Porträt: «Ich bin auch bereit, Lösungen zu suchen»
Als kompetente Politikerin mit breiten Interessen: So wird Marina Carobbio von links bis rechts eingeschätzt. Seit 2007 für die SP im Nationalrat, will die Tessinerin jetzt in den Bundesrat.
In San Bernardino soll das Treffen mit Marina Carobbio Guscetti stattfinden. Doch am Sonntagmorgen entschuldigt sich die Tessiner SP-Nationalrätin per SMS, fragt, ob es möglich sei, ihr etwas entgegenzukommen. So geht die Fahrt am frühen Abend ins Tal hinunter bis nach Mesocco, wo die Anwärterin für das SP-Bundesratsticket pünktlich um sechs Uhr vor dem Ristorante Beer erscheint.
Man kennt Marina Carobbio im Südbündner Tal. Diskrete Berglerblicke verfolgen die Politikerin ins Nebenstüblein. Auf dem Weg dahin trifft sie einen Bekannten, grüsst ihn herzlich und nimmt dessen Glückwünsche entgegen. Carobbio wurde im Tessin mit dem drittbesten Resultat als Nationalrätin bestätigt. Aber nun geht es um mehr. Die Hausärztin will für die SP in den Bundesrat.
Aggressiver Stil?
Kurz begründet sie ihre SMS vom Morgen: Die betagte Schwiegermutter ist gestürzt. Ärztin Carobbio musste nach ihr schauen. So. Jetzt kann die Politikerin Carobbio ihre Ambitionen darlegen. «Wenn man viel Politik macht, stellt sich an einem gewissen Punkt die Frage des Exekutivamts», sagt sie lapidar. Carobbio ist an diesem Punkt angelangt.
Marina Carobbio Guscetti, verheiratet, Mutter von zwei Kindern, hat im Misox mit drei Ärzten eine Gemeinschaftspraxis aufgebaut. Zwölf Angestellte arbeiten heute im Betrieb, auch Lehrlinge werden ausgebildet.
«Die Arbeit einer Ärztin hat neben einem wissenschaftlichen einen starken sozialpolitischen Aspekt», sagt Carobbio. Deshalb habe sie sich wohl für diesen Beruf entschieden. Krankheit ist für sie immer auch der Spiegel einer Situation. Medizin hat die 45-Jährige in Basel studiert, daher ihre perfekten Deutschkenntnisse.
Auf ihrem politischen Leistungsausweis stehen acht Jahre Vorsitz der SP-Fraktion im Tessiner Grossen Rat, einem Gremium, das für seine heftigen Debatten bekannt ist. So aggressiv, wie ihr politischer Stil wirke, sei sie in Tat und Wahrheit aber nicht, sagt Giancarlo Dillena, Chefredaktor der bürgerlich-liberalen Tessiner Tageszeitung «Corriere del Ticino».
Minuziös vorbereitet
Bescheiden, freundlich, ernsthaft und direkt ist ihr Auftritt. Sie spricht schnell und denkt genau. Methodisch habe sie viel von ihrem Vater gelernt, der sich immer minuziös auf die Argumente der Gegner vorbereitet habe, sagt sie.
Von ihm – dem dezidiert linksaussen stehenden politischen Schwergewicht Werner Carobbio, der 24 Jahre lang im Nationalrat sass – habe sie sich erst emanzipieren müssen. Auch wenn es keinen ideologischen Graben zwischen ihnen gebe. «Zu Beginn meiner politischen Karriere, mit 24 Jahren im Grossen Rat, war ich immer nur die Tochter von Werner Carobbio.» Aber Marina Carobbio sagt offen: «Mein Vater konnte nur dank meiner Mutter politische Karriere machen, ich nur dank meines Umfelds.» Zu Hause helfe ihr Mann, ein Ingenieur, der bei den SBB-Officine in Bellinzona arbeitet, mit.
Die Lega zweifelt
Seit 2007 sitzt sie für die SP im Nationalrat, wo sie sich einen Ruf als kompetente Politikerin mit einem breiten Themenspektrum erarbeitet hat. Für die SP nimmt sie Einsitz in der Finanzkommission und der Finanzdelegation. Die Tessinerin ist zudem Präsidentin des Schweizer MieterInnenverbands sowie SP-Vizepräsidentin.
«Eine, die arbeitet», wird von rechts bis links über sie gesagt. Der Tessiner Verleger Giò Rezzonico bezeichnet sie als «eine ausgeglichene, ernsthafte und aufrichtige Politikerin». Carobbio benennt sich selbst als «hartnäckig, aber nicht stur». «Ich habe keine Mühe, zu meinen Positionen zu stehen», sagt sie. «Ich bin aber auch bereit, Lösungen zu suchen.»
Carobbio macht sich stark für eine öffentliche Krankenkasse und die flächendeckende Einrichtung von integrierter Versorgung, sieht eine Schweiz ohne Armee als langfristiges Ziel und kritisiert die absolute Marktgläubigkeit der letzten Jahre. Besonders kümmert sie sich als Tessinerin um die Probleme der peripheren Regionen. Die Bündner ParteikollegInnen haben ihr denn auch bereits die Unterstützung zugesagt.
Auch die SP-Frauen wollen Carobbio auf dem Wahlticket. Hinter sich scharen konnte sie zudem die achtköpfige Tessiner Nationalratsdelegation. Lega dei Ticinesi und SVP mit immerhin drei Vertretern haben jedoch Vorbehalte angebracht. «Die Carobbio», sagt Lega-Präsident Giuliano Bignasca, «wählen wir erst im letzten Wahlgang. Falls sie dann überhaupt noch dabei ist.» Und natürlich gibt es im Tessin viele, die auch mit Blick auf den Finanzplatz Lugano sagen, für eine Tessiner Bundesrätin sei sie in der falschen Partei.
«Sie hat einen harten, steinigen Weg vor sich», lautet Giancarlo Dillenas Einschätzung, was nicht zwingend ein schlechtes Omen für Carobbio sein muss: Die Tessinerin ist eine passionierte Berggängerin.