Occupy-Bewegung: Auf dem Spielfeld des Erlaubten
Die Botschaft versprühte Revolutionsromantik. Jean Zieglers Stimme – per Telefon aus Paris zugeschaltet – schepperte über die Lautsprecher am Zürcher Paradeplatz und verkündete kämpferisch: «Eine Befreiungsbewegung ist entstanden. Sie wird siegreich sein.» Das war am 15. Oktober, als rund tausend Menschen den Platz der Banken besetzten und gegen die Auswüchse des Kapitalismus und für mehr Gerechtigkeit protestierten.
Einen Monat später stehen noch immer rund fünfzig Zelte auf dem Lindenhof in unmittelbarer Nähe zum Paradeplatz. Die Stadt Zürich hat am Montag ein Bewilligungsgesuch der BesetzerInnen abgelehnt, «für 99 Monate» auf dem Lindenhof zu bleiben. Die Präsenz der Occupy-Bewegung – zumindest die physische – hat in den letzten Wochen merklich abgenommen. Am Wochenende kamen noch etwas mehr als hundert Menschen an die Kundgebung auf dem Paradeplatz. War «die wichtigste Sache der Welt» (Naomi Klein) nur ein kurzes Flackern?
In der Schweiz besteht diese Gefahr zumindest. Die Ausgangslage ist hier anders als in Madrid, Santiago de Chile, New York oder Tel Aviv: In Britannien, Griechenland, Chile, Spanien oder den USA leiden grosse Teile der Mittelschicht existenziell unter den Folgen der Finanzkrise und den Sparkursen ihrer Regierungen. Soziale Unruhen überraschen nicht. Aber auch in der Schweiz sind die strukturbedingten Auswirkungen des Kapitalismus körperlich spürbar – wenn auch aus anderen Gründen und in kleinerem Ausmass. Das jüngste Beispiel: der Pharmakonzern Novartis, der trotz hohem Gewinn Tausende von Stellen abbaut.
Doch während sich anderswo Schülerinnen und Studenten mit Gewerkschaftern, Rentnerinnen, Beamten, Strassenarbeitern und Aktivistinnen zusammentun, wirken die BesetzerInnen auf dem idyllischen Lindenhof wie ein versprengter Haufen ohne Sprengkraft, der zwar viel Unterstützung aus der Bevölkerung erfährt und in der eigenen Wahrnehmung sehr dynamisch agiert, aber nach einem Monat kaum mehr zu mobilisieren vermag. Haben sie sich, wie der Philosoph Slavoj Zizek in New York warnte, verliebt – «in sich selbst und in die schöne Zeit, die wir hier haben»?
Die Schwierigkeiten der Bewegung liegen auf der Hand: Der Kapitalismus ist abstrakt und komplex. Entsprechend ist auch der Kampf dagegen nur selten konkret. Der Protest bleibt unscharf. Die von der Occupy-Bewegung propagierte Zweiteilung der Gesellschaft – 99 gegen 1 Prozent – ist ein eingängiger Slogan, aber sie wird der Komplexität des Problems nicht gerecht. Der Schweizer Bewegung fehlen die unmittelbaren Bezüge, lokal und persönlich: In New York etwa hat die Occupy-Bewegung versucht, die geplante Eröffnung einer Filiale des Billigdiscounters Walmart in Brooklyn zu verhindern. Sie verbindet das Grosse mit dem Kleinen, das Abstrakte mit dem Konkreten. Auch in der Schweiz gäbe es Anknüpfungspunkte: die Entlassungen bei Novartis, steigende Mieten, tiefere Löhne, die Verengung der Freiräume.
Die Lindenhof-BesetzerInnen betonen stets, sie wollten eine breite Bewegung sein. Sie freuen sich über jeden Freisinnigen oder Ex-US-Senator, der sie umarmt. Aber sie halten Abstand gegen unten und gegen links und distanzieren sich beispielsweise vom konkreten Protest vor der Villa von Novartis-Präsident Daniel Vasella oder von ausserparlamentarischen linken Gruppen – aus Angst, als «Anarchisten» oder «Kommunisten» zu gelten. Umgekehrt stimmt aber auch: Weder linke Gruppen noch NGOs oder Gewerkschaften haben sich dem Protest angeschlossen. Die Vernetzung bleibt bisher aus.
Der Schweizer Ableger der Occupy-Bewegung hat sich stets an alle Regeln und Abmachungen gehalten, hat versucht, es allen Seiten recht zu machen: der Stadt, der Polizei, den Bankern. Wenn er nicht nur ein Anhängsel der internationalen Protestbewegungen sein will, hat er nun die Möglichkeit, eine eigene Identität zu finden: sich seinen Platz zu nehmen und sich nicht nur auf dem Spielfeld des erlaubten oder gar gewünschten Protests zu bewegen. Das hiesse auch: Mut zum zivilen Ungehorsam zu zeigen – erst recht, wenn der Lindenhof geräumt würde.