Die WOZ-Wahlserie (3): Das Dilemma linker Politik
Die neoliberale Einheitspolitik lässt Wahlen sinnlos erscheinen. Die europaweiten Protestbewegungen werden sich dennoch nicht von der repräsentativen Demokratie verabschieden können, schreibt der Philosoph und Soziologe Oliver Marchart.
Pessimismus des Intellekts, Optimismus des Willens. So lautet eine berühmte Maxime Antonio Gramscis. Versucht man die gegenwärtige Situation der Linken in Europa «intellektuell», das heisst analytisch zu fassen, dann scheint ein gehöriges Mass an Pessimismus gerechtfertigt. Zunächst stellt man fest, dass jener neoliberale Umbau der europäischen Sozialstaaten, der bereits seit drei Jahrzehnten in Gang ist, enorm an Fahrt gewonnen hat.
Es war von Anfang an eine Illusion zu glauben, die Rettung «notleidender» Banken hätte etwas mit der Rückkehr des Keynesianismus zu tun. Die unter anderem zu diesem Zweck aufgehäuften Schulden werden nun nicht etwa auf die Banken rück-, sondern auf die Bevölkerung umgewälzt. Das neoliberale Credo – Austeritätspolitik, ungezügelte Märkte, Privatisierung öffentlichen Eigentums und Abbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme – wird mit Zwang durchgesetzt.
Mantra der Alternativlosigkeit
Man würde erwarten, dass dies blendende Zeiten für die europäische Linke wären. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wenn irgendetwas an der gegenwärtigen Situation überrascht, dann nicht, dass etwa die englischen Tories ihren «Thatcherismus 2.0» unbeeindruckt von allen Protesten etwa der Studierenden gegen die Zerstörung des Hochschulsystems durchpeitschen. Überraschend ist, dass europaweit kaum eine linke Partei solchen Politiken etwas entgegensetzen würde. Im Gegenteil. Sozialdemokratische Parteien werden zumeist, und kaum zu Unrecht, als Teil des neoliberalen Problems, nicht als Teil seiner Lösung betrachtet. Tony Blair und Gerhard Schröder haben ganze Arbeit geleistet. Zuletzt erhebt Spaniens angeblich linke Regierung im Überrumpelungsverfahren eine «Schuldenbremse» in Verfassungsrang. Und die griechischen Sozialdemokraten, eigentlich mit einem «Social Justice»-Programm an die Macht gekommen, verfolgen heute unter dem Druck der EU-Troika eine lupenrein neoliberale Politik, die das Land in den endgültigen Ruin führen wird. Sie alle haben die Rede von der vorgeblichen Alternativlosigkeit solcher Politik zutiefst verinnerlicht. Margaret Thatchers berüchtigter Spruch «There is no alternative» ist zum Mantra der Sozialdemokratie geworden.
Die wirkliche Alternativlosigkeit liegt anderswo, nämlich im Fehlen einer politischen Alternative zu diesem Mantra und seinen Vorbetern von rechts wie von links. Genauer: einer Alternative innerhalb des Systems repräsentativer Demokratie. Dass diese Alternative nicht in Sicht ist, hat natürlich mit dem Verlust des Vertrauens nicht nur in die traditionelle Linke, sondern auch in das repräsentative System selbst zu tun. Wenn eine Regierung, um beim griechischen Fall zu bleiben, das exakte Gegenteil dessen umsetzt, wofür sie gewählt wurde, stellt sich die Frage nach dem Sinn von Wahlen überhaupt. Wo nicht mehr zwischen erkennbaren Alternativen, sondern nur noch die Alternativlosigkeit selbst gewählt werden kann, steht Demokratie als solche infrage.
In dieser deprimierenden Situation wird der «Optimismus des Willens» nicht von den etablierten politischen Parteien, sondern von sozialen Bewegungen wiedererweckt. Dabei ist eine überraschende Parallelentwicklung zu beobachten. Vor unseren Augen entwickeln sich zwei «Cluster» an Revolutionen oder Revolten nebeneinander. Auf der einen Seite erhebt sich von Tunesien bis Syrien die arabische Zivilgesellschaft, deren Existenz man hierzulande bislang kaum zur Kenntnis genommen hatte, gegen autokratische, wenn nicht totalitäre Herrschaftssysteme. Auf der anderen Seite treten in besonders vom Sparterror geplagten europäischen Ländern soziale Bewegungen gegen die neoliberale Einheitspolitik auf.
Demokratisierung der Demokratie
Man könnte vermuten, dass beides nichts miteinander zu tun hat. Die beiden «Cluster» von Erhebungen werden aber durch einen gemeinsamen Horizont verbunden. Nennen wir ihn den «demokratischen Horizont». Denn was sie sonst auch unterscheiden mag, in beiden Fällen geht es weiten Teilen dieser Bewegungen um Demokratisierung: um Demokratisierung der Autokratie auf der einen, um Demokratisierung der Demokratie auf der anderen Seite.
Denn nach allem, was sich aus der Entfernung sagen lässt, ist in den arabischen Ländern die islamistische Alternative zur Autokratie heute weniger attraktiv als noch vor einem Jahrzehnt. Das bedeutet nicht, dass nicht hie und da Islamisten an die Macht kommen könnten. Aber dies würde nichts daran ändern, dass die arabischen Revolutionen als demokratische Revolutionen in die Geschichte eingehen werden. Und in Ländern wie Griechenland, Spanien oder Israel treten die Protestbewegungen mit dem Ruf nach demokratischen Alternativen, wenn nicht nach direkter Demokratie auf.
Deren Ruf nach direkter Demokratie ist natürlich die unmittelbare Konsequenz des Vertrauensverlusts, den die repräsentativdemokratischen Systeme in den meisten europäischen Ländern erlitten haben. Und tatsächlich zeichnen sich die Proteste durch ihre basisdemokratischen Prozeduren aus, die sich von Barcelona bis Tel Aviv weitgehend gleichen. Auch in diesem Sinne handelt es sich um Demokratiebewegungen: Sie fordern nicht nur mehr oder «wirkliche» Demokratie («democracia real ya!», wie es in Spanien heisst). Sie sind auch intern demokratisch verfasst.
Basis und Parteien
Und doch stehen sie vor einem scheinbar unlösbaren Problem, das sich in den arabischen Ländern, in denen ein repräsentativdemokratisches System überhaupt erst aufgebaut werden muss, so nicht stellt, jedenfalls noch nicht. Sie verfügen nämlich über keine Vertretung im politischen System. Oft wird die repräsentative Demokratie sogar gänzlich abgelehnt. Das mag angesichts des Eindrucks, man habe es ohnehin nur mit einer neoliberalen Einheitspartei zu tun, verständlich sein. Es übersieht aber einen zentralen Punkt: Gesetzlich bindende Entscheidungen – zum Beispiel zur Einführung einer Tobin-Steuer auf Finanztransaktionen – werden in Parlamenten verabschiedet, nicht in Zeltlagern. Es reicht daher nicht, an einem öffentlichen Meinungsumschwung zu arbeiten, dieser Meinungsumschwung muss letztlich auch politisch repräsentiert werden.
Damit stehen wir vor dem zentralen Dilemma linker Politik heute. Auf der einen Seite haben wir linke (oder besser: exlinke) Parteien ohne Basis. Auf der anderen Seite haben wir eine linke Basis ohne Parteien. Solange aber den etablierten Parteien keine ernst zu nehmende Konkurrenz erwächst, wie das übrigens in vielen lateinamerikanischen Staaten erfolgreich der Fall war, wird sich an der neoliberalen Einheitspolitik nichts ändern.
Das bedeutet, dass die sozialen Bewegungen in Europa schlecht beraten wären, wollten sie sich mit dem Ruf nach einer «wahren» Demokratie begnügen. Man wird vielleicht nicht überall eine neue Partei gründen, wofür es zumindest in Israel Anzeichen gibt. Aber man darf der repräsentativen Demokratie auch nicht den Rücken kehren. Linke Politik wird das Dilemma nur überwinden können, wenn sie auch auf repräsentativer Ebene am Aufbau einer Alternative arbeitet.
Oliver Marchart
Der Wiener Oliver Marchart (43) ist Förderungsprofessor des Schweizerischen Nationalfonds. Er leitet am Soziologischen Seminar der Universität Luzern ein Forschungsprojekt zu Protest und Medien. 2010 erschien von Marchart bei Suhrkamp «Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Agamben und Laclau».
Vor den Parlamentswahlen hat die WOZ sechs Autorinnen und Wissenschaftler gebeten, eine mögliche linke Politik zu beschreiben – frei in der Frage und Form.
Bisher erschienen: WOZ Nr. 36/11: Dorothee Elmiger über die Sprache und das Klov. – WOZ Nr. 37/11: Katrin Meyer zur Sicherheit als Verlässlichkeit.