Wahlen 2011: Auf Mystery Tour

Nr. 39 –

Ein Wahlbus fährt kreuz und quer durch Graubünden, in einem Oltener Gewölbekeller wird ein fortschrittliches Manifest verlesen, und im Bundeshaus mehren sich die Stimmen, die glauben, am 23. Oktober liegt etwas drin für die Linke.


Dieses Wahlmobil hat es in sich: Das rote Bügelbrett – praktisch zum Unterschriftensammeln – ist im Kofferraum des silbergrauen Mercedes verstaut, der Grill kann über eine ausklappbare Rampe hinausgerollt werden. Tische und Bänke für die Festwirtschaft sind auf dem Dachträger festgezurrt. Überall im Bus finden sich Verzierungen: Eine kleine Blumenvase, ein Foto der Rhätischen Bahn, eine Schlagerplatte mit dem Titel «Du bist nicht allein». Jon Pult, der Präsident der SP Graubünden, sagt: «Es ist wie auf der Magical Mystery Tour.» Der gleichnamige Film der Beatles handelt von einer psychedelischen Busreise. Der erste Halt an diesem Samstag ist der Parkplatz vor dem Coop in Schiers.

«Roll up for the mystery tour», wie es im Titelsong des Films heisst: Im September häuften sich die Anzeichen, dass etwas vor sich geht bei der Linken. Zeit für eine Schweizreise durch den Wahlkampf. Ohne klaren Fahrplan, einfach der Bewegung nach: mit dem Wahlmobil durchs Prättigau. Auf eine Wanderung von Aarau nach Olten, wo der Tag der fortschrittlichen Schweiz gefeiert wird. Und schliesslich während der letzten Session ins Bundeshaus, um sich unter den PolitikerInnen umzuhören.

«Roll up, roll up for the mystery tour»: Zwar blieb die Reise durchaus rätselhaft, liessen sich auf viele Fragen nur offene Antworten finden. Aber die Indizien, dass für die Linke bei diesen Wahlen etwas drinliegt, verdichteten sich. Und vielleicht muss man dieses Gefühl des Aufbruchs auch einmal betonen, statt nur immer über die SVP-Plakate zu jammern. Für die gute Laune sowieso. Die Bewegung zeigt sich vor allem darin, dass die Linke wieder Position bezieht. Darüber hinaus wird auch wieder diskutiert, was Politik grundsätzlich ist.

«Zwei Industriedesignstudenten aus Zürich haben den Bus umgebaut», erklärt Gewerkschafter Peter Peyer in Schiers. «Das war günstig, und wir konnten damit etwas Entwicklungshilfe in Zürich leisten.» Mit dem Wahlmobil sind die fünf SP-KandidatInnen unterwegs, die um die Nachfolge von Andrea Hämmerle im Nationalrat wetteifern: Neben Pult und Peyer treten Silva Semadeni, die Pro-Natura-Präsidentin, Andreas Thöny, ein Lehrer, und Beatrice Baselgia, die Gemeindepräsidentin von Domat-Ems, an. Peyer meint, wer wenig Geld habe im Wahlkampf, müsse sich eben mehr Zeit nehmen. «Mit dem Wahlbus fahren wir in jede Haupttalschaft.» In der Festwirtschaft werden rote Flimser-Würste gebraten, dazu gibt es Unterengadiner Biobier. Die Stimmung in der Reisegruppe wirkt kollegial. «Wir haben nur zusammen eine Chance.»

Die besten Chancen, Hämmerle nachzufolgen, werden Jon Pult und Silva Semadeni zugeschrieben. Semadeni sass bereits von 1995 bis 1999 im Nationalrat und wäre die einzige Frau in der Bündner Abordnung. In Schiers sammelt sie Unterschriften für einen Ausstieg der Repower AG aus Kohlekraftwerken in Deutschland und Italien. Das Energieunternehmen gehört zur Hälfte dem Kanton Graubünden. «Ein konkretes Anliegen ist die beste Gelegenheit, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen», sagt Semadeni. Vor wenigen Jahren sei der Wahlkampf noch einfacher gewesen: Die Leute sind zahlreicher an Veranstaltungen gekommen, heute bilden sie sich ihre Meinung stärker über die Medien.

In der Festwirtschaft bleibt man unter sich. Immerhin, die eigenen Leute kommen. Christoph Jaag ist hier, seit zwei Jahren Gemeindepräsident von Schiers. Der SP-Mann tut, als sei diese Wahl nichts Besonderes gewesen. Pult mischt sich ein: «Diese Wahl war historisch im bürgerlich dominierten Prättigau.» Vielleicht ist es gerade diese direkte Art, die Pult beliebt macht: sagen, was Sache ist, ohne jovial zu wirken.

