich danach mit seiner Kritik an Abes Energiepolitik zurück.

All diese Manipulationen der öffentlichen Meinung zeitigten jedoch nur bescheidene Erfolge. In der Bevölkerung hält sich die Atomskepsis. Laut einer Umfrage von TV Asahi im Februar sprachen sich fast siebzig Prozent der JapanerInnen für eine schrittweise Verminderung der Abhängigkeit von Atomkraft oder den sofortigen Ausstieg aus. Auch deshalb sind im Moment von den 54 Atommeilern, die Japan vor 3/11 besass, gerade einmal 4 am Netz, weitere 12 erfüllen die Standards der Behörde, laufen aber nicht. Die Erneuerbaren schafften es hingegen, ihren Anteil von 12 Prozent im Jahr 2014 auf mehr als 20 Prozent zu steigern. Der Rest entfällt vor allem auf Kohle (27 Prozent) und Flüssigerdgas (36 Prozent).

Trotzdem will die Regierung gemäss Energieplan 2018 den Anteil der Atomkraft bis Ende dieser Dekade auf rund ein Fünftel erhöhen. Zudem mehren sich Stimmen aus dem Atomdorf, die den Bau neuer AKWs fordern, nachdem der neue japanische Premier Yoshihide Suga im Oktober 2020 angekündigt hatte, er wolle Japan bis 2050 CO2-neutral machen.

Ein Atomausstieg scheint mit einer LDP-Regierung nicht möglich zu sein – trotz der immensen Kosten des Super-GAUs: Das japanische Wirtschaftsministerium schätzt sie inklusive Entschädigungszahlungen auf umgerechnet rund 160 Milliarden Franken. Das Japan Center for Economic Research, eine Denkfabrik, geht jedoch von noch weit höheren Zahlen aus: bis zu 700 Milliarden Franken.

Der Super-GAU und die Folgen

Am 11. März 2011 wurde Nordostjapan von einem Erdbeben der Stärke 9,1 erschüttert, das Tsunamiflutwellen auslöste. Rund 20 000 Menschen kamen dabei ums Leben. In drei der sechs Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima 1 fiel das Kühlsystem aus, es kam zur Kernschmelze, Radioaktivität entwich. In den folgenden Tagen wurden starke Radioaktivitätswerte in der Präfektur Fukushima und Umgebung nachgewiesen. Mehr als 150 000 Menschen wurden zu Atomflüchtlingen: Rund 80 000 wurden aus dem Umkreis von zwanzig Kilometern und aus stark kontaminierten Gebieten ausserhalb dieser Zone evakuiert; viele andere verliessen die Region selbstständig. Seit 2020 sind noch sieben der zwölf geräumten Gemeinden teilweise gesperrt.

Die Lage um das havarierte AKW ist aber auch heute noch alles andere als stabil. Immer wieder wird im Grundwasser stark erhöhte Radioaktivität gemessen. In den Abklingbecken der Unglücksreaktoren 1 und 2 lagern immer noch Brennstäbe, die bei Erdbeben für Gefahr sorgen. Und die Reaktoren müssen seit der Katastrophe mit Wasser gekühlt werden, um ein Fortschreiten der Kernschmelze zu verhindern. Die Bergung des geschmolzenen Brennstoffs wird wohl erst in den 2030er Jahren abgeschlossen sein, die komplette Entsorgung und Stilllegung noch mindestens dreissig bis vierzig Jahre dauern. Wälder und Wiesen bleiben verseucht, geschätzte 40 000 der Geflüchteten können immer noch nicht in ihre Heimat zurückkehren.

Zu den Bildern

Im Auftrag der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES) reiste der in Tokio wohnhafte Fotograf Andrew Faulk diesen Winter in die Region Fukushima, zusammen mit der ETH-Doktorandin Bessie Noll, die 2011 in Japan lebte. Von ihr stammen die folgenden Infos.

«Zone mit hohen Strahlungswerten. Bitte schnell durchfahren»: So heisst es auf vielen Schildern an Schnellstrassen in der Nähe des havarierten AKW. Manche Städte, etwa Futaba, sind erst seit 2020 wieder offiziell zugänglich und weiterhin stark kontaminiert; viele Häuser sind einsturzgefährdet. Trotzdem kehren manche ehemalige BewohnerInnen zurück. Auf über 500 Quadratkilometern – etwa die Fläche des Kantons Basel-Landschaft – wurde die verseuchte oberste Erdschicht abgetragen. Plastiksäcke mit insgesamt 10,4 Millionen Kubikmetern Erde lagern an der Küste. Das verseuchte Kühlwasser, das derzeit über tausend Tanks füllt, soll in den Ozean abgeleitet werden.

Energiepolitisch ist die Präfektur Fukushima dem Land voraus: Sie hat Solar- und Windanlagen stark ausgebaut, investiert in mit «grüner» Energie hergestellten Wasserstoff und möchte sich bis 2040 zu hundert Prozent mit CO2-neutralem Strom versorgen.

reportagen.energiestiftung.ch

www.andrewfaulk.com

Atomkraft in Europa : Wo steht die Nuklearindustrie?

Wenn man wissen möchte, wie es der europäischen Nuklearindustrie geht, kann man das am Beispiel von Olkiluoto 3 (OL-3) erzählen. Das AKW liegt an der Westküste Finnlands, zwei ältere Reaktoren produzieren dort bereits Strom. OL-3 sollte das Vorzeigemodell werden: ein sogenannter EPR, ein topmoderner Druckwasserreaktor. Angeboten wurde er vom deutsch-französischen Konsortium Siemens/Areva. Es offerierte ihn dem finnischen Energieunternehmen TVO zu einem festen Preis von 3,5 Milliarden Euro. Der Bau begann 2005, vier Jahre später sollte die Anlage den kommerziellen Betrieb aufnehmen. Das ist bis heute nicht passiert. Angeblich soll es in einem Jahr so weit sein. Der Bau hat inzwischen etwa 9 Milliarden Euro gekostet.

Frankreich baut in Flamanville ebenfalls einen EPR. Auch dort gibt es massive Verzögerungen. Die Baukosten sind auf über 12 Milliarden Euro gestiegen, dazu kommen hohe Zinszahlungen wegen der Bauverzögerung. Das ehemalige Baukonsortium Siemens/Areva existiert nicht mehr; die Électricité de France (EDF), ein Staatsunternehmen, hat übernommen und baut heute die EPR-Reaktoren.

In Grossbritannien werden seit 2013 in Hinkley Point zwei EPR-Reaktoren hochgezogen. Die Anlage soll nach Angaben der EDF 25 Milliarden Euro kosten. Die Baukosten trägt die EDF zusammen mit einer chinesischen Staatsfirma. 2025 soll das Werk ans Netz gehen, man ist aber bereits in Verzug. Die britische Regierung muss den Strom von Hinkley Point über einen garantierten Abnahmepreis subventionieren, sonst hätte die EDF nicht gebaut.

Zurück nach Finnland: Dort wird bereits ein weiteres AKW geplant. Doch nach den schlechten Erfahrungen mit Siemens/Areva will man ein russisches Staatsunternehmen beauftragen. In Grossbritannien sind ebenfalls weitere Reaktoren geplant, aber auch dort soll es kein EPR mehr werden. Das Vorzeigemodell EPR ist also tot.

Trotzdem werden weltweit Reaktoren gebaut und geplant, oft ähnliche Typen wie der EPR. Führend sind Länder, wo der Staat stark mitfinanziert: China (14 Reaktoren im Bau, 41 geplant), Indien (6 im Bau, 20 geplant) und Russland (3 und 17).  

Susan Boos