Pitchou Kitima: «Elf Jahre in der Schweiz – und dann das!»

Nr. 39 –

Schon vor dem Kinostart hat der Dokumentarfilm «Vol spécial» über den Alltag im Ausschaffungsgefängnis in Frambois für Aufsehen gesorgt. Zu Besuch bei Pitchou Kitima, einem der «Vol spécial»-Protagonisten.


Das Wohnzimmer ist hell, die Balkontüre offen. Pitchou Kitima sitzt auf einem grossen roten Sofa, sein zweijähriger Sohn Christ-Vie hüpft quietschend neben ihm auf und ab. Über dem Sofa hängt Marc Chagalls Bild «Le violoniste au monde renversé» – «Der Geiger der verkehrten Welt» –, daneben Fotos von Pitchou Kitima, seiner Frau Merveille und von Christ-Vie. «Die verkehrte Welt», die hat Kitima hier in der Schweiz kennengelernt.

Wie diese Welt aussieht, ist ab heute Donnerstag im Kino zu sehen: Kitima ist einer der Protagonisten von «Vol spécial», dem Dokumentarfilm von Fernand Melgar über den Alltag im Ausschaffungsgefängnis in Frambois (siehe WOZ 32/11): Junge Männer, die in die Schweiz kamen, um Asyl zu erhalten, warten hier auf ihre Ausschaffung. Unter ihnen ist auch der 36-jährige Kitima. Eines Tages bekommt er Bescheid: Sein Ausschaffungsflug zurück in den Kongo sei gebucht. Dass Kitima heute mit seiner Frau und seinem Kind in seiner eigenen Wohnung in Aigle im Kanton Waadt lebt, hätte er sich damals kaum träumen lassen.

Vom Kunstmaler zum Coiffeur

«Das Schwierigste in Frambois ist, dass du dort bist, um abzureisen. Die Bedrohung eines Spezialflugs, mit dem du, allenfalls mit Gewalt, in deine Heimat zurückgebracht wirst, schwebt täglich über dir», sagt Kitima, nachdem er seinen Sohn zur Mutter in ein anderes Zimmer gebracht hat: «Dies sind Dinge, die ein so kleines Kind nicht hören soll.»

Christ-Vie war einen Monat alt, als Kitima im Oktober 2009 Besuch von der Kantonspolizei bekam. Routinekontrolle, hiess es. Kitima kam ins kantonale Gefängnis La Blécherette, in einer Zelle wartete er auf den Richter. Dieser urteilte noch am selben Tag: Verlegung ins Ausschaffungsgefängnis Frambois. Der Rekurs, den Kitima auf seinen abgewiesenen Asylentscheid eingegeben hatte, war vor längerer Zeit abgelehnt worden.

«Elf Jahre habe ich hier in der Schweiz gelebt. Ich hatte stets eine feste Adresse, habe – wann immer ich konnte – gearbeitet, Steuern, AHV und Krankenkasse bezahlt. Und dann das! Nach elf Jahren», sagt Kitima. «Plötzlich sitzt du im Gefängnis. Du hast keine Freiheit mehr, kannst nicht hinausgehen, wenn du möchtest. Und fragst dich die ganze Zeit, ob die Geschichte gut oder schlecht ausgeht.»

Im Film beginnt Kitimas Geschichte in Frambois, in der Realität fängt sie in der Demokratischen Republik Kongo an. Ende der neunziger Jahre ist Kitima Student an der Kunstakademie in Kinshasa. «Eigentlich bin ich Kunstmaler», sagt er und führt uns in die Küche, wo von ihm gezeichnete Porträts hängen. «Aber leider male ich heute kaum noch.»

Kongo, damals noch Zaire, wird von Mobutu Sese Seko regiert. Gemeinsam mit Studienfreunden geht Kitima auf Demonstrationen, fordert nach dem Tod des Diktators die Wiederherstellung der Demokratie. Als Laurent Kabilas Rebellen die Macht übernehmen, flieht Kitima nach Europa. Allzu viel mag der eigentlich recht gesprächige Mann nicht über seine Flucht erzählen. 1998 kommt er in Genf an, stellt ein Asylgesuch und wird dem Kanton Waadt zugeteilt. Hier erlebt er dasselbe wie tausend andere Flüchtlinge: Er lebt in einer Asylunterkunft, erhält den Ausweis N – eine Bestätigung, dass er in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt hat und auf eine definitive Antwort der Behörden wartet. Er bekommt einen negativen Entscheid, legt Rekurs ein, wartet. Zwischen 2004 und 2005 arbeitet er als Coiffeur, dann wird ihm die Arbeitsbewilligung entzogen und 2008 auch sein Ausweis N, da sein Rekurs abgelehnt worden war. Fortan lebt er von der Nothilfe – 9.50 Franken pro Tag. Im Oktober 2009 landet er in Frambois.

Der Fax, der alles änderte

Als er die Nachricht seines bevorstehenden Ausschaffungsflugs erhält, reagiert er wütend. «Eines Tages ist die Welt eine andere», droht er dem Beamten vor laufender Kamera, «dann werdet ihr unten sein und wir oben.»