Ein Gespräch mit dem Gemeindepräsidenten zeigt, was die Probleme des Ortes sind und dass Schiers überall in der Schweiz liegen könnte. Jede halbe Stunde fahren von hier Züge nach Landquart und Davos. Die Raumplanung ist ein vordringliches Thema – ein Industrieareal soll verdichtet überbaut werden. Auch über das Thema Integration muss gesprochen werden. «Man hat vor allem in die technische Infrastruktur im Dorf investiert und die sozialen Beziehungen vernachlässigt», sagt Jaag.

Am Mittag wird die Beiz wieder in den Bus verladen. Auf der Fahrt werden die Wahlchancen analysiert. Peyer, der den Bus lenkt, ist optimistisch: «Ich habe ein gutes Gefühl wie schon lange nicht mehr. Die klare Positionierung der Partei kommt an. Die Leute wissen, wo wir stehen. Als Sozi ist man in ländlichen Regionen schnell abgestempelt. Diesmal scheint es nicht mehr pfui zu sein, SP zu wählen.» Dank einer Listenverbindung mit den Grünliberalen liegt sogar ein zweiter Sitz in Reichweite. Deren Spitzenkandidat ist der bekannte Unternehmer Josias Gasser, der nachhaltiges Baumaterial produziert. Die Nervosität der Bürgerlichen zeigt sich daran, dass die Wirtschaftsverbände Gasser die Unterstützung versagten: Er mache sich zum Steigbügelhalter der Linken.

Über eine Raststätte im Niemandsland geht es nach Landquart, wo die Wahlbeiz an der Bahnhofstrasse aufgestellt wird. Auch die Jusos sind dabei, sie kandidieren auf einer eigenen Liste. Flurina Bezzola ist Coiffeurin aus dem Engadin und bei den Jusos engagiert. Sie weist darauf hin, dass es nicht nur schwierig ist, die Politik zu den Leuten zu bringen, sondern dass es für die Leute auch schwierig sei, zur Politik zu kommen. «Für viele Angestellte wie mich, die oft bis spätabends oder am Samstag arbeiten müssen, ist es schlicht nicht möglich, an Sitzungen und Versammlungen teilzunehmen.»

Jon Pult steht am Grill und sagt: «Wie auch immer es herauskommt, wir haben in diesem Wahlkampf die Basis für den Neuanfang gelegt. Das kommt auch im klaren Slogan zum Ausdruck: Für alle statt für wenige.»

Der als Bündner Original bekannte Marktfahrer Socka Hitsch kommt vorbei. Pult offeriert ihm eine Flimser Wurst, und Hitsch meint: «Mit dem Listenzusammenschluss sollte etwas laufen!» Er werde ein Plakat aufhängen, an seinem Verkaufsstand unten am Autobahnzubringer.

Montag, 12. September, an der Schifflände in Aarau: Die Gäste in der Gartenbeiz blicken interessiert herüber. Was die fünfzig jungen Leute hier wohl tun um die Mittagszeit? Auch Jon Pult ist dabei, er klettert auf eine Blumenkiste: «Freundinnen und Freunde der fortschrittlichen Schweiz, ich begrüsse euch zu diesem Feiertag. Am 12. September 1848 wurde der Bundesstaat gegründet, heute feiern wir dieses Ereignis zum ersten Mal gemeinsam.» Man werde nun zu einer Wanderung aufbrechen, von Aarau, «der Hauptstadt der Helvetik, wo die Ideen der Französischen Revolution zuerst ankamen», vorbei am AKW Gösgen, «dem Symbol der anderen Schweiz», bis nach Olten, «Gründungsort der FDP, als sie noch eine seriöse Partei war, Nullpunkt des Schweizer Eisenbahnnetzes, Ausgangspunkt des Generalstreiks.»

Es geht in den Wald hinein, an die Aare hinunter, sie glitzert in der Sonne. Doch die Gespräche unter den Wandernden drehen sich weniger um die Schönheit des Spätsommers. Und auch wenn Wörter wie «Wählerprozente» und «Listenverbindungen» umherschwirren, wird nicht nur über die bevorstehenden Parlamentswahlen diskutiert, sondern darüber, wie sich die Linke in den letzten Jahren entwickelt hat.

