Occupy Paradeplatz: Ich nenn uns mal Hanspeter Schweizer

Nr. 42 –

Warum am Samstag tausend Menschen auf den Paradeplatz kamen, was sie sich von ihrem Protest erhoffen und wie sie sich weiter organisieren. Porträt einer Bewegung ohne Kopf und Führung, montiert aus Gesprächen mit Bewegten.


Ich habe auf diesen Moment gewartet – schon lange! Auf eine Bewegung, die aus der Bevölkerung entsteht und nicht von oben nach unten. Die Leute können sich einbringen als Gleiche unter Gleichen. Hättest du geglaubt, dass wir den Paradeplatz einfach besetzen können? Zwei Tage lang?

Hey, das hat es noch nie gegeben. Der Paradeplatz! Ich meine, das ist die Kathedrale des Kapitalismus.

Na ja, jetzt sind wir auf dem Lindenhof. Das ist schade. Der Sinn der Sache ist doch, den Paradeplatz zu besetzen. Wenn wir dort geräumt werden, ist das auch ein Zeichen. Wir haben doch das Recht, unsere Meinung an diesem Ort kundzutun. Am nächsten Samstag werden wir wieder auf dem Paradeplatz sein.

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Ich bin 32 Jahre alt, politisch bin ich nirgends eingebunden. Ich habe viel Zeit in Griechenland verbracht. Dort habe ich mich in die Idee verliebt, dass Menschen die Sachen selber in die Hand nehmen. Ich bin 31 Jahre alt und arbeite bei einer Umweltschutzorganisation. Ich bin nicht antikapitalistisch im eigentlichen Sinn. Aber es ist doch offensichtlich, dass in diesem System etwas nicht stimmt ...

Ich bin überzeugte Sozialistin.

Natürlich bin ich Antikapitalist. Und trotzdem lebe ich in diesem System und profitiere davon. Das ist mir klar. Aber manchmal muss etwas Altes zusammenbrechen, um etwas Neues entstehen zu lassen. Ich bin Mitglied bei den Jungen Grünen. Aber ich kann nicht wirklich hinter dem Programm der Partei stehen. Darum ist es gut, dass hier etwas Ausserparteiliches entstanden ist. Darauf habe ich lange gewartet. Ich sehe kaum vertraute Gesichter, etwa aus der Hausbesetzerszene oder aus linksextremen Kreisen. Die haben uns wohl belächelt. Aber das ist okay. Wir sind ja jetzt hier.

Es heisst, hier protestierten nur ein Haufen Kids, die nichts zu tun hätten. Arbeitslose Studenten, Anarchisten – das stimmt einfach nicht. Wir sind Leute, die Gerechtigkeit wollen. Ich bin 45 Jahre alt, ich bin ein Geschäftsmann und Englischlehrer. Ich gebe Kurse in Businessenglisch für Firmen. Es ist also auch gegen meine eigenen Interessen, wenn die Banken durchdrehen und die Wirtschaft ruinieren. Wir sind eine sehr bunte und breite Bewegung – was den politischen Hintergrund, das Alter oder die Nationalität betrifft.

Wir spüren viel Sympathie. Die Leute bringen uns Essen vorbei oder fragen, wie sie helfen können. Ein Bauer hat uns hundert Kilogramm Kartoffeln vorbeigebracht. Wir dürfen bei verschiedenen Leuten und in Lokalen duschen. Eine Frau kam vorbei, drückte uns zweihundert Franken in die Hand und ging wieder, ohne ein Wort.

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Weltweit werden Plätze besetzt. Banken und Konzerne sind global. Deshalb müssen auch wir global sein. Wir sind die Gegenbewegung zu diesen Firmen, die weltweit agieren und uns glauben machen wollen, wir seien machtlos und dürften nicht partizipieren. Von wegen Machtlosigkeit. Wir sind 99 Prozent. Sie sind 1 Prozent. Zahlenmässig sind wir natürlich nicht 99 Prozent. Aber wir sind ein Teil davon. Sieh mal: 1 Prozent besitzt in der Schweiz mehr als die restlichen 99 Prozent zusammen.

Mein Motiv? Gerechtigkeit, ganz einfach. Entschuldige, wenn mein Deutsch nicht so gut ist, ich bin Amerikaner. Ich habe die Proteste an der Wall Street verfolgt und bin auf der Strasse, weil ich Solidarität zeigen will. In einer Demokratie sollten wir alle gleichberechtigt sein. Die Banken aber fällen Entscheidungen, die uns alle betreffen – das ist keine demokratische Situation. Die Banken können Fehler machen, und die Gesellschaft springt für sie ein. In fast allen gesellschaftlichen Konflikten haben die Finanzmärkte eine tragende Rolle. Deshalb finde ich es gut, dass wir den Protest zum Ursprung ganz vieler Probleme tragen.

Ich nenn uns jetzt mal Hanspeter Schweizer. Wenn Hanspeter Schweizer ein Verbrechen begeht, dann wandert er in den Knast. Warum ist Marcel Ospel nicht im Knast? Casinos müssen in der Schweiz fünfzig Prozent Steuern zahlen. Warum müssen Investmentbanken nicht fünfzig Prozent Steuern zahlen? Investmentbanker spielen mit Geld, das ihnen nicht gehört. Da verstehe ich nicht, warum wir eine Bewilligung einholen müssen, um den Paradeplatz zu benutzen. Er gehört uns ohnehin schon.

Wer wir sind? Wir sind Leute, die die Schnauze voll haben.

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Wir sind basisdemokratisch und konsensorientiert. Wir sind dezentral organisiert. Wir entscheiden in Vollversammlungen. Es gibt zum Beispiel Arbeitsgruppen für Infrastruktur, Medien und konkrete Forderungen.

