Demokratiediskussion: Die Vielfalt der Gleichen
Die parlamentarische Demokratie ist am Ende und muss durch demokratische Bewegungen von unten ersetzt werden, meinen viele KritikerInnen. Dabei sollte die Gleichheit aber nicht vergessen werden.
Die Welt ruft nach mehr Demokratie, hiess es kürzlich auf der Titelseite der WOZ. Dabei ist umstritten, was dieser viel angerufene Begriff überhaupt bedeutet. Kann die politische Theoriediskussion zur Klärung beitragen?
Seit dem Arabischen Frühling Anfang 2011 sind soziale Bewegungen auf allen Kontinenten eruptiert. Was kaum mehr denkbar schien – Revolte, Umwälzungen –, vollzieht sich weltweit vor unseren Augen. Und dies zumeist im Namen der Demokratie. Auch Antonio Negri und Michael Hardt widmen sich der Frage in einem neuen Buch.
Ausgehebelte Demokratie
Mit ihrem Werk «Empire. Die neue Weltordnung» (2000) wurden die beiden zu Starintellektuellen der Linken. Seither sind sie immer den neusten Entwicklungen auf der Spur, jederzeit für süffige Beschreibungen und handliche Begriffe gut. Jetzt wollen sie die Idee der Demokratie den rechten IdeologInnen entreissen, die sie zur Verschleierung der wahren Machtverhältnisse benutzen.
Die Kritik an der Aushöhlung der Demokratie läuft seit zehn Jahren unter dem Stichwort «Postdemokratie», das der englische Politologe Colin Crouch geprägt hat. Ausgehebelt werden die demokratischen Verfahren sowohl durch die Kapitalmacht wie die Technokratie, alles noch verschärft durch die Finanzmarktkrise seit 2008. Negri und Hardt systematisieren das mit rhetorischem Aplomb. «Verschuldete», «Verwahrte», «Vertretene» und «Vernetzte»: Damit werden die vier Opfer der kapitalistischen Apokalypse benannt, die sie in ihrem neusten Büchlein beschwören. Drei der vier Opfer sind einschlägig bekannt. Die aktuelle Finanzmarktkrise hat die Verschuldung und die SchuldnerIn unübersehbar gemacht. In den westlichen Ländern nimmt die Zahl der «Verwahrten» und Entmündigten ständig zu. Mit dem Begriff der «Vertretenen» ist spezifisch die Krise der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie gemeint. Überraschender ist einzig, dass die Autoren die neuen sozialen Medien eher kritisch beurteilen, als Netz, in dem wir uns selbst fangen, als Überforderung sozialer Beziehungen, jederzeit kontrollier- und überwachbar.
Negris und Hardts ursprüngliche Entdeckung war die «Multitude». Damit bezeichneten sie die Tatsache, dass es kein einheitliches Subjekt der politischen Umwälzung mehr gibt wie einst die Arbeiterbewegung, sondern dieses sich in zahlreiche disparate soziale Bewegungen aufgelöst hat. Die «Multitude» ist also die Vielheit der Rebellischen. Das war als analytische Kategorie von Beginn an leicht dubios; mittlerweile ist es zum Sesam-öffne-dich geworden. Zur «Multitude» gehört alles, was sich bewegt. Da sind Arabischer Frühling und Occupy und Indignados als Illustration für die These gerade recht gekommen.
Einerseits meinen Hardt und Negri optimistisch: «Von nun an wird es jedes Jahr einen meteorologischen und einen politischen Frühling geben.» In ihrer Beschreibung dieser neuen Demokratiebewegungen und ihrer Kraft und Fantasie fühlt man sich gelegentlich in eine Märchenstunde versetzt. Andererseits billigen sie diesen Bewegungen vorsichtigerweise eine «Autonomie» ihrer Kraft und eine eigene «Geschwindigkeit». Im Frühling, als ihr letztes Jahr geschriebenes Buch auf Deutsch erschien, wirkte es eher zynisch, den in den Untergrund gedrängten Aufständischen in Kairo ihre eigene Geschwindigkeit zuzubilligen. Mittlerweile sind neue Protestbewegungen in der Türkei, in Brasilien, in Bulgarien aktiv geworden, und in Kairo hat die Opposition ihre Sprache und Durchsetzungskraft wieder gefunden.