Sebastian Dissler, Sekretär der SP Luzern, wandert mit. Bei den Kantonsratswahlen im Frühling, die zusammen mit denen in Zürich als Test für den Herbst gelten, hat seine Partei drei Sitze gewonnen. Aus dem Luzerner Volkshaus wehten rote Fahnen, es wurde bis in die Nacht gefeiert. Dissler sagt: «Ich sehe die Situation weniger negativ als auch schon. Es ist eine Aufbruchstimmung spürbar.» Wichtig sei, dass die Linke Politik als Bewegung verstehe und nicht als Verwaltung. Was ihr allerdings derzeit fehle, seien Identifikationsfiguren. Immerhin wurden im Frühling in Luzern auch junge KandidatInnen gewählt wie Ylfete Fanaj, die Präsidentin der Secondos und Secondas.

Dissler fordert eine bessere, schnellere Analyse: «Die eigene Steuergerechtigkeitsinitiative hat das Parteisekretariat in Bern verschlafen, weshalb sie von der millionenteuren Economiesuisse-Kampagne überrollt wurde.» Ist sich die SP denn einig – ist sie nicht gespalten in einen gewerkschaftsnahen und einen marktgläubigen Flügel? «Wenn schon, dann geht es um den Unterschied zwischen einer politischen und einer unpolitischen Haltung. Eine unpolitische Haltung führt zwangsläufig nach rechts.»

Die Unterscheidung zwischen politisch und unpolitisch erscheint merkwürdig, wenn von PolitikerInnen die Rede ist. Was genau bedeutet sie? «Die Partei ist sich im Zuge der Wirtschaftskrise einig geworden – ob es um Mindestlöhne, die Steuerpolitik oder den Service public geht», sagt Jon Pult. «Diese Einigkeit verstehe ich nicht als Linksruck, sondern als politische Akzentuierung. Man versteht Politik in dem Sinn, dass die Verhältnisse veränderbar sind.»

Und was ist mit dem Parteiprogramm, das zumindest in den Medien sehr umstritten war, weil es die Überwindung des Kapitalismus fordert? Für Rebekka Wyler, Zürcher Gemeinderätin und Historikerin, bedeutete das Programm keinen Bruch: «Die SP verabschiedet sich schon länger von marktgläubigen Reformen.» Entscheidend sei das Referendum im Jahr 2000 gewesen, als sich die SP mit den Gewerkschaften erfolgreich gegen die Liberalisierung des Strommarktes wehrte.

Auch Wyler spürt einen frischen Wind in der Partei: «Kürzlich kamen an unsere Veranstaltung für Neumitglieder vierzig Personen, und längst nicht nur Junge.» Neben der Wirtschaftskrise, welche die grossen Fragen aufwerfe, sieht auch sie die Gründe in der Betonung der eigenen Politik: «Nennen wir sie doch radikalen Reformismus: dass man sich nicht in leere Ideologien verstrickt, aber doch von einer erkennbaren Haltung aus politisiert.»

Nach vier Stunden endet die Wanderung im Restaurant Flügelrad in Olten: Die Schriftsteller Alex Capus und Pedro Lenz sowie der Journalist Werner De Schepper haben den leer stehenden Eisenbahnerspunten zu neuem Leben erweckt. Seit Anfang des Jahres ist das «Flügelrad» zu einem Treffpunkt von linken Gruppen aus der ganzen Schweiz geworden. Eine Treppe führt hinunter in den Gewölbekeller. Hier soll das «Manifest für eine fortschrittliche Schweiz» verlesen werden. Die Leute sitzen und stehen um einen langen Tisch herum. Es sieht ein wenig verschwörerisch aus. Manchmal klingt das Gesagte etwas pathetisch. Zwischendurch sind die Durchsagen vom nahen Bahnhof zu hören. Dann wirkt alles gerade richtig.

Jon Pult erläutert die Idee des Tages: dass die Geschichte der Schweiz erzählt werden soll, die Freiheit, Gleichheit und Solidarität brachte. Und dass der Anlass auch die nächsten Jahre durchgeführt werden solle, mit hoffentlich immer mehr TeilnehmerInnen. «Wir beginnen heute einmal.»