Weil heute wieder neue Leute gekommen sind: Wir kommunizieren in der Vollversammlung mit Handzeichen in Gebärdensprache: Zustimmung, Ablehnung, Gegenrede und Veto. Benutzt das Veto wirklich nur, wenn ihr einen fundamentalen Einwand habt. Wir müssen uns nicht immer einig sein. Es darf Differenzen geben, da müssen wir auch mal drüber hinwegsehen.

Ich habe hier die Traktandenliste: Brief an die Anwohner, Infrastruktur, Strom, Mobilisierung für Samstag, Finanzen. Hat sonst noch jemand was? Ja, was machen wir mit den Spenden? Wir haben verschiedene Anfragen von Leuten, die uns Geld spenden wollen. Können wir ein Konto einrichten? Bei einer Bank? Das geht nicht. Vielleicht ein zinsfreies Konto? Kennt jemand eine Bank, wo das geht? Die Post vielleicht, die gehört wenigstens dem Staat. Oder die Alternative Bank?

Mir kommt das alles vor wie eine WG-Sitzung mit siebzig Leuten.

Wir müssen über die Infrastruktur reden. Es wird kalt. Es wird regnen. Und ich habe vor, hier zu überwintern. Wir brauchen einen Gemeinschaftsraum.

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Momentan sehe ich hier ein Gemisch aus antikapitalistischer Kritik und Verschwörungstheorien. Viele Leute stammen aus der politischen Linken. Ich selber auch. Und da ist es natürlich schwierig, auf dem gleichen Platz zu stehen mit Verschwörungstheoretikern. Aber da wurde medial viel polemisiert. Es sind viele andere Leute hier. Ich hoffe, diese Diskussion tritt bald in den Hintergrund. Auch, was die politischen Parteien angeht. Ich hoffe, dass Kritik an der Finanzwirtschaft, Kritik am Wachstum aus einer bestimmten politischen Ecke heraustreten kann und salonfähig wird. Bis vor kurzem galt man noch als Nestbeschmutzer, man wurde in die Ecke von Radikalen gestellt. Wir sind doch nicht die Radikalen. Die Radikalen sitzen in den Banken. Wir hier? Wir wollen Ordnung und die Einhaltung der Gesetze. Das macht uns doch eigentlich zu Konservativen, nicht?

Tausend Menschen auf dem Paradeplatz, das ist ja schön und gut. Aber man steht nur rum, hört Musik und geht wieder nach Hause. Es gibt zu wenig politischen Inhalt. Es braucht mehr Workshops.

Können wir nicht endlich über Forderungen reden?

Lassen wir uns nicht stressen. Wir haben Zeit. Wir sollten sehr genau über Forderungen diskutieren. Sollten wir das nicht besser «Perspektiven» nennen? Forderung bedeutet, dass wir von den anderen wollen, dass sie etwas tun. Wir wollen doch aber neue Perspektiven eröffnen und sie selber gestalten.

Natürlich habe ich konkrete Forderungen. Aber ich glaube, wir sollten uns erst einmal zurücknehmen. Wir waren am Samstag mehr als tausend Leute. Wahrscheinlich mit mehr als achthundert Meinungen. Diese Meinungen müssen wir akzeptieren. Wir müssen eine inklusive Bewegung sein, in der alles möglich ist. Die Bewegung soll so breit wie möglich sein.

Aber Konsens ist, dass wir keine Diskriminierung zulassen: keinen Sexismus, keinen Rassismus und so weiter.

Meine Forderungen sind klar: mehr soziale Gerechtigkeit, eine verantwortungsvolle Reform des Systems. Das ist ein friedlicher Aufruf an das System, sich selbst zu verändern. Wenn diese Typen Risiken aufnehmen wollen, bitte. Aber sie sollen nicht unsere wirtschaftliche Zukunft riskieren. Mindestens: eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte. Was in den letzten Jahren geschehen ist: nichts als frech, unmenschlich und psychotisch. Eine gewisse Gilde verteilt Geld von unten nach oben – das geht nicht! Wachstumskritik! Der Finanzmarkt ist diejenige Kraft, die am stärksten behauptet, wir müssten und könnten immer weiter wachsen – was völlig logisch ist, dass dies nicht ewig geht. Wir wollen, dass die Spekulation aufhört. Wir wollen selber bestimmen, wie unsere Wirtschaft funktioniert.

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Was bedeutet es eigentlich, dass ich den Paradeplatz besetzen und durch den Lichthof der Credit Suisse spazieren kann? Völlig unbehelligt, meine ich. Keine Security, keine Polizei, nichts. Was heisst das? Es bedeutet, dass das die Bank nicht interessiert. Es zeigt, wie hilflos wir sind. Wir könnten die Bank in die Luft sprengen – und trotzdem ändert sich nichts am System.

Es ist auf jeden Fall bemerkenswert, was hier geschieht. Dass es überhaupt geschieht. Bei Slavoj Zizek heisst das «der Einbruch des Realen».

Unter dem Strich ist es doch so: Es gibt kein Wir. Es gibt nur ein Jetzt. Wir müssen nicht versuchen, mit einer Stimme zu reden, aber wir müssen jetzt handeln.


Die Occupy-Bewegung

Am 15. Oktober gingen weltweit in knapp 1000 Städten Hunderttausende auf die Strasse, um gegen Banken und die Macht der Finanzmärkte zu protestieren. In der Schweiz gab es in Basel, Genf und Zürich Kundgebungen. In Zürich ist eine Kerngruppe von fünfzig bis hundert Personen vom Paradeplatz auf den Lindenhof gezogen, von wo aus sie weitere Aktionen planen. Für diesen Samstag, 10 Uhr, rufen sie zu einer neuen Kundgebung am Paradeplatz auf.