Dass Hardt und Negri damit wieder ins Recht gesetzt werden, ist aber eher ihren alles abdeckenden Aussagen denn ihrer prophetischen Gabe geschuldet. Das Verhältnis oder auch der Widerspruch, von sozialen und politischen Motiven, von unterschiedlichen Klasseninteressen, von Mittel- und Unterschicht, von religiösem Fundamentalismus und säkularem Liberalismus, der in den gegenwärtigen Bewegungen sichtbar wird, kommt kaum zur Sprache. Eine Massenbewegung, die einen massenhaft gewählten Präsidenten mithilfe des Militärs und des reichsten Manns im Land stürzt: Solche komplexen Konstellationen wie in Ägypten liegen jenseits dieser gloriosen Erzählungen.
«Demokratie als das Recht, zu kaufen»
Gegen die überholte repräsentative Demokratie propagieren Hardt und Negri, wie schon in ihrem vorletzten Buch, den Begriff «Commons», die Gemeingüter. Also die gemeinsame Verwaltung von lebensnotwendigen Gütern wie Wasser. Oder Banken. Oder Bildung. Zusätzlich schlagen sie auf dieser Grundlage einen neuen weltweiten Verfassungsprozess vor. Das tönt erstaunlich pragmatisch und einleuchtend. Es geht also um «die Schaffung von Mechanismen, die allen in gleicher Weise den Zugang zum gemeinsamen Wohlstand eröffnen und die Beteiligung an der Produktion ermöglichen». Ja, schön und gut. Doch sobald man neugierig wird, hört das entsprechende Kapitel auf.
Das Ausrufezeichen, das die deutsche Ausgabe im Titel nach der Demokratie setzt, ist nicht nur der Emphase der Autoren geschuldet. Damit wird offenbar auch auf einen Band reagiert, der deutschsprachig kurz zuvor erschienen ist und das gleiche Wort «Demokratie» mit einem Fragezeichen versehen hat. In diesem Sammelband tummeln sich ein paar bekannte linke TheoretikerInnen: Giorgio Agamben, Alain Badiou, Wendy Brown, Jacques Rancière, Slavoj Zizek.
In seiner Einleitung benennt Agamben die Doppelbedeutung der Demokratie: Sie ist einerseits eine Regierungstechnik mit bestimmten Verfahren und zugleich eine Verfassung des Gemeinwesens, eine Gesellschaftsform, die wiederum Macht legitimiert. In verschiedenen Beiträgen wird darauf hingewiesen, wie Demokratie als Gesellschaftsform zum «unhinterfragbaren Wahrzeichen» (Badiou) geworden sei, und dies zu einer Zeit, als die Demokratie als Regierungstechnik in der Form des Sozialstaats zunehmend zerschlagen wurde. Einig sind sich alle AutorInnen in der Kritik der repräsentativen Demokratie, die nur eine «Demokratie als das Recht, zu kaufen» sei (Kristin Ross) oder eine «Form der Oligarchie» darstelle (Zizek). Dagegen setzen sie eine «permanente demokratische Revolution», ständig in Bewegung, ständig die Grenzen demokratischer Teilhabe verschiebend und erweiternd. Ja, gut und schön. Aber dann kokettiert Zizek in seiner unnachahmlichen Art mit den Begriffen des «terroristischen Potentials» der Volksdemokratie und einer «göttlichen Gewalt», und Daniel Bensaïd formuliert, man müsse «die Gleichheit der Bewährungsprobe der Freiheit unterwerfen».
Die «Beziehungsgleichheit»
Gerade diese Unterordnung der Gleichheit unter die Freiheit als Hauptkennzeichen der Demokratie bestreitet der französische Politologieprofessor Pierre Rosanvallon. Sein neustes Buch rückt – gegen jeden modischen Trend – schon im Titel die Gleichheit in den Vordergrund: «Die Gesellschaft der Gleichen». Rosanvallon arbeitet vorerst am historischen Material heraus, wie bei den Aufklärern, insbesondere bei Jean-Jacques Rousseau, und in der Französischen Revolution Gleichheit selbstverständlich mit Freiheit gekoppelt war. Der Kampf um die Freiheit und die demokratische Teilhabe war einer gegen alle Privilegien und damit gegen jede Ungleichheit. Dieses Verständnis wurde im 19. Jahrhundert vorerst verdrängt, kehrte im 20. Jahrhundert in reduzierter Form als «Verteilungsstaat» wieder und ist mit dem Neoliberalismus zerstört worden.
Gleichheit wird zumeist als Gleichmacherei diffamiert. Tatsächlich steht sie in einem prekären Verhältnis zu Unterschiedlichkeit und Individualität. «Wie kann man ähnlich und einzigartig, gleich und verschieden, gleich in der einen und ungleich in anderer Beziehung sein? Das sind die Fragen unserer Zeit. Von ihnen hängt die Zukunft der Demokratien ab», formuliert Pierre Rosanvallon und diskutiert das theoretisch wie auch an praktischen Beispielen.
So kritisiert er das Konzept der «Chancengleichheit», das auch von links zuweilen ins Feld geführt wird. Denn es geht nicht nur um gleiche Ausgangsbedingungen, sondern um gleiche «Verwirklichungschancen». Statt Gleichheit abstrakt zu denken, betont er eine dynamische und unmittelbare «Beziehungsgleichheit». Sie ist durch drei Punkte charakterisiert: Singularität, Reziprozität, Kommunalität.
Was abstrakt tönt, veranschaulicht Rosanvallon in der Folge: Mit der Singularität anerkennt er eine aktuelle Form im seit der Aufklärung andauernden Prozess der Individualisierung. Die Einzelnen wollen sich in ihrer Besonderheit verwirklichen. Das wird vom Neoliberalismus in Dienst genommen, in der flexibilisierten Ich-AG, aber es ist als historisches Resultat und als entsprechendes Bedürfnis nicht mehr rückgängig zu machen.
Allerdings vollzieht sich die Singularität nur in der Beziehung mit anderen: in der Reziprozität, der Wechselwirkung. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Tier. Dazu gibt es einen anthropologischen Sachverhalt: Das Auge stellt eine direkte und intime Beziehung zwischen Menschen her, wie Rosanvallon den Soziologen Georg Simmel zitiert. Übrigens hat der Paläoanthropologe Chris Stinger darauf hingewiesen, dass sich schon die biologische Ausstattung des menschlichen Auges von der anderer Primaten unterscheidet und durch die sich klar von der Iris abhebende Pupille die soziale Interaktion erleichtert.
Aus der Reziprozität entsteht die Kommunalität. Hier trifft sich Rosanvallon mit Hardt und Negri und anderen TheoretikerInnen. Ja, «Commons» und «Common Goods», das Gemeinsame und die Gemeingüter, sind die Schlagworte der Stunde. Doch können sie nicht einfach als neuer Universalschlüssel gebraucht werden. Rosanvallon zeigt vielmehr die Notwendigkeit, an komplexen Zusammenhängen festzuhalten. So müssen wir als Gesellschaft entscheiden, in welchen Bereichen Gleichheit wichtiger ist als in anderen. Er erläutert das am historischen Beispiel des Frauenstimmrechts und am aktuellen der Steuerpolitik.
Die Theorie versucht zu verstehen, was sich vollzieht. Um womöglich bei einer Verbesserung mitzuhelfen. Denken ist Probehandeln: Was wäre, wenn? Rosanvallons Buch liefert dazu hilfreiche Kriterien und anschauliche Beispiele.
Pierre Rosanvallon: Die Gesellschaft der Gleichen. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt. Hamburger Edition. Hamburg 2013. 384 Seiten. Fr. 47.90
Michael Hardt und Antonio Negri: Demokratie! Wofür wir kämpfen. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Campus Verlag. Frankfurt am Main 2013. 126 Seiten. Fr. 19.50
Giorgio Agamben (u. a.): Demokratie? Eine Debatte. Aus dem Französischen von Tilman Vogt, Claudio Gutteck und Cornelia Möser und aus dem Englischen von Frank Born. Edition Suhrkamp 2611. Berlin 2012. 140 Seiten. Fr. 20.90