Die Idee für den «Tag der fortschrittlichen Schweiz» hatte der ehemalige Juso-Chef Cédric Wermuth. Er hält jetzt eine Rede über das Versprechen des 12. September 1848 in der Schweiz, aber auch über den Jahrestag, der knapp daneben liegt, den 11. September 1973 in Chile, als dieses Versprechen in Gefahr geraten sei wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr: Als die demokratische Regierung von Salvador Allende von den USA und den chilenischen Faschisten gestürzt wurde und sich danach der Neoliberalismus weltweit durchsetzte, diese «Ideologie des Eigentums». Das sei auch Ausdruck einer Schwäche der Linken, die keine emanzipatorische Kraft mehr habe, sagt Wermuth, um eine gemeinsame Sache, eine gemeinsame Schweiz zu entwickeln. Statt Grabenkämpfe zu führen, müsse sich jede und jeder einsetzen, um einen nochmaligen Rechtsrutsch zu stoppen. «Ich freue mich darauf.»

Vera Ziswiler, eine der MitautorInnen, verliest das Manifest. Gleich am Anfang wird darin betont: «Die Geschichte der fortschrittlichen Schweiz beginnt 1789 in Paris.» Und dass dieser Fortschritt immer erkämpft werden musste: 1874 und 1891 die Mittel der direkten Demokratie, 1918 die sozialpolitischen Forderungen des Generalstreiks, 1948 die Altersversicherung, 1968 der gesellschaftliche Aufbruch, 1971 das Frauenstimmrecht, 1994 der Schutz der Alpen, 2002 der Uno-Beitritt, 2005 die Gleichstellung der Geschlechter. Die Gegner der fortschrittlichen Schweiz werden im Manifest «Scheindemokraten» genannt. «Diese Scheindemokraten wollen uns einreden, dass jede und jeder auf sich allein gestellt ist und wir nur gegen-, aber nicht miteinander zum Erfolg kommen.» Die Bildung beispielsweise soll für die «Scheindemokraten» nur die Bedürfnisse des Wettbewerbs befriedigen und mit dem Vermitteln konservativer Werte die Jugend disziplinieren. Stattdessen, so endet der Text, «wollen wir eine Schweiz schaffen, in der alle einen festen Platz und einen gerechten Anteil am gemeinsam erwirtschafteten Wohlstand haben.»

Es gibt einen langen Applaus, dann Suppe und Risotto für alle. Die meisten, die ins «Flügelrad» gekommen sind, sind Mitte zwanzig. Einige von ihnen haben in den letzten vier Jahren aus der serbelnden Juso eine breite Jugendbewegung gemacht. Im Papier «Schaffen wir mehr Demokratie!» beschrieben sie eine Perspektive für die SP. Sie lieferten von der «1:12»-Initiative bis zu diesem Feiertag im Handumdrehen immer wieder neue Ideen für den sozialen Aufbruch über ihre Partei hinaus. Mit bekannten Gesichtern wie Cédric Wermuth im Aargau oder Jon Pult in Graubünden können sie sich am 23. Oktober Wahlchancen ausrechnen.

Rebekka Wyler fügt am Ende des Tages an: «Die Entwicklung ist eine tolle Erfolgsgeschichte. Abgesehen davon, dass fast nur Typen den Ton angeben.»

Dienstag, 21. September: Im Bundeshaus steht eine Sondersession zur Wirtschaftskrise an. Auch das Unterstützungspaket für den Export muss durchs Parlament. Volkswirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann tritt aus dem Saal in die Wandelhalle, die Fernsehkameras richten sich auf ihn. Auf Fragen nach der Unterstützung durch seine Fraktion lächelt er gequält.

Seit den Sommerferien wird in der Schweiz vornehmlich über die Wirtschaftskrise gesprochen, die sich in immer neuen Implosionen fortsetzt. Die SVP hat bis Ende August gemäss den Zahlen von Media Focus 3,4 Millionen Franken ausgegeben, doppelt so viel wie die FDP, zehnmal mehr als die SP, dreissigmal mehr als die Grünen. Der Blocher-Partei ist es trotz des hohen Mitteleinsatzes nicht gelungen, die angebliche Masseneinwanderung zum dominierenden Thema zu machen.

«Unsere Leute sind weniger elektrisiert. Das letzte Mal waren alle gegen uns. Das ist nicht mehr so», sagt ein SVP-Nationalrat. «In vier, spätestens in acht Jahren, wenn Blocher und die alten Zürcher Nationalräte weg sind, steht uns ein Richtungsstreit bevor.»

Die etablierten bürgerlichen Parteien FDP und CVP betreiben derweil mit dem Kampfjetkauf irritierende Kriegsspiele. Profitieren dürften GLP und BDP.

«Wenn ich an den letzten Wahlkampf denke, ist das ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht», sagt Jacqueline Fehr. «Vor vier Jahren sagten viele, wir redeten zu kompliziert, jetzt erhalte ich stattdessen auf der Strasse anerkennende und unterstützende Reaktionen.» Die Zürcher SP-Nationalrätin lässt sich auch von Privatpersonen und Berufsgruppen zu Diskussionen einladen. «Ich war gerade in einer Runde von Physiotherapeuten: Es ging um ihre berufliche Situation, die Wohnungsnot in Zürich, aber auch um die Politik der EU und von Obama.» Für Fehr ist klar, dass gerade das Parteiprogramm und das darauffolgende Bashing in den Medien die entscheidende Dynamik brachten. «Die Formel von der Überwindung des Kapitalismus meinte vor allem eines: dass man überhaupt wieder an Alternativen denkt.»

In der dritten Folge der WOZ-Wahlserie (siehe WOZ Nr. 38/11) schrieb der Philosoph Oliver Marchart über das Mantra der Alternativlosigkeit, das die Sozialdemokratie in Europa beherrsche. Vielleicht wird es hier ansatzweise durchbrochen.

«Plötzlich ergeben sich wieder Möglichkeiten. Es wird real wieder eine andere Politik gemacht», bestätigt SP-Nationalrat Paul Rechsteiner. Der Gewerkschaftschef kandidiert auch als Ständerat in St. Gallen. Er erzählt von einem Kongress zur Verteidigung der Renten mit alt Bundesrätin Ruth Dreifuss in der Vorortsgemeinde Gossau bei St. Gallen, zu dem mehr als 300 Personen kamen. Ein Flashmob für eine neue Bibliothek brachte in St. Gallen 200 Leute auf die Strasse. Im Rheintal diskutierte Rechsteiner mit 80 Leuten über die Industriegeschichte und den Neoliberalismus.

Als SP-Präsident Christian Levrat vor knapp vier Jahren sein Amt antrat, sagte er in einem Gespräch mit der WOZ, seine Partei müsse die Katakombenmentalität ablegen. Mittlerweile will er im ganzen Land eine zuversichtliche, angriffige Stimmung spüren. «Im Gegensatz zum letzten Mal hat sich die Westschweiz auch nicht vom Wahlkampf abgekoppelt.» Levrat erklärt sich den Aufbruch mit dem Zusammentreffen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umstände und der Entwicklung der Partei: «Die Wirtschafts- und Sozialpolitik ist vordringlich geworden. Und wir haben die Diskussionen vorher intern geführt.» Der Antrieb sei von den Jungen gekommen. «Doch es war kein Generationenkonflikt. Die Erneuerung geht durch alle Altersgruppen.»

Befindet sich tatsächlich die ganze Linke im Aufbruch? Oder handelt es sich vielmehr um einen Umbruch bei der SP? Ist der Optimismus ein Pfeifen im dunklen Wald? Sind die Wahlkampfparolen nur Selbstbestätigungsformeln? Hört sie auch jemand?

Bei den Grünen ist es merklich ruhiger. Der Zuger Nationalrat Jo Lang ist zwar überzeugt, dass die ungeklärte Atomfrage die Menschen mobilisiere. «Aber die Grünen stehen erst vor der internen Diskussion, die letztlich die ganze Linke betrifft: Wie kann die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit verbunden werden mit der dringend nötigen Einschränkung von Wachstum und Ressourcenverschleiss?»

Die linken Parteien sind in fast allen Kantonen Listenverbindungen eingegangen, ganz im Gegensatz zu den Rechten. Die NZZ schrieb von einem «bürgerlichen Malaise», man habe «taktisch das Handtuch geworfen». Ob es die Linke schafft, ihren tiefen Status quo zu verteidigen, ob gar Sitzgewinne drinliegen – zumindest scheint es möglich, dass die Linke am 23. Oktober ihre Baisse überwindet. «Die letzten vier Wochen des Wahlkampfs werden lang und kurz zugleich», sagt SP-Präsident Levrat.

Anzeichen, dass die Bewegung anhält, gibt es zumindest. Es werden sogar neue KandidatInnen ins Rennen geschickt: In Glarus wurde gegen BDP-Nationalrat Martin Landolt, der als politischer Berater für die UBS arbeitet, kein Gegenkandidat aufgestellt. Die Juso Glarnerland meldete deshalb letzten Freitag, dass es ihr reiche und sie ihren Präsidenten Yannik Schiess nominiere: Die Bevölkerung brauche eine Auswahl, der bezahlte UBS-Lobbyist dürfe «nicht ohne Gegenwehr ein weiteres Mal nach Bern spazieren».