Die Grünen im Tessin: Aussen grün – innen rot-blau

Nr. 14 –

Der Tessiner Sergio Savoia hat die Grünen in seinem Heimatkanton zu einer populistischen Partei umgeformt. Das hat zu Parteiaustritten geführt, aber auch zu Wahlerfolgen. An den kommenden Wahlen Mitte April wird sich zeigen, wie nachhaltig dieser Kurs ist.

«Wir sind stolz, Populisten zu sein»: Sergio Savoia, Koordinator der Tessiner Grünen, am Wahlkampffest vom letzten Samstag auf der Piazza Governo in Bellinzona.

Schäfchenwolken ziehen dahin, die Sonne scheint. Lange Reihen von Klapptischen warten auf die Gäste. Die Küche hat Gratisportionen vorbereitet. Suppe und Risotto – alles frisch, alles bio. Rot und blau sind die Farben auf der Piazza Governo in Bellinzona – die Farben der Tessiner Flagge. Auf Parteiