Durch den Monat mit Flurina Marugg (Teil 1): Herrscht im Camp nur Friede, Freude, Eierkuchen?
Seit drei Wochen campiert die Occupy-Bewegung auf dem Zürcher Lindenhof. Obwohl die letzte Paradeplatzdemo weit weniger Menschen zu mobilisieren vermochte als die Veranstaltungen zuvor, ist Flurina Marugg zuversichtlich, dass die Bewegung so schnell kein Ende findet.
WOZ: Letzten Samstag war der Auflauf am Zürcher Paradeplatz mit 200 bis 300 TeilnehmerInnen ziemlich überschaubar – haben Sie nicht Angst, dass die Occupy-Bewegung abflaut?
Flurina Marugg: Nein. Schliesslich erreichen uns tagtäglich neue Meldungen aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, die Grund genug geben, sich zu empören. Aber die Wahrnehmung über das Potenzial der Bewegung ist extrem subjektiv. Wenn es dir gut geht, dann denkst du, wow, ja, bald haben wir den ganzen Lindenhof – und wenn du eher schlecht gelaunt bist, fürchtest du, dass das doch alles utopisch ist und vielleicht nicht das bringen wird, was du dir erhoffst.
Besteht nicht die Gefahr, dass sich die breitere Öffentlichkeit an die Occupy-Bewegung, sei es auf dem Lindenhof, sei es am Paradeplatz, gewöhnt und ihr irgendwann keine Beachtung mehr schenkt?
Doch. Die Occupy-Bewegung braucht Abwechslung. Sonst würde es auch uns langweilig. Erst einmal ging es vordergründig darum, auf dem Lindenhof eine vernünftige Infrastruktur einzurichten. Aber nun sind wir dabei, neue, andere Aktionen zu planen.
Welche denn?
Nächsten Samstag auf dem Paradeplatz werden wir etwas Neues machen, was genau, kann ich nicht verraten. Aber es gibt auch neue Schauplätze zu erobern. Die Börse zum Beispiel.
Welche Aktionen fänden Sie persönlich interessant?
Am meisten stört mich die allgegenwärtige Durchdringung des öffentlichen Raums durch die Werbung. Mich hat nie jemand gefragt, ob ich es okay finde, dass der öffentliche Raum immer mehr zugekleistert wird. Da sehe ich Potenzial für Aktionen. Zur Rückeroberung des öffentlichen Raums.
Nicht alle Aktionen finden bei der Bewegung Zustimmung. Am Montag war Ex-US-Senator Mark Gravel auf dem Lindenhof zu Gast. Als Mitglied der Libertarian Party vertritt er genau jenen Wirtschaftsliberalismus, gegen dessen Auswüchse die Bewegung protestiert …
Wir verstehen uns als offene Plattform. Nicht alle, die hier auftreten, müssen unsere Meinungen und Werthaltungen teilen. Wir haben ja auch stets gesagt, dass auch Banker bei uns willkommen sind. Wir laden sie ein, sich ein Bild von unseren Ansichten zu machen, und natürlich hoffen wir, dass der eine oder andere von ihnen seine Werthaltungen zumindest einmal überdenkt.
Ritzt es nicht die Glaubwürdigkeit der Bewegung, wenn jemand wie Mark Gravel eingeladen wird?
Gravel war gekommen, um über basisdemokratische Modelle zu sprechen. Und hinsichtlich seines Demokratieverständnisses, das alle einbezieht, anstatt sich auf einzelne Repräsentanten zu stützen, greift er ein zentrales Element unserer Bewegung auf. Aber es stimmt schon, man kann seinen Besuch kontrovers diskutieren. Dabei geht es ja auch um die Frage der Toleranz und wie weit die Bereitschaft geht, auch das Intolerante zu tolerieren.
Apropos Basisdemokratie: Gibt es bei euch nie Schwierigkeiten in ihrer Umsetzung?
Viele hegen Vorurteile gegenüber dem basisdemokratischen Modell, weil sie an eine eindimensionale Gesprächskultur gewöhnt sind: Mehrheitsentscheide werden einfach akzeptiert – obschon zahlreiche Probleme genau deshalb entstehen, weil Minderheiten kein Gehör finden. Ich finde es extrem schön, dass bei uns auch dann hingehört wird, wenn man eine Meinung vertritt, die die anderen nicht teilen. Niemand wird einfach ignoriert oder überfahren.
Also herrscht an den Vollversammlungen nur Friede, Freude, Eierkuchen, nie Verdrossenheit und Mühsal?
Klar gibt es Situationen, wo jemand mal die Regeln vergisst, sich ständig wiederholt und den anderen keine Redezeit gibt, doch um dem entgegenzuwirken, haben wir ja eine Moderation. Manchmal macht an der VV das grosse Stöhnen die Runde, weil der Prozess als langwierig und mühsam empfunden wird. Doch da müssen wir durch, denn nur so ergibt sich die Möglichkeit, etwas Neues zu erschaffen. Es geht nur Schritt für Schritt, mal vorwärts, dann vielleicht wieder ein kleines Stück zurück. Die Problematik, die wir diskutieren, ist umfassend und komplex – wenn wir den Lösungsweg kennen würden, hätten wir ihn schon lange beschritten.
Wen würden Sie sich mal als Gast an einer Versammlung wünschen?
Mani Matter. Oder meinen Vater, damit er seine Informationen zur Bewegung nicht nur aus der NZZ bezieht. Oder meine Grossmutter. Sie hat mir Pulswärmer gestrickt, damit ich hier nicht friere. So einiges, was sie früher noch gelernt hat, wäre in der heutigen Gesellschaft vonnöten: Bescheidenheit, Genügsamkeit, den Dingen Sorge zu tragen und nicht so auf das Materielle fixiert zu sein. Das fällt übrigens vielen älteren Leuten auf, gerade von ihnen spüren wir eine grosse Solidarität. Eine alte Frau hat uns auf den Lindenhof geschrieben, wie sehr sie sich freue, dass sie das noch erleben dürfe.
Flurina Marugg (22) hat soeben ihren Bachelor in Internationalen Beziehungen abgeschlossen. Sie betont, dass sie nur für sich als Individuum und nicht für die Bewegung als Ganzes sprechen kann.