Libyen: Ein gemeinsamer Feind vereint

Nr. 36 –

Der Nationale Übergangsrat in Libyen bemüht sich, möglichst viele Fraktionen beim Aufbau des neuen Staates einzubinden. Doch solange Gaddafi nicht gefasst ist, geht es kaum voran.


In Tripolis ist mittlerweile Ruhe eingekehrt. Die Geschäfte sind geöffnet, Taxifahrer unterwegs, und die Banken funktionieren. Selbst die Verkehrspolizisten in ihren blütenweissen Sommeruniformen sind zurück auf der Strasse. Nur das fehlende Wasser erinnert die BewohnerInnen der libyschen Hauptstadt daran, dass noch Krieg ist. Truppen des ehemaligen Machthabers Muammar al-Gaddafi hatten zeitweise die Kontrolle über die wichtigsten Versorgungsleitungen übernommen.

Der Nationale Übergangsrat (NTC) kämpft an zwei Fronten: Einerseits muss er die Versorgung der Zweimillionenstadt garantieren, andererseits den Krieg zu Ende führen. «Der NTC ist in einer schwierigen Lage, aber er meistert die Situation bisher glänzend», meint Muhammad Bali, der während der Gaddafi-Ära als Mathematiker staatliche Statistiken erstellt hat. «In verblüffend kurzer Zeit wurde Sicherheit hergestellt, und die Elektrizität funktioniert wieder. Auch in Sachen Wasser tun sie ihr Bestes.» Das ist für Bali der entscheidende Weg, die Sympathie der Bevölkerung zu gewinnen.

Unbekannte Politiker

Denn: «Den meisten Libyern sagen die Namen der NTC-Mitglieder gar nichts. Wenn sie zwei oder drei davon kennen, ist das schon viel.» Bekannt dürften in erster Linie diejenigen sein, die Teil des alten Regimes waren – wie etwa der Vorsitzende der Übergangsregierung Mahmud Dschibril. Er arbeitete von 2007 bis 2011 für das Nationale Gremium für Wirtschaftsentwicklung. Oder Mustafa Abd al-Dschalil, der unter Gaddafi jahrzehntelang Richter war. Heute ist er der Vorsitzende des NTC.

Mit anderen Figuren, wie etwa Ali Tarhuni, können die meisten Libyer kaum etwas anfangen. Er avancierte in den letzten Monaten vom Finanz- und Ölminister zum stellvertretenden Chef des NTC. Seit 1973 im Exil in den USA, war er 1980 Mitbegründer der marxistisch ausgerichteten Oppositionsgruppe Nationale Demokratische Front. Was Tarhuni heute denkt, liegt im Dunkeln. Ähnliches gilt für die meisten der siebzig NTC-Mitglieder.

Momentan hat die Versorgung der Bevölkerung Priorität. Zudem gilt es die letzten Bastionen der Gaddafi-Loyalisten einzunehmen.

Mittlerweile hat der NTC einen politischen Fahrplan bekannt gegeben: Libyen soll ein demokratisches System mit Parteienpluralismus und einem Parlament bekommen. Der Islam bleibt Staatsreligion, und eine Quelle der Rechtsprechung soll die Scharia sein, das sehr unterschiedlich auslegbare islamische Rechtssystem. Zudem soll ein Gremium zur Erarbeitung einer neuen Verfassung ernannt werden.

Bisher sind dies sehr grobe Richtlinien, die nichts festlegen. Sie könnten den demokratischen Musterstaat unter den arabischen Ländern begründen, aber auch eine theokratisch-islamische Republik, ähnlich rigide wie der Iran. Gleichzeitig existiert eine seltsame Bedingung: Ohne eine «Befreiungserklärung» kann das Programm nicht umgesetzt werden. Diese sei wiederum, wie der NTC-Vorsitzende Abd al-Mustafa Dschalil sagte, von der Verhaftung oder dem Tod Gaddafis abhängig.

Demokraten oder Islamisten?

90 Tage nach der «Befreiungserklärung» soll eine provisorische Regierung eingesetzt und 240 Tage danach eine Nationale Konferenz (PNC) mit 200 Mitgliedern gewählt werden. Fraglich ist, wer darin eine Mehrheit findet. Werden es die Exillibyer sein, die die Mehrheit erlangen? Solche vom Typ Tarhuni, der im Westen sozialisiert ist, sich sozial und liberal gibt, geschult in Sachen Demokratie? Nicht einfach in einem Land, in dem es in den letzten 42 Jahren keine funktionierende Zivilgesellschaft, keine Parteien oder NGOs gab.

Oder sind es doch eher die Islamisten, die das Sagen bekommen? Ihr prominenter Führer Abd al-Hakim Belhadsch wurde kürzlich zum Militärkommandanten von Tripolis ernannt. Früher war er Befehlshaber der islamistischen Libyschen Islamischen Kampftruppe (LIFG), die bis 2009 der al-Kaida nahestand, die letzten Jahre sass er im Gefängnis.

Mathematikprofessor Bali hat jedoch keine Angst wegen eines islamistischen Libyen. «Die Islamisten sind lange nicht so stark, wie manche glauben», sagt er überzeugt. Die Ernennung von Belhadsch zum Kommandanten sei kein Fehler, sondern ein kluger Schritt des NTC gewesen. «Sie haben auch einen ehemaligen Gaddafi-Mann, al-Barrani Schkal, zum Polizeichef von Tripolis gemacht.» Man müsse eben möglichst alle Fraktionen integrieren. «Wir brauchen keine Milizen, die sich gegenseitig und auch noch den neuen Staat bekämpfen.» Man könne nur gemeinsam etwas erreichen, wenn niemand ausgeschlossen werde, resümiert Bali, mit deutlich erkennbarer Euphorie.

Bisher war es einfach, einen gemeinsamen Nenner zu finden: gegen Gaddafi und sein Regime. Die Frage bleibt: Was passiert, wenn der gemeinsame Feind, verhaftet oder tot, wegfällt?

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