Ja, er sei sehr wütend gewesen in diesem Moment, sagt Kitima eineinhalb Jahre nach den Aufnahmen. Er ist viel kleiner, als er im Film wirkt, und fröhlicher, doch genauso energisch und stark. Seine Augen blitzen hinter der schwarz umrandeten Brille: «Ich war in dieser Situation völlig hilflos und fühlte mich nicht mehr als Mensch ernst genommen.» Natürlich habe er die Möglichkeit der Ausschaffung im Kopf durchgespielt und sich mental darauf vorbereitet, was es heissen würde, nach elf Jahren und ohne seine Familie wieder zurück in den Kongo zu gehen. Trotzdem: «Es war ein Riesenschock. Denn diese Ausschaffungen sind manchmal sehr brutal. Als ein Kollege bei der Ausschaffung starb, musste ich immer wieder denken, dass das auch ich hätte sein können!»

Kitima hat Glück: Am 2. März 2010, einen Tag vor der geplanten Zwangsausschaffung, wendet sich sein Schicksal: «Das war der Tag, an dem das Wunder geschah! Ich hatte Gebete gesprochen mit meinen Freunden, um Gott zu bitten, dass alles gut komme. Da kommt die Direktorin zu mir und fragt, ob ich zwei Minuten Zeit hätte. Sie zeigt mir einen Fax, und darauf steht: Sofortige Freilassung. In diesem Moment spürte ich am eigenen Körper, dass es einen Gott gibt, der Leute in schwierigen Situationen rettet.»

Da Kitima Kind und Frau hat, wird er vom Bund als Härtefall behandelt und darf nicht ausgewiesen werden. Im Film endet Kitimas Geschichte hier. Er schüttelt seinen Freunden aus Frambois die Hände, verabschiedet sich und verlässt strahlend das Gefängnis.

«Ein Film ist ein Film», wägt Kitima ab, «der Regisseur kann aus dem Material machen, was er will. Doch wenn du jeden Tag in Frambois bist, ist es anders. Die Leute dort sind nicht immer lustig und lachen. Jeder von uns war in seinem Schmerz, in seinen Sorgen, in seiner Angst. Jeder hatte seine eigene Art, damit umzugehen. Es gab Tage, an denen ich nicht aus meinem Zimmer kam.»

Das Privatleben auf der Leinwand

Der Film gefalle ihm trotzdem und habe an der Premiere in Locarno in ihm heftige Emotionen ausgelöst. «Es ist schon speziell, mein eigenes Privatleben auf der Leinwand zu sehen.» Auch zu sehen, wie es seinen Kollegen nach seiner Freilassung ergangen sei, habe ihn sehr berührt.

Heute hat Kitima den Ausweis F. Obwohl sein Asylgesuch abgelehnt wurde, hat er das Recht auf einen legalen Aufenthalt in der Schweiz, da seine Ausweisung aufgrund seiner Familiensituation nicht zulässig ist. Auch seine Frau Merveille, die ebenfalls aus dem Kongo stammt, hat den F-Status erhalten. Seit einem halben Jahr lebt die Familie in einer Wohnung in Aigle, Kitima macht eine Ausbildung als Krankenpfleger in Lausanne. Seine Zukunft sieht er, der sich «citoyen du monde» nennt, in der Schweiz, die ihm in den vergangenen dreizehn Jahren zur Heimat geworden ist: «Ich habe ein Kind, das hier geboren ist, hier sozialisiert wird, hier zur Schule gehen wird. Es wird Afrika und den Kongo nur noch durch den Fernseher, das Internet und durch uns kennen – das ist die Realität.»

Beim Spaziergang durchs Quartier, in dem überall neue, zum Teil noch leer stehende Mehrfamilienhäuser gebaut wurden, hübsche Spielplätze und einzelne Grünflächen dazwischen, sagt Pitchou Kitima: «Hier, wenn man die Berge so sieht, da spürt man richtig, dass man in der Schweiz lebt. Die Leute in Lausanne vergessen das manchmal, weil sie vor lauter Häusern die Berge nicht mehr sehen.»


Glück im Unglück

Nicht alle Protagonisten aus Fernand Melgars «Vol spécial» haben das Glück, das Pitchou Kitima hatte. Geodry, ein 26-jähriger Kameruner und Sohn eines ermordeten Oppositionschefs, wurde nach seiner Ausschaffung in Yaoundé, der Hauptstadt Kameruns verhaftet. Nach fünf Monaten hinter Gittern lebt er versteckt in Yaoundé.

Andere hatten Glück im Unglück: «Alle Protagonisten, die am Ende des Films noch in Frambois waren und die dem Kanton Waadt zugeteilt waren, sind noch in der Schweiz», sagt Graziella de Coulon von der Coordination Asile Vaud. Nachdem die Spezialflüge nach dem Tod des Nigerianers Joseph Ndukaku Chiakwa am 17. März 2010 für einige Zeit eingestellt worden waren, schrieb sie in Frambois mit den Häftlingen einen ganzen Tag Briefe an den Richter. Denn: Wenn es keine Spezialflüge gibt, können die Häftlinge freigelassen werden.

Ihr gefalle der Film, sagt de Coulon, die selbst kurz darin vorkommt, sie habe eine einzige Kritik: «Der Film vermittelt den Eindruck, dass es kein Entrinnen aus Frambois gibt. Wir haben aber schon viele Leute aus Frambois befreien können.»

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