Fukushima: Ein «freiwilliger» Rücktritt

Nr. 46 –

Die Lage in Fukushima bleibt brisant. Expremier Naoto Kan spricht mit der WOZ über sein Scheitern beim Atomausstieg. Die Nachfolgeregierung bleibt auf Atomkurs.

Es wird nicht besser im havarierten Atomkraftwerk von Fukushima: Mitte Oktober gab ein Sprecher der Betreiberfirma Tepco bekannt, auf dem Gelände des havarierten AKWs habe man in einer Grundwasserprobe beim durchgeschmolzenen Block zwei hohe radioaktive Werte gemessen. Pro Liter wiesen die Proben eine Strahlenbelastung von 190 000 Becquerel (Bq) Cäsium-137 und sogar 1,2 Millionen Bq Strontium-90 auf – in der Schweiz liegt der Grenzwert für Cäsium bei 1000 und für Strontium bei 125 Bq pro Liter Wasser. Strontium reichert sich in den Knochen an und ist deshalb besonders gefährlich.

Tepco führt die erhöhten Werte auf den Taifun zurück, der Tage zuvor über Japan zog. Wegen der heftigen Regenfälle stieg der Grundwasserspiegel, wodurch sich dieses Wasser mit dem Wasser vermischte, das aus den geschmolzenen Ruinen läuft.

Das Wasserproblem in Fukushima wird insgesamt immer dramatischer: Die geschmolzenen Brennstäbe müssen weiter gekühlt werden, das kontaminierte Wasser, das nicht mehr verwendet werden kann, wird in Tanks gelagert. Das sind inzwischen 9000 Tanks à 1000 Tonnen, und täglich kommen Hunderte Tonnen dazu.

Kein Ende in Sicht

Naoto Kan, der während der Katastrophe 2011 Premierminister war und aus der Atomenergie aussteigen wollte, bringt die Situation in einem Gespräch mit der WOZ auf den Punkt: Die nukleare Katastrophe dauere an, und es sei kein Ende in Sicht. «Tepco gibt an, dass im Inneren von Reaktorblock 2 die Radioaktivität siebzig Sievert pro Stunde beträgt. Das bedeutet, dass ein Mensch dort innerhalb weniger Minuten sterben würde.» Wegen der hohen Strahlenbelastung weiss allerdings – auch dreieinhalb Jahre nach dem Desaster – immer noch niemand, wie es in den Reaktoren wirklich aussieht.

Die Regierung Abe, die nach Naoto Kan an die Macht gekommen ist, bleibt aber auf Atomkurs. Der neue Minister für Wirtschaft, Handel und Industrie, Yoichi Miyazawa, hat bei deren Amtsantritt im Oktober angekündigt, an der Wiederinbetriebnahme zweier Reaktoren des AKWs Sendai im Süden des Landes festzuhalten. Seit September 2013 sind in Japan aus verschiedenen Gründen sämtliche Reaktoren vom Netz. Die Sendai-Reaktoren wären die ersten, die wieder in Betrieb genommen würden.

Expremierminister Naoto Kan sitzt heute für die Demokratische Partei im japanischen Unterhaus. Gegenüber der WOZ spricht er offen darüber, weshalb er mit der Energiewende, die er vor drei Jahren anstrebte, gescheitert ist. Im April 2011 habe er über seine Pläne für einen Atomausstieg informiert, im Mai liess er das AKW Hamaoka schliessen, das in einer extrem erdbebengefährdeten Region steht. Danach habe eine Schmutzkampagne gegen ihn begonnen, die im September 2011 zu seinem «freiwilligen» Rücktritt als Premierminister geführt habe, erzählt Kan. Die Liberaldemokratische Partei (LDP), die sich damals in der Opposition befand, hatte im Parlament einen Misstrauensantrag gegen ihn gestellt. Dabei wurde die LDP von Teilen Kans eigener Partei unterstützt. Er überstand das Misstrauensvotum zwar, war danach aber in seinem Handlungsspielraum eingeschränkt.

Ein Machtkonglomerat

«Hinter der Kampagne steckt die Atomlobby, die wir in Japan ‹Atomdorf› nennen», sagt Naoto Kan unverblümt. Zu diesem Machtkonglomerat gehören in Japan die Elektrizitätsgesellschaften, die AKWs bauenden Unternehmen sowie Politikerinnen, Wissenschaftler, Bürokratinnen – dazu und vor allem auch die Medien, die über Inserate von der Energie- und Atomwirtschaft abhängig sind. Wer in Japan Atomkraftwerke infrage stelle, habe es schwer, eine führende Position in der Gesellschaft zu erlangen, sagt Kan. Daher sei sehr schnell klar gewesen, dass er als Premierminister habe abdanken müssen.

In den Medien seien falsche und verleumderische Berichte erschienen, die ihm vorwarfen, während der Katastrophe schwere Fehler gemacht zu haben. Der heutige Premierminister, Shinzo Abe, damals LDP-Abgeordneter, habe zum Beispiel verbreitet, dass er, Kan, angeordnet habe, die Kühlung von Reaktorblock 1 mit Meerwasser zu stoppen. Deshalb trage er für das Ausmass der Katastrophe die Verantwortung und müsse zurücktreten. «Das hat Abe, zehn Tage nachdem ich die Schliessung des AKWs Hamaoka angeordnet hatte, via Mail verbreitet!», sagt Naoto Kan. Dafür habe Tepco den Befehl gegeben, mit der Meerwasserkühlung aufzuhören, nicht er. Im Sommer 2013 zeigte Kan seinen Nachfolger wegen übler Nachrede an. Das Verfahren ist noch hängig.