Deutschland: Auf dem Weg zum kapitalistischen Feudalstaat

Nr. 44 –

Deutschland befindet sich in einem tief greifenden Umbruch – ökonomisch, sozial, politisch. Sieben Trends belegen die These von SoziologInnen wie Sighard Neckel von der Universität Frankfurt: Das Land, sagt er, durchlaufe in mehrfacher Hinsicht einen «offenen Prozess der Refeudalisierung von Lebenschancen».

Die Trends

Immer mehr Arbeitsplätze sind befristet, unsicher und schlecht bezahlt

Der Arbeitsmarkt in Deutschland verändert sich grundlegend. Zwar sinkt momentan die Arbeitslosigkeit, doch die Qualität der Arbeitsplätze wird zunehmend schlechter. Es gibt inzwischen einen grossen Niedriglohnsektor: Mit etwa 6,6 Millionen Erwerbstätigen zählt jeder und jede fünfte Beschäftigte dazu; in Frankreich ist dieser Sektor nur halb so gross. Der Verdienst im Niedriglohnbereich liegt zwischen 3 und 8 Euro die Stunde; umgerechnet 3.70 und 9.90 Franken. Das ist der Lohn auch für qualifizierte Arbeitskräfte – nach einer Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen haben vier von fünf Niedriglohnbeschäftigten eine Berufsausbildung.

Das Lohnniveau sinkt permanent, weshalb knapp 2,5 Millionen regulär Beschäftigte zusätzlich noch eine Tätigkeit im Rahmen eines Minijobs ausüben müssen; Monatsverdienst: bis zu 400 Euro. Viele Beschäftigte verdienen so wenig, dass der Staat sie unterstützen muss. Im Jahr 2009 subventionierten die SteuerzahlerInnen die Dumpinglöhne der Unternehmen mit insgesamt 11 Milliarden Euro. Nach einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW) bekommen die Geringverdienenden seit dem Jahr 2000 bis zu 22 Prozent weniger Lohn. Wer im Jahr 2000 noch 835 Euro verdiente, hat heute 705 Euro auf dem Konto. Insgesamt, so das DIW, gingen «die Nettoeinkommen aller Beschäftigten um 2,5 Prozent zurück».

Laut offiziellen Angaben lag vor zehn Jahren das monatliche reale Durchschnittseinkommen aller Angestellten, ArbeiterInnen, BeamtInnen sowie Lehrlingen (zusammengefasst unter dem Begriff «abhängig Beschäftigte») bei 1429 Euro brutto; im Jahr 2010 bei 1394 Euro. «Deutschland gilt heute als eines der OECD-Länder mit dem höchsten Anstieg der Lohnungleichheit», sagte vor kurzem Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, einer Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit (BA).

Der Anteil der unbefristeten Vollzeitjobs nimmt ständig ab. Von den knapp 31 Millionen abhängig Beschäftigten haben nur noch 23 Millionen einen regulären Vollzeitarbeitsplatz. Die neuen Jobs, die in den letzten Jahren entstanden sind, sind meist prekär: Nach Angaben der BA verdoppelte sich die Zahl der LeiharbeiterInnen im letzten halben Jahrzehnt auf 750 000. Leiharbeit dient in Krisen als Puffer. Die LeiharbeiterInnen erhalten jedoch oft bis zu 30 Prozent weniger für dieselbe Arbeit, die ein Festangestellter im selben Unternehmen bekommt. Eine der dramatischen Langzeitfolgen dieser Prekarisierung: All diese Beschäftigten erwerben geringe Rentenansprüche, sodass die längst überwunden geglaubte Altersarmut zurückkehrt. Bereits heute erhalten nur 13,5 Prozent aller männlichen Rentner mehr als 1500 Euro im Monat, weit über 50 Prozent bekommen höchstens 1000 Euro.

Hinter all diesen Veränderungen steckt auch das grosse Thema «Gleichberechtigung». Zwei von drei Beschäftigten, die unter 1000 Euro brutto im Monat verdienen, sind Frauen. 33 Prozent aller Frauen, die Vollzeit arbeiten, sind Geringverdienerinnen. Und von den 6,7 Millionen atypisch Beschäftigten – mit kleinen Teilzeitpensen und/oder befristeten, meist prekären Stellen – sind 74 Prozent weiblich.

Die Reichen werden immer reicher

Die Löhne und Gehälter sinken; die Einkommen aus Vermögen und unternehmerischer Tätigkeit steigen – im letzten Jahrzehnt haben sie um etwa 30 Prozent zugenommen. 2006 – neuere Zahlen sind nicht verfügbar – betrugen die privaten Finanzvermögen rund 4,5 Billionen Euro. Nach Angaben des DIW verfügte 2007 das oberste Prozent der Deutschen über 23 Prozent des gesamten Vermögens, die oberen 5 Prozent kontrollierten 46 Prozent, die 10 Prozent reichsten Haushalte etwa 60 Prozent des Gesamtvermögens. Auf die unteren 70 Prozent der Bevölkerung kommen 9 Prozent des Volksvermögens, und die untere Hälfte der Bevölkerung hat bloss 1,7 Prozent.

Nach einer Studie der Unternehmensberatungsfirma Kienbaum sind die Vorstandsgehälter der im wichtigsten deutschen Aktienindex (Dax) aufgeführten dreissig Grossunternehmen in den vergangenen zwanzig Jahren um 650 Prozent gestiegen. Ein Dax-Vorstandsmitglied verdiente im Jahr 1987 im Durchschnitt umgerechnet 45 000  Euro, 2007 waren es bereits 3,3 Millionen. Dabei sind die angesammelten Vermögen immer weniger von einer realen Leistung abhängig. Bis 2020 werden die 2 Prozent Reichsten 800 Milliarden Euro erben, ein Drittel aller Erbschaften. Der Soziologe Christoph Deutschmann verweist darauf, dass nicht nur die obersten Gruppen beträchtliche Vermögen gebildet haben, sondern auch die obere Mittelschicht. Er schätzt, dass jährlich mindestens 300 Milliarden Euro Zinsen und Dividenden «an die Rentiers fliessen». Sein Schluss: In Deutschland werde über vieles kritisch diskutiert, die Legitimität der ständig wachsenden leistungslosen Einkommen scheint aber von niemandem bestritten zu werden.

Steuersenkungen hungern den Staat aus

Der Soziologe und Elitenforscher Michael Hartmann hat herausgefunden: «Allein zwischen 1998 und 2002 haben die Steuerbeschlüsse der damaligen rotgrünen Bundesregierung dazu geführt, dass die vierzig reichsten Deutschen ihre effektive Steuerbelastung von 45 auf 32 Prozent senken konnten.» Dieter Lehmkuhl, Millionär und einer der Initiatoren der Initiative Vermögende für eine Vermögensabgabe, sagt, dass sich seit dem Jahr 2000 die Einkünfte aus seinem Vermögen verdoppelt hätten – weil die Politik die Steuern auf hohe Vermögen ständig gesenkt habe.

Diese Angaben entsprechen den offiziellen Erhebungen. Laut Berechnungen des Statistischen Bundesamts zahlen EinkommensmillionärInnen aufgrund von Freibeträgen und Vergünstigungen im Durchschnitt nur 36 Prozent Steuern auf ihr Einkommen. Das DIW berechnete für das Steuerjahr 2002, dass die 450 reichsten BundesbürgerInnen (mit einem Einkommensdurchschnitt von 22 Millionen Euro im Jahr) im Durchschnitt gerade 34 Prozent Einkommenssteuer bezahlten; dabei lag der Spitzensteuersatz damals noch bei 48 Prozent. Eine weitere Berechnung für das Steuerjahr 2005 bestätigte diesen Trend.

Das Gegenbeispiel: Ein Ehepaar mit zwei Kindern, das ein durchschnittliches mittleres Einkommen hat, ist inzwischen mit 45,2 Prozent Steuern und Sozialabgaben belastet.

Renate Köcher, Leiterin des Meinungsforschungsinstituts Allensbach, argumentiert, dass eine solche materielle Kluft «in einer freien Gesellschaft in längeren Friedenszeiten fast zwangsläufig» sei: Die Unter- und Mittelschichten seien eben von der Wirtschaftskonjunktur und damit von der aktuellen Lohn- und Gehaltsentwicklung abhängig, während sich die oberen Schichten «sukzessive aus dieser Abhängigkeit lösen» hätten können – durch wachsende Vermögenseinkünfte, Erbschaften und Schenkungen.

Ende des Jahres 2010 haben sich die Schulden der öffentlichen Hand in Deutschland auf 2000 Milliarden Euro angehäuft. Jedes Jahr nehmen Bund, Länder und Gemeinden ungefähr 540 Milliarden Euro ein. Bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt (derzeit 2500 Milliarden Euro) liegt die Einnahmenquote des Staats bei 21,5 Prozent. Während der letzten konservativ-liberalen Regierung von Bundeskanler Helmut Kohl lag die Quote bei etwa 25 Prozent. Wäre es bei diesem Niveau geblieben, dann hätten die öffentlichen Körperschaften seit dem Jahr 2000 etwa 870 Milliarden Euro mehr Steuern eingenommen; der Schuldenstand wäre folglich deutlich tiefer.

Gute Bildung? Eine Frage der Herkunft

In Deutschland werden nicht nur Vermögen vererbt, sondern auch der Bildungsgrad. So zeigte die Pisa-Studie von 2000: Bei gleichen kognitiven Grundfähigkeiten (Erinnerungsvermögen, Lernfähigkeit, Kreativität, Aufmerksamkeit) und gleicher Lesekompetenz hat ein Kind aus einem gut situierten Elternhaus eine gut dreifach so grosse Chance, ein Gymnasium zu besuchen, wie ein Kind aus einer Arbeiterfamilie; daran hat sich bis heute kaum etwas geändert.

Aus den unteren sozialen Schichten machen 11 Prozent der Kinder das Abitur, aus den oberen sozialen Schichten sind es über 80 Prozent. Und: Während insgesamt nur etwa die Hälfte aller AbiturientInnen studiert, absolvieren 80 Prozent der Kinder von AkademikerInnen mit Abitur ein Studium. Etwa 54 Prozent aller deutschen SchülerInnen besuchen ein Gymnasium, aber nur knapp 30 Prozent der Kinder mit einem ausländischen Pass. Immer mehr junge Menschen beenden die Ausbildung ohne einen Abschluss: Im Jahr 2009 waren es mehr als 1,5 Millionen, das sind 17 Prozent aller 20- bis 29-Jährigen.

Nach einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD von September 2010 liegen in Deutschland die Ausgaben für Bildung bei 4,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nur wenige OECD-Staaten wie etwa Tschechien und Italien liegen noch schlechter. Besonders alarmierend: Die Bildungsausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt haben seit 1995 um 0,4 Prozentpunkte abgenommen.

Soziales Ressentiment beherrscht immer mehr Köpfe immer stärker

In keiner Industrienation steigen «die Ungleichheiten schneller» als in Deutschland, sagt Henrik Enderlein, Ökonom und Vizerektor an der Hertie School of Governance in Berlin. Eine Folge davon ist, dass sich die Haltung der Menschen ändert. Eine Forschungsgruppe um den Bielefelder Professor Wilhelm Heitmeyer, die seit Jahren die deutschen Zustände untersucht, kommt in ihrem letzten Bericht zur Erkenntnis: «Zivilisierte, tolerante, differenzierte Einstellungen in höheren Einkommensgruppen scheinen sich in unzivilisierte, intolerante – verrohte – Einstellungen zu wandeln.» Und die richten sich gegen «volkswirtschaftlich etikettierte Nutzlose», wie es im Bericht heisst.

In der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» erschien Anfang Juni 2011 ein Text über die Lage der SPD, in dem die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles zitiert wird: «Die Leute wollen, dass die SPD eine Kümmerer-Partei ist.» Der Journalist antwortet darauf: «Oje! Das klingt nach Arbeiterwohlfahrt, nach Hartz IV und Linkspartei, nicht nach Aufbruch und Aufschwung.» Solche Bemerkungen kommen Journalisten, Sachverständigen, Politikerinnen wie selbstverständlich über die Lippen – die Geringschätzung sozialer Nöte sitzt sehr tief, ist schon ein Reflex.

Wie sich die Politik schleichend verändert

Elitenforscher Hartmann hat anhand von Langzeitanalysen festgestellt, dass sich mit der sozialen Polarisierung auch die Zusammensetzung der politischen Elite verändert: Es gebe immer weniger «kleine Leute» in der grossen Politik. Und jene, die trotzdem noch durchkommen, laufen Gefahr, sich übermässig anzupassen. Die politische Elite sei homogener geworden und habe sich «der wirtschaftlichen angeglichen», sagt Hartmann: «Man ist immer mehr unter sich und wird mit anderen Lebenswirklichkeiten gar nicht mehr konfrontiert.»

Hinzu kommt der Befund, dass die Angehörigen der sich vergrössernden und verfestigenden Unterschichten deutlich weniger zur Wahl gehen als andere. Unter den NichtwählerInnen ist die Grxuppe der sozial Benachteiligten besonders gross. Das heisst: Je niedriger die Wahlbeteiligung, desto schärfer die soziale Auswahl. So war 2008 die Wahlbeteiligung von BürgerInnen ohne Schulabschluss etwa 26 Prozent geringer als die von Wahlberechtigten mit Hochschulabschluss.

Renate Köcher vom Institut Allensbach registrierte jüngst in der «Frankfurter Allgemeine Zeitung»: «Mitte der neunziger Jahre interessierten sich immerhin noch 45 Prozent der unter 25-Jährigen aus den unteren Schichten zumindest eingeschränkt für Politik, heute nur noch 32 Prozent. In der Mittelschicht ist das Interesse wesentlich moderater abgesunken, in der Oberschicht nur marginal von 67 auf 65 Prozent.» Anhand ihrer Untersuchungen hat Köcher zudem festgestellt, dass junge Angehörige der Unterschicht viel weniger lesen, das Internet vor allem für Unterhaltung nutzen und sich in einem viel geringeren Umfang für gesellschaftliche Themen interessieren. «Dies verstärkt die ohnehin grossen Unterschiede in der Zuwendung zu gesellschaftlichen Entwicklungen und Debatten.»

Wer sich um die soziale Frage kümmert, steckt selbst in Problemen

In Umfragen und bei Landtagswahlen geht es derzeit ausgerechnet den beiden Parteien schlecht, die sich am ehesten um die soziale Frage kümmern: der Partei Die Linke, die in diesem Bereich seit Jahren glaubwürdig agiert, und der SPD (weniger glaubwürdig). Den Gewerkschaften gelingt es inzwischen zwar, ihre seit vielen Jahren anhaltenden Mitgliederverluste ein bisschen einzudämmen. Dass sie in der Offensive wären, würde jedoch auch die Gutwilligste nicht behaupten.

Die Bilanz

Deutschland erlebt eine Refeudalisierung

Der Soziologe Sighard Neckel vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln erkennt in den Entwicklungen, die in den sieben dargestellten Trends sichtbar werden, drei Tendenzen eines «Strukturwandels kapitalistischer Wirtschaft». In diesem Wandel kehren «vormoderne» Formen als «Paradoxie kapitalistischer Modernisierung» wieder, und zwar: eine «Refeudalisierung der Werte», eine «Refeudalisierung der Wirtschaftsorganisation» sowie eine «Refeudalisierung der Sozialstruktur».

Den ersten Aspekt sieht Neckel in der Ablösung des Leistungsprinzips verwirklicht. Hohe Gehälter und Boni könnten nicht mehr mit Leistung begründet werden. Das schnelle Geld, der Erfolg am Markt in Form von Aktienkursen seien an die Stelle des Leistungsprinzips, eines Grundpfeilers der bürgerlichen Gesellschaft, getreten. Der zweite Punkte, die Refeudalisierung der Wirtschaft zeige sich an der Existenz einer «ständisch privilegierten Managerklasse», die bloss ihren Eigennutz verfolge, ohne Leistung und ohne Risiko. «Die bizarre Institution des garantierten Bonus» (eine Erfolgsprämie unabhängig von jedem wirtschaftlichen Erfolg) lasse den Manager des Anlegerkapitalismus «viel eher dem feudalen Landlord ähnlich sein als dem bürgerlichen Unternehmer».

Drittens seien diese Formen der refeudalisierten Wirtschaft eingebettet in «eine allgemeine Sozialstruktur, die in sich selbst vielgestaltige Merkmale einer Refeudalisierung aufweist»: entrückte Eliten, Prekariat, Armutsrisiko für mittlere Schichten, Abstiegs- anstelle von Aufstiegsmobilität, Selbstrekrutierung der oberen Schichten, steigende Bedeutung von leistungslosen Einkommen via Vermögen und Erbschaften.

Daraus folgert Neckel: Deutschland zeige sich – wie auch andere Industriestaaten – als eine Gesellschaft, die sich «in einem offenen Prozess der Refeudalisierung von Lebenschancen befindet».

Die Distanz zur Politik nimmt in der Bevölkerung zu

Deutschland wirkt – auf den ersten Blick – wirtschaftlich und politisch sehr stabil. Die deutschen Unternehmen erwirtschaften hohe Gewinne, die offizielle Arbeitslosenzahl ist bei inzwischen knapp unter drei Millionen auf einem Tiefpunkt angekommen. Nennenswerte Konflikte zwischen Gewerkschaften und Unternehmen scheint es keine mehr zu geben – zumindest werden sie kaum noch in Streiks und anderen Formen öffentlicher Auseinandersetzungen ausgetragen. Die Erklärung ist einfach: Die gut organisierten und gut verdienenden Belegschaften der Exportindustrien könnten streiken, wollen und brauchen aber nicht. Die vielen Frauen, Geringverdienenden und Schlechtqualifizierten – miserable Arbeit, miserabler Verdienst, niedriger Organisationsgrad – müssten streiken, können aber nicht.

Ein zweiter Blick auf die politische Landschaft zeigt: Die einst grossen Volksparteien verlieren an Bedeutung, die kleinen Parteien wachsen schnell (wie etwa die Grünen), können aber auch wieder schrumpfen wie die FDP. Die Parteien, vor allem Union und SPD, repräsentieren heute noch weniger als früher die Struktur der Bevölkerung: wenige Junge, wenige Frauen, viele Männer, viele Beamte, viele Rentner. Zwischen 1990 und 2007 sank die Zahl aller Parteimitglieder von 2,5 auf 1,5 Millionen.

Seit etwa zwanzig Jahren nimmt die Wahlbeteiligung zwar nur langsam, aber stetig ab. Dennoch ist das politische System vielfältiger, fragiler, morscher, aber auch leistungsfähiger denn je: Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen regiert – wider Erwarten routiniert und unspektakulär – eine rotgrüne Minderheitenregierung. Baden-Württemberg hat seit wenigen Monaten eine grünrote Regierung mit dem ersten grünen Ministerpräsidenten. Im kleinen Saarland amtiert eine Koalition aus FDP, CDU und Grünen, und in Berlin gab bis vor kurzem eine Regierung aus SPD und der Partei Die Linke den Ton an. Es gibt kaum noch eine Kombination, die nicht schon einmal ausprobiert worden ist.

Das aber heisst auch: Die Ähnlichkeiten zwischen den Parteien nehmen ebenso zu wie die Kluft zwischen vermeintlichen oder echten Mehrheiten in der Bevölkerung und der politischen Klasse. Da gibt es Ressentiments, die sich wahlweise gegen den Euro, gegen Griechenland, die AusländerInnen, die Steuern oder den Staat als Ganzes richten. Rechtspopulistische Deutungen finden zwar in allen Schichten – auch in Teilen der Eliten – mehr und mehr Widerhall. Aber eine ausgewiesen rechtspopulistische Partei gibt es immer noch nicht.

Zahlreiche Umfragen belegen allerdings, dass eine Mehrheit das bestehende Wirtschaftssystem als sozial wie ökologisch blind ablehnt. Umfragen zeigen auch, dass eine grosse Mehrheit die Regierungsform Demokratie und ihre Prinzipien unverändert hoch schätzt. Nur die real existierende Demokratie, die wird gar nicht geschätzt. Forscher wie der Politologe Serge Embacher sprechen inzwischen sogar von «einer ausgeprägten Demokratiedistanz bei einem relativ grossen Teil der Bevölkerung». Viele BürgerInnen hätten dem amtierenden politischen System innerlich gekündigt. Die Welten, in denen die Abgeordneten und die Bevölkerung leben, driften auseinander.

Eine Reform genügt nicht

Rainer Wendt, früher SPD-Politiker und heute Vorsitzender der Deutschen Polizei-Gewerkschaft, sagte anlässlich der Unruhen in Britannien dem Boulevardblatt «Bild»: «Die Ausschreitungen sind das Ergebnis von krimineller Energie, Verachtung gegenüber dem Staat und sozialer Ausgrenzung einzelner Bevölkerungsschichten.» Auch in Deutschland gebe es eine ähnlich explosive Mischung, die bei nichtigen Anlässen vor allem in Grossstädten zu Unruhen führen könnte. Er fordert mehr Polizei und eine bessere Technik, um soziale Netze stärker überwachen zu können. Der Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sieht dagegen keine Gefahren, da keine Probleme: «Solche gesellschaftlichen Spannungen wie aktuell in England oder in anderen europäischen Ländern haben wir glücklicherweise derzeit nicht.» Die soziale Integration sei in Deutschland «in den vergangenen Jahren sehr gut vorangekommen».

Es sagt viel über den geistigen Zustand des Landes, dass eine Intervention im April 2009 – als sich die Öffentlichkeit zum ersten Mal über die Finanzmarktakteure und deren Verfehlungen empörte – spurlos vorüberging. Der Katholik, Sozialdemokrat, ehemalige Bundesverfassungsrichter und Rechtsphilosoph Wolfgang Böckenförde schrieb damals in einem von der «Süddeutschen Zeitung» veröffentlichten Essay: Gewiss könne der Staat versuchen, dem Kapitalismus erneut Regeln aufzuerlegen. Aber er frage sich, ob das reiche. Böckenförde weiter: «Woran krankt also der Kapitalismus? Er krankt nicht allein an seinen Auswüchsen, nicht an der Gier und dem Egoismus von Menschen, die in ihm agieren. Er krankt an seinem Ausgangspunkt, seiner zweckrationalen Leitidee und deren systembildender Kraft. Deshalb kann die Krankheit auch nicht durch Heilmittel am Rand beseitigt werden, sondern nur durch die Umkehrung des Ausgangspunktes.»

Der Soziologe Heinz Bude hat diese Grundsatzkritik so zusammengefasst: Die kapitalistische Produktionsweise setze «eine unglaubliche Bewegung frei, die überall Verbindungen herstellt und eine allseitige, wie man heute sagt, globale Abhängigkeit begründet, aber in stummer Konsequenz nur einem letzten und einzigen Gesetz dient: dass aus Geld mehr Geld wird».

Die naheliegende Kritik, dass diese Idee nicht länger tragend und leitend für eine demokratische Gesellschaft sein dürfe, scheint in Deutschland keinen Widerhall zu finden, jedenfalls noch nicht.