Flüchtlingsdrama: Lampedusa in Flammen

Nr. 39 –

Nach dem Brand des Lagers befinden sich auf der Insel keine Flüchtlinge mehr. Dafür werden sie auf Fähren in Palermo gefangen gehalten.


Die Eskalation zeichnete sich ab, seit Tagen: Einmal mehr war das Flüchtlingslager auf der italienischen Insel Lampedusa hoffnungslos überfüllt: Für 850 Menschen boten die Baracken Platz, 1300 waren zuletzt darin untergebracht, einige seit Wochen. Wiederholt kam es im scharf bewachten Lager zu Protesten. Dann, am Dienstag letzter Woche: Rauchwolken steigen aus dem Talkessel hinter der Stadt. Ein Brand, der in der Küche ausgebrochen ist, zerstört einen Grossteil des Lagers. Die Carabinieri müssen die Tore öffnen, viele Tunesier nutzen die Gelegenheit zur Flucht.

Darauf kam es am Hafen zu Gewalttätigkeiten, die der Fotograf Alessio Genovese auf dem Blog «Fortress Europe» beschreibt: «Es herrschte Nervosität.» Einige der 5000 BewohnerInnen der Insel beschimpften die Flüchtlinge und forderten die Polizei zum Durchgreifen auf. Die Migranten, die sich bei einer Tankstelle aufhielten, malten Transparente, auf denen «Freedom» stand oder «Scusa, Lampedusa». Am nächsten Morgen wurden sie von Einwohnern mit Steinen beworfen. Die Flüchtlinge drohten, Gasbehälter anzuzünden. Die Migranten wurden von der Polizei, die Helme und Schutzschilde trug, niedergeknüppelt. «Die Gewalt war unbeschreiblich», so Genovese. Um den Stockschlägen zu entkommen, stürzten sich die Flüchtlinge eine drei Meter hohe Mauer hinunter. Es gab Dutzende Verletzte.

Die Gefangenenschiffe

«Wir sind im Krieg», gab Bürgermeister Bernadino de Rubeis den Medien zu Protokoll. «Das Auffanglager Lampedusa existiert nicht mehr. Wir können keinen einzigen Flüchtling mehr aufnehmen.» Das Innenministerium unter Roberto Maroni von der Lega Nord kündigte darauf eine «Befreiung» der Insel innert 48 Stunden an: Man werde alle Flüchtlinge ausschaffen. Die Polizei nahm vier Tunesier fest, die für den Brand verantwortlich sein sollen.

«Die Insel ist komplett leer geräumt», berichtet Judith Gleitze der WOZ. Gleitze beobachtet für die Menschenrechtsgruppe Borderline Europe von Palermo aus die Migration übers Mittelmeer. Mit mehreren Flugzeugen der italienischen Luftwaffe und drei Passagierfähren wurden die Flüchtlinge weggeschafft: Die «Moby Fantasy» brachte 220 Personen nach Sardinien, die «Moby Vincent» und die «Audacia» 350 nach Palermo. «Die Verhältnisse sind unhaltbar», sagt Gleitze. «Die Flüchtlinge können nicht in die Kajüten, sondern werden in den Salons festgehalten. Ab und zu dürfen sie zum Rauchen auf die Brücke.» Die Gefangenen halten Schilder an die Fenster, auf denen «Liberta» steht. Täglich finden im Hafen Sit-ins gegen die Freiheitsberaubung statt.

Fünfzig Tunesier wurden mit Kabelbindern gefesselt und ausgeschafft. Italien hat kürzlich mit Tunesiens Übergangsregierung ein neues Abkommen zur Migrationsabwehr geschlossen. Gleitze erzählt, dass in Lampedusa keine Flüchtlinge mehr aufgenommen werden: Eine neu ankommende Barke wurde von der italienischen Küstenwache nach Porto Empedocle auf Sizilien eskortiert. Auch die «Moby Vincent» wurde am Dienstag dorthin gebracht.

Transitroute gesperrt

Seit Anfang des Jahres kamen mehr als 50 000 Flüchtlinge aus Nordafrika in Europa an, die meisten über Lampedusa. Wegen der Instabilität nach dem arabischen Frühling immer wieder aus Tunesien, bis zum Fall von Tripolis Ende August auch aus der Subsahara. Dass diese seit einem Monat ausbleiben, ist laut dem Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) nicht unbedingt ein gutes Zeichen: Als vermeintliche Gaddafi-Getreue werden sie angeblich an unbekannte Orte geschafft.

Die Eskalation zeichnete sich ab, seit Monaten: Europa schob seine Migrationspolitik nach Italien ab, Italien nach Lampedusa. Dort ging sie jetzt in Flammen und Gewalt auf, in einem «Krieg». Was es politisch bedeuten wird, dass die Transitroute vorläufig gesperrt ist, wird sich weisen. Für die Boatpeople wird die gefährliche Reise auf alle Fälle noch riskanter: Von Tunesien nach Lampedusa sind es 130, direkt nach Sizilien auf dem kürzesten Weg 145 Kilometer. Im Kanal von Sizilien haben seit Anfang dieses Jahres 1674 Menschen ihr Leben verloren.