USA: Die Besetzung der Wall Street

Nr. 38 –

In New York nehmen Hunderte DemonstrantInnen seit Tagen einen öffentlichen Platz im Finanzdistrikt in Beschlag. Sie wollen nicht weichen, bis sich etwas an der sozialen Lage ändert. Zumindest die Aufmerksamkeit der Medien hat die bunte Schar bis jetzt erreicht.

Als Erfolg dürfen die DemonstrantInnen, die seit Samstag in New York gegen die Gier der Gross­un­ter­neh­men protestieren, ihre Veranstaltung bereits werten. Zwar sind weder der Kapitalismus noch die Verfilzung von Konzernen und Politik abgeschafft, aber immerhin berichten die Massenmedien über die Demonstration, die seit vier Tagen unter dem Motto «Besetzt die Wall Street!» im Börsenbezirk von New York für Furore sorgt. Vornehmlich junge Menschen verbringen die Nächte unter freiem Himmel mit dem hochgesteckten Ziel, dem Regime des reinen Gewinnstrebens ein Ende zu setzen.

Eine Revolution soll es werden, ähnlich wie die der «Brüder und Schwestern in den arabischen Ländern», hiess es im Aufruf, der vor allem online und über Twitter unter «#OccupyWallStreet» verbreitet wurde. Mit 20 000 Personen wollte man in die Wall Street einfallen und bleiben – so lange, bis die 99 Prozent der verhältnismässig armen US-AmerikanerInnen erhalten, was 1 Prozent der Superreichen hortet.

Tahrirplatz, Manhattan

So gross wurde der Protest dann nicht. Etwas über tausend Menschen nahmen am Samstagnachmittag am Umzug mit Plakaten und Sprechchören teil, erwartet von einem imposanten Polizeiaufgebot im abgesperrten Finanzdistrikt. Zu Fuss und auf Motorrädern geleiteten die PolizistInnen die friedlich Demonstrierenden durch den verwinkelten Bezirk und verliehen durch ihre Präsenz dem Umzug eine grössere Bedeutung, als dem farbigen Haufen ansonsten zugekommen wäre. Mit Schildern wie «Kapitalismus hat Amerika zerstört» zog der Umzug unter den Blicken fotografierender TouristInnen am streng bewachten Bronzebullen vorbei, der Symbolskulptur der New Yorker Börse.

Auf einem Balkon des vornehmen Restaurants Cipriani blickten Frauen und Männer in teurer Kleidung und mit Champagnergläsern spöttisch auf die aufgebrachte Menge. Mit dem lauten Slogan «Zahlt euren Anteil» wurden sie, gegen die sich der Protest richtet, ins Innere des Gebäudes vertrieben.

Ein paar Hundert fanden den Mut, sich für länger auf dem Zucotti-Platz nahe der Wall Street einzurichten. Schnell gaben sie der Freifläche ihren früheren Namen «Liberty Plaza», Freiheitsplatz, zurück. Er dient nun als Zentrale und soll zu New Yorks Tahrirplatz werden.

Hier werden die «Vollversammlungen» abgehalten, die täglich mehrfach einberufen werden können. Die Demonstrierenden kennen kein Führungsgremium, und die Versammlungen werden jedes Mal von jemand anderem geleitet. Laut Chris, einem grossen, schwarzhaarigen jungen Mann, der seit Beginn der Proteste hier ist, funktioniert das ziemlich gut. Die Entscheidungen würden meist im Konsens gefällt; wer nicht einverstanden sei, könne dies mit hochgestreckten, gekreuzten Armen kundtun und Bedenken äussern. Um einen Beschluss zu fassen, müssen mindestens neunzig Prozent der Anwesenden zustimmen.

Mit einer Stimme sprechen

AnführerInnen der Bewegung haben sich laut dem jungen Aktivisten noch nicht her­aus­kris­tal­li­siert. Ziel sei es, mit einer Stimme zu sprechen. Der Mann aus Boston ist bereit, lange auszuharren. «Ich habe für eine Nonprofitorganisation gearbeitet und etwas Geld gespart, um ein paar Monate freizunehmen», sagt er und zeigt auf seinen Rucksack: «Da drin ist alles, was ich die nächsten drei Monate brauche.» Auch sein Kollege Sam gibt sich überzeugt: «Wir bleiben hier, bis sich etwas ändert.»

Eine Frau namens Irene ruft an einer Ecke des Platzes PassantInnen dazu auf, sich der Bewegung anzuschliessen. «Das letzte Mal, als deine Stimme zählte, war bei ‹American Idol›», sagt sie mit dem Verweis auf eine US-Talentshow. Sie ernte viele positive Reaktionen von den Leuten – und dann und wann auch von PolizistInnen. «Sie haben ja recht», sagt Officer Baserap, der an einer Abschrankung Dienst tut. Dann gähnt er. «Aber ohne Leitung wird das nichts.»

Nach vier Tagen ununterbrochenen Protests herrscht auf der Liberty Plaza Optimismus. Online erhalten die AktivistInnen immer mehr Unterstützung: Am Sonntag wurden 6000 Dollar für Nahrungsmittel gespendet. Eine Pizzeria nimmt für die DemonstrantInnen Bestellungen aus aller Welt entgegen. Für die Pizzakartons findet man bestens Verwendung. Sie dienen als Unterlage für Slogans. Die Schilder bedecken nun schon gut ein Viertel des Platzes. «Verspielt unsere Zukunft nicht!» und «Kein Krieg – ausser dem Klassenkampf!» steht darauf. Fast scheint es, als ob Präsident Barack Obama die neuen Stimmen aus New York gehört habe: Er präsentierte am Montag einen Plan, die Steuern für Reiche zu erhöhen, und wehrte die Kritik der RepublikanerInnen mit den Worten ab: «Es handelt sich nicht um einen Klassenkampf – bloss um Mathematik.»

www.occupywallst.org

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