Sahra Wagenknecht: «Wer Leistung, Wettbewerb und Wohlstand will, muss links sein»

Nr. 36 –

Seit drei Jahren steckt die Weltwirtschaft in der Krise. Dennoch wagen nur wenige, das herrschende System grundsätzlich infrage zu stellen. Eine der Ausnahmen ist die deutsche Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht («Die Linke»). Ein Gespräch über Ludwig Erhard, die Macht der Monopole und die Überwindung des Kapitalismus.


An einem Spätsommernachmittag in einem Berliner Café: Sahra Wagenknecht betritt das Lokal, unauffällig, etwas geduckt und gänzlich ohne die üblichen Allüren bekannter PolitikerInnen. Man schüttelt sich die Hand, die Bundestagsabgeordnete nimmt Platz, gibt ihre Bestellung auf und entschuldigt sich beim Journalisten für ihre fünfminütige Verspätung.

Von den einen wird Wagenknecht als «Hummerkommunistin» verhöhnt, von anderen als «Neostalinistin» oder «rotes Teufelchen» gescholten, während Talkmaster Harald Schmidt sie kürzlich als die «Ikone der Linken» feierte. Doch obwohl Sahra Wagenknecht zum stramm ideologischen Flügel der Partei «Die Linke» zählt – und der sogenannt pragmatische Flügel ihre zwischenzeitliche Favoritenrolle für das Parteipräsidium alles andere als goutierte –, will kein Etikett so richtig zu ihr passen. Die selbsterklärte Kommunistin, die 1969 in Jena geboren wurde, angeblich schon mit zehn Jahren Sigmund Freud las, später in Berlin Philosophie und Literatur studierte und nach einem EU-Parlamentsmandat 2010 zur stellvertretenden Parteivorsitzenden wurde, sagt im Interview mit der WOZ vor allem Dinge, die jeder Freisinnige sofort unterschreiben könnte. Anfang des Jahres erschien ihr neustes Buch: «Freiheit statt Kapitalismus».

WOZ: Frau Wagenknecht, als ich Freunden erzählte, dass ich sie interviewen würde, sagten alle: «Ach, die Kommunistin, die die DDR verklärt ...»

Ich weiss, dass die Medien ein solches Bild von mir malen. Das ist völlig absurd. Ich will nicht zurück in die DDR.

Sie haben unter anderem einst gesagt, die Mauer sei ein «notwendiges Übel» gewesen ...

Solche Zitate sind alle von Anfang der neunziger Jahre. Da war ich Anfang zwanzig und voller Trotz und Verärgerung. Immer wieder graben die Medien diese uralten Zitate hervor, weil sie keine aktuellen finden. Und zwar deshalb, weil ich solche Dinge nicht mehr vertrete. Menschen ändern sich.

Warum waren Sie voller Trotz?

Ich habe schon zur Zeit des Kalten Krieges meine Kritik an der DDR formuliert – und bin deswegen auch in Schwierigkeiten geraten. Doch den Anschluss an die Bundesrepublik wollte ich nicht. Ich wollte einen neuen Anlauf, einen reformierten Sozialismus. Nach der Wende war ich verärgert über die teilweise völlig denunziatorische Art, in der die Vergangenheit dargestellt wurde: Es gab in der DDR genug, was man kritisieren konnte, aber so, wie sie dargestellt wurde, war sie auch wieder nicht. Im Trotz sagte ich mir: Wenn die die DDR nur noch schlechtmachen, dann lobe ich sie nur noch.

Ihre Partei streitet derzeit gerade, ob es richtig war, 1961 eine Mauer zwischen der DDR und Westdeutschland zu errichten, und hat in einem Schreiben an Fidel Castro dessen «politische Weitsicht» gelobt. Sollte sich ihre Partei nicht lieber im Hier und Jetzt für Ideale wie Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie einsetzen, statt vergeblich in der Vergangenheit nach ihnen zu suchen?

Ich stimme Ihnen zu. Die Debatten, die wir in den letzten Wochen geführt haben, waren komplett verfehlt. Doch ich glaube, dass wir an der kürzlichen Bundestagsfraktionsklausur zu den Sachthemen zurückgefunden haben. Im Übrigen will niemand von der Partei in die Vergangenheit zurück.

Niemand? Einige haben offensichtlich Mühe, sich von der DDR zu distanzieren.

Ich würde niemandem unterstellen, er wolle in die DDR zurück. Unabhängig davon ist aber genauso klar, dass das heutige Wirtschaftssystem unerträglich ist. Und keine Zukunft hat. Die herrschende Politik hat kein Konzept für einen Ausweg aus der Euro- und Wirtschaftskrise. Es ist ein Trauerspiel. Da wird nur auf Zeit gespielt.

In Ihrem neuen Buch «Freiheit statt Kapitalismus» rekapitulieren Sie äusserst wohlwollend die Ideen liberaler Ökonomen, die die Nachkriegszeit geprägt haben: Walter Eucken, Ludwig Erhard. Was findet eine Kommunistin an diesen Leuten?

Sie hatten klare Auffassungen zur Wirtschaft. Euckens Grundaussage war: Private Wirtschaftsmacht lässt sich nicht kontrollieren, deshalb muss ihre Entstehung verhindert werden. Diese Aussage steht im völligen Widerspruch zur Politik, die in den letzten zwanzig, dreissig Jahren betrieben wurde. Wirtschaftsmacht wurde geradezu gemästet. Etwa durch die Aufweichung der Kartellkontrolle oder den deregulierten europäischen Binnenmarkt, der grosse Unternehmen noch grösser machte und ihre internationale Expansion förderte. Ludwig Erhard sagte seinerseits, ein Wirtschaftssystem sei nur akzeptabel, wenn es die Reallöhne zum Steigen bringe. In Deutschland sinken sie seit zehn Jahren – und nicht nur hier.

Wie ist es zu diesem Wandel gekommen?

Früher hatten die Regierungen den Anspruch, den Kapitalismus sozial zu bändigen, ihm Regeln aufzuzwingen. Dass sie das taten, hatte mit der Stärke der Gegenkräfte und der Angst vor einer Überwindung des Systems zu tun. Dieser Anspruch wurde von den Neoliberalen zuerst in Grossbritannien mit Margaret Thatcher, dann in den USA und später auch in anderen Ländern fallen gelassen. Nun rief man nach freiem Markt, nach dem Abbau aller Regeln, nach freiem Kapitalverkehr. Diese Reformen haben in die heutige Wirtschaftsordnung geführt, in der die Erträge des Wachstums ausschliesslich in den Taschen der oberen zehn Prozent der Bevölkerung landen.

Ihre Hauptkritik richtet sich gegen die weltweit zunehmende Konzentration von Eigentum: in Konzernen, Banken, Familien. Diese habe die Wirtschaft innovations- und leistungsfeindlich gemacht. Hat der Kapitalismus nicht eher zu einem Boom geführt?

Früher ja, heute nicht mehr. Was machen grosse Unternehmen? Sie schütten in Form von hohen Dividenden und Aktienrückkäufen endlos Geld aus, statt es zu investieren. Die Investitionsquote in Deutschland ist seit zwanzig Jahren rückläufig. Immer mehr Geld fliesst auf die Finanzmärkte und wird dort verspekuliert. Auch Banken finanzieren lieber Kredite an Hedgefonds oder nehmen Kredite auf, um Derivate aufzulegen, statt dass sie einem Mittelständler Geld geben, um seine Innovation zu finanzieren. Kapitalismuskritik darf sich nicht auf soziale Fragen beschränken. Der heutige Kapitalismus ist längst nicht mehr nur sozial ungerecht, er ist auch wirtschaftlich zerstörerisch. Innerhalb von nur drei Jahren stehen wir zum zweiten Mal vor einer Weltwirtschaftskrise, die mit einer Finanzkrise verbunden ist. Das heutige Wirtschaftsmodell macht die Realwirtschaft, die tatsächliche Basis des Wohlstands, zunehmend kaputt.

Der Kapitalismus zerstört sich selbst?

So schnell bricht der Kapitalismus nicht zusammen. Ich sehe heute eine andere Gefahr: Jetzt, da die Gesellschaft mit ihren ökonomischen Problemen nicht mehr zurande kommt, stellt sie die Demokratie infrage. Wir haben in ganz Europa ein erschreckendes Erstarken nationalistischer und neofaschistischer Bewegungen. Geht diese Entwicklung weiter – und ich rechne damit –, wird der Kapitalismus nicht überwunden. Er rettet sich vielmehr in undemokratische, im schlimmsten Fall diktatorische Formen.

Deshalb der Titel Ihres Buches «Freiheit statt Kapitalismus»?

Hier geht es mir um etwas anderes. In einer Gesellschaft, in der die Verteilung immer ungleicher wird, wird die Freiheit akut beschränkt. Armut ist ein Angriff auf die Freiheit. Auch wer eine befristete Anstellung hat, ist nicht frei, er kann sein Leben nicht planen. Im Übrigen existiert auch die freie Marktwirtschaft nicht mehr. Auf vielen Märkten dominieren fünf, sechs grosse Konzerne. In Deutschland teilen sich vier Energieriesen achtzig Prozent der Energieversorgung. Hier herrscht die Macht der wenigen.

Eine Macht, die auch die Demokratie aushöhlt ...

Natürlich. Wenn in irgendeinem Sektor vier Unternehmen den Markt dominieren, können sie die Politik erpressen. Denn von ihren Entscheidungen hängen am Ende Millionen Menschen ab. Eine Handvoll Banken entscheidet über die Zinsen, die ganze Länder zahlen müssen. Das ist die unkontrollierbare Wirtschaftsmacht, von der Walter Eucken gesprochen hatte – und von der die heutigen Politiker nichts mehr wissen wollen.

Vor drei Jahren krachte der Finanzmarkt zusammen. Warum?

Auch der Kern der Finanzkrise liegt in der Vermögenskonzentration, der Verteilungsfrage: Zusammengekracht sind vor allem die Kredite an Private, unter anderem Hypothekarkredite. Der Grund für die massive Ausweitung von Privatkrediten war die schlechte Entwicklung der Löhne einer grossen Mehrheit. Der normale US-Bürger hat stagnierende, vielfach sinkende Reallöhne seit den achtziger Jahren durch wachsende Schulden kompensiert – dasselbe geschah in Irland, Spanien, in Osteuropa. 2008 ist diese Privatschuldenblase geplatzt, die Banken gerieten ins Wanken und wurden von den Staaten gerettet. Kurz: Die Staaten haben sich die faulen Schulden der Privaten auf die eigenen Schultern geladen. Aus der Privatschuldenblase wurde eine Staatsschuldenblase.

Viele europäische Staaten waren bereits vor der Finanzkrise erheblich verschuldet.

Ja, ein wichtiger Grund dafür ist der Steuerdumpingwettlauf. Nicht die Staatsausgaben sind gestiegen: Die Einnahmen sind gesunken. Schaut man die Unternehmenssteuern an, die Spitzensteuersätze, die Vermögenssteuern: Da gibt es einen klaren Trend nach unten. Die Staaten haben die wegbrechenden Einnahmen durch eine höhere Verschuldung ersetzt. Wenn Deutschland das Steuersystem aus der Zeit von Helmut Kohl wiederherstellen würde, nähme der Staat hundert Milliarden Euro jährlich mehr ein – ein Drittel des heutigen Bundeshaushaltes. Spricht man über Schulden, muss man auch immer über die Vermögen reden, die dank der sinkenden Steuern entstanden sind – sie sind die Kehrseite der Staatsschulden.

Zusammengefasst: Die zunehmende Konzentration von Eigentum führte zu einer Nachfrageschwäche, die durch private und staatliche Schulden kompensiert wurde?

Genau. Und diese Entwicklung geht immer weiter. Das führt zu immer neuen Blasen, die dann irgendwann platzen.

Wie kommt der Westen aus seinen Schulden? Indem die reichen Staaten den armen unter die Arme greifen?

Das Problem ist, dass heute etwa nicht zugunsten Griechenlands umverteilt wird. Die ganzen Rettungsmilliarden der EU fliessen direkt an die Banken, bei denen Griechenland verschuldet ist. Diese Art Umverteilung ist deshalb kein sinnvoller Weg. Zwei Zahlen sind hier interessant: Wir haben in der EU eine Gesamtstaatsverschuldung von rund zehn Billionen Euro; dem steht ein Geldvermögen allein der Millionäre und Multimillionäre in der Höhe von zehn Billionen Dollar gegenüber. Diese Grössen sind parallel gewachsen, vor fünfzehn Jahren waren beide halb so gross. Wir könnten sagen: Okay, wir fordern eine einmalige Vermögensabgabe von fünfzig Prozent auf alle Vermögen, die eine Million übersteigen, dann wären die Staaten fast die Hälfte ihrer Schulden los. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass jene für die Schulden zahlen, die von ihnen profitiert haben. Unter den aktuellen Sparprogrammen leiden die einfachen Bürger.

Warum eine Vermögensabgabe? Bei einem Teilstaatsbankrott würden Schulden einfach gestrichen.

Ja, man kann es auch so machen. Die Staaten müssten dann aber die Banken rekapitalisieren, und dafür müssten sie wieder Geld bei den Reichen holen. Denn: Gehen die Banken bankrott, verlieren nicht nur die Millionäre ihr Geld, sondern auch Otto Normalverbraucher, der vielleicht 20 000 Euro auf dem Konto hat.

In der EU reden nun alle über Eurobonds – EU-Anleihen, mit denen die Schulden der Mitgliedsstaaten auf die EU übertragen werden könnten ...

Meine Partei plädiert schon lange für solche Anleihen. Doch heute würden sie nicht mehr ausreichen. Mit ihnen würden die EU-Staaten gemeinsam dafür bürgen, dass den Banken regelmässig die Schuldzinsen bezahlt werden. Die Finanzmärkte sind nicht zufällig von diesen Eurobonds so begeistert. Die Staatsschulden müssen von den Launen der Finanzmärkte abgekoppelt werden, die die Schuldscheine halten und die Zinsen dafür nach oben drücken. Etwa durch die Gründung einer öffentlichen Geschäftsbank, die anstelle der privaten Banken bei der Europäischen Zentralbank Geld aufnehmen und zu moderaten Zinsen an die Staaten weiterverleihen würde.

Viele Linke fordern nun ein Zurück zur sozialen Marktwirtschaft, wie sie Ludwig Erhard verkörperte. Ist das keine valable Alternative?

Im heutigen Kapitalismus gibt es kein Zurück. Bei den aktuellen Eigentumsverhältnissen ist die Politik nicht mehr souverän genug, eine soziale Verteilung durchzusetzen. In der Nachkriegszeit waren die Banken und Unternehmen nicht so gross und international verflochten, dass sie ganze Staaten erpressen konnten. Der Ausweg besteht darin, andere Eigentumsverhältnisse durchzusetzen.

Sie fordern also die Überwindung des Kapitalismus. Doch was ist Kapitalismus überhaupt?

Viele denken, Kapitalismus sei eine Wirtschaftsform, in der Märkte die zentrale Rolle spielen. Das ist falsch. Es gibt keinen anderen Mechanismus als den Markt, der in einer hochdifferenzierten Konsumgesellschaft Angebot und Nachfrage aufeinander abstimmen kann. Natürlich gibt es Bereiche, in denen er nichts zu suchen hat, etwa in der Bildung, der Gesundheit. Aber in vielen anderen Bereichen ist der Markt unersetzlich. Was den Kapitalismus ausmacht, ist der Umstand, dass ein Unternehmen nicht jenen gehört, die darin arbeiten, sondern Eigentümern, die es oft geerbt haben oder Aktien halten.

In Ihrem Entwurf einer neuen Eigentumsordnung ist Privateigentum aber durchaus vorgesehen.

Ja. Es muss möglich sein, ein Unternehmen zu gründen und damit entsprechend zu verdienen. Ein Problem entsteht, wenn dieses vererbt wird. Da schlage ich eine Erbschaftssteuer vor: Bis zu einer Million Euro Betriebsvermögen bleibt steuerfrei, alles darüber fliesst in eine Stiftung, die von der Belegschaft verwaltet wird. Die Mitarbeiter könnten damit über Investitionen oder Löhne entscheiden. Der Gewinn könnte nicht ausgeschüttet werden. Deshalb würden nur so hohe Renditen angestrebt, wie auch im Unternehmen reinvestiert werden könnten – damit gäbe es Spielraum für höhere Löhne.

Die Erbschaftssteuer würde aber nicht nur für Betriebsvermögen gelten.

Nein, auch für Finanzvermögen. Diese Erträge gingen an den Staat. Gerade die FDP, die immer wieder die «Leistungsgesellschaft» propagiert, müsste diese Idee unterstützen. Wenn ich diesen Begriff irgendwie ernst nehme, bedeutet er eine Gesellschaft, in der der persönliche Lebensstandard von der eigenen Leistung abhängt. Heute hängt er hauptsächlich vom Elternhaus ab. Wir leben in einer Erbengesellschaft.

Und ab einer bestimmten Betriebsgrösse würde neben der Belegschaft auch der Staat beteiligt ...

Ja, bei sehr grossen Unternehmen – etwa den deutschen Autokonzernen. Die gesellschaftliche Bedeutung solcher Unternehmen ist enorm. Dann gibt es Bereiche, die ganz in die öffentliche Hand gehören, etwa der Energiesektor, die Bildung, die Gesundheit, der öffentlicher Verkehr. In gewissen dieser Bereiche funktioniert der Markt nicht. Es sind Monopole. Hier in Berlin wurde die Wasserversorgung privatisiert. Das entsprechende Konsortium hat irre Preissteigerungen durchgesetzt. Doch ich kann mich nicht dagegen wehren.

Mit dem Argument der Grundversorgung verlangen Sie auch, die Geschäftsbanken zu verstaatlichen ...

Ja. Die Banken würden ihr Verhalten natürlich nur ändern, wenn man ihnen entsprechende Regeln auferlegen würde. Doch heute ist das eben nicht mehr möglich: Nach der internationalen Vereinbarung zur Bankenregulierung Basel III hat die Deutsche Bank gewisse Geschäftsfelder einfach woanders hinverlegt. Wären die Banken in öffentlicher Hand, könnte ihnen endlich die Spekulation verboten werden.

Die Banken haben doch nur durch Kreditvergabe die einbrechende Nachfrage kompensiert, die sich aus der ungleichen Verteilung ergab?

Sie haben aber auch verantwortungslos Kredite vergeben und sie an andere Banken weiterverkauft. Es gibt Belege dafür, dass die Deutsche Bank gegen ihre eigenen Produkte gewettet hat. Sie wusste, dass ihre zusammengebastelten Papiere faule Kredite enthielten – und hat mit diesem Wissen zusätzlich Geld verdient. Aber ja, die Verteilungsfrage ist tatsächlich die zentrale Frage. Und meine These ist: Ändern wir die Eigentumsverhältnisse, dann verändert sich auch die Verteilung der Einkommen und Vermögen.

Obwohl viel Karl Marx in Ihrem Buch steckt, erwähnen Sie ihn nirgends. Dagegen zitieren Sie viele Liberale, unter anderen Roger de Weck, reden von Leistung, Innovation, Mittelstand. Sind sie eine bürgerliche Kommunistin?

(Lächelt.) Ich finde es falsch, denen, die die heutige Wirtschaftsordnung rechtfertigen, den Anspruch zu überlassen, für Innovation, Leistung und Wettbewerb zu stehen. Sie rechtfertigen eine Gesellschaft, die leistungsfeindlich ist, Innovation kaputt macht, Wettbewerb einschränkt. Wer dieses Wertesystem der sozialen Marktwirtschaft ernst nimmt, muss den Kapitalismus überwinden wollen. Walter Eucken sprach von Haftung: Doch ein Manager, der falsche Entscheidungen trifft, verliert seinen Job mit goldenem Fallschirm, während die Beschäftigten die Konsequenzen ausbaden. Das Haftungsprinzip ist nur in einem Belegschaftsunternehmen umsetzbar.

Sie tragen ein zutiefst protestantisches Wertesystem in sich ...

Aber da ist doch nichts Falsches daran. Die Linke muss raus aus dieser Ecke: «Wir sind die Gerechtigkeitsapostel, die anderen stehen für Wettbewerb, Leistung und Wohlstand.» Wer heute Letzteres will, muss links sein.

Sie wollen doch nur nicht Bürgerliche mit Marx-Zitaten aufschrecken ...

Nein, ich finde nur, Marx muss man nicht zitieren, Marx muss man verinnerlicht haben.

Sie sprechen von der Überwindung des Kapitalismus. Doch in Ihrer Welt gibt es weiterhin Privateigentum. Und Genossenschaften und öffentliche Betriebe existieren doch heute schon. Verkaufen Sie da nicht eine Reform als Paradigmenwechsel?

Das wird mir ja von einigen Linken vorgeworfen. Nochmals: Kapitalismus ist ein System, in dem eine Minderheit, die Eigentum besitzt, von der Arbeit der Mehrheit lebt. Geht das Gros des Eigentums an die Belegschaft oder die öffentliche Hand, ist diese Möglichkeit nicht mehr gegeben.

Sie sprechen in Ihrem Buch viel von Staat, aber wenig von Demokratie. Eine Lehre aus der DDR ist doch, dass ein Staat ohne Demokratie, genau wie die Konzentration privaten Eigentums, zu Machtmissbrauch führt.

Natürlich muss der Staat demokratisch kontrolliert werden. Der Vorzug öffentlichen Eigentums gegenüber privatem ist ja gerade, dass die öffentlichen Verantwortungsträger wählbar sind. Wenn sie das nicht sind, werden sich auch da Leute die Taschen füllen. In China sind viele Staatsbetriebe verkappte Privatunternehmen.

Ihr Buch verharrt in einem nationalstaatlichen Rahmen. Kaum ein Wort zu Entwicklungsländern, die unter westlicher Nahrungsmittelspekulation oder Agrardumping leiden. Ist Ihnen der deutsche Hartz-IV-Empfänger wichtiger als der hungernde Somali?

Nein. Aber man darf beides nicht gegeneinander ausspielen. Der heutige Kapitalismus verschärft die Armut sowohl in der Dritten Welt als auch in den Industrieländern. Das ist wiederum ein guter Resonanzboden für nationalistische Bestrebungen, mit denen die beiden Seiten gegeneinander ausgespielt werden: Deutsche Hartz-IV-Empfänger werden etwa gegen griechische Rentner aufgehetzt. Neue Eigentumsverhältnisse in den Industrieländern würden zugleich den Boden für die Entwicklung in der Dritten Welt legen. Unter dem Schuldenregiment der Banken, unter dem nun die Industrieländer leiden, bluten die Entwicklungsländer seit Jahrzehnten. Bringen wir grosse Konzerne teilweise in die öffentliche Hand, können wir bestimmen, wie sie sich in den Entwicklungsländern verhalten.

Eine implizite Grundthese in Ihrem Buch lautet, der Klimawandel sei durch grüne Technologien in den Griff zu bekommen. Doch ohne Beschränkung des Ressourcenverbrauchs wird es nicht gehen – und das würde das Wachstum voraussichtlich bremsen ...

Ich bin für die Beschränkung des Ressourcenverbrauchs. Ich glaube nur nicht, dass dadurch der Wohlstand sinkt. Woher kommt der irre Ressourcenverschleiss? Daher, dass die Wirtschaft Produkte herstellt, die nur kurz halten, um wieder neue verkaufen zu können.

Ihre Ideen kommen derzeit nicht an: Ihre Partei taumelt von einem Wahldebakel ins nächste ...

Weil wir über die Mauer und Castro streiten, statt uns mit wichtigen Themen wie der Finanzkrise und der Frage nach alternativen Wirtschaftsordnungen zu befassen. Ich merke das an der Resonanz auf mein Buch. Ich bekomme jeden Tag Mails, unter anderem von Leuten, die mir sagen, sie hätten mit linken Ideen bisher nichts am Hut gehabt. Sie finden die Ideen überzeugend, anregend.

Sie wurden als eine der Topfavoriten für das Parteipräsidium der «Linken» gehandelt. Ende Mai haben Sie sich zurückgezogen. Wegen der parteiinternen Opposition?

Nein. Ich möchte nicht Parteivorsitzende werden. Ich möchte neben der Politik weiterhin Zeit haben, um zu lesen, nachzudenken und Bücher zu schreiben.


Sahra Wagenknecht

Die 1969 in Jena geborene Politikerin und Publizistin Sahra Wagenknecht sitzt seit Oktober 2009 für die Partei «Die Linke» im Deutschen Bundestag. Seit Mai 2010 ist sie stellvertretende Parteivorsitzende. Wagenknecht sorgt immer wieder für heftige Kontroversen in ihrer Partei – und in ganz Deutschland –, etwa wegen ihrer Haltung zur DDR. Gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Kommunistischen Plattform – einer Strömung innerhalb der Partei – sprach sich Wagenknecht 2008 in einer Stellungnahme gegen einen Gedenkstein auf dem Berliner Zentralfriedhof Friedrichsfelde mit der Aufschrift «Den Opfern des Stalinismus» aus, da sich unter diesen auch Faschisten befunden hätten. Seit Februar 2010 ruht ihre Mitgliedschaft in der Kommunistischen Plattform.

Zuletzt erschien von ihr das Buch «Freiheit statt Kapitalismus. Wie wir zu mehr Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit kommen» (Eichborn Verlag. Frankfurt 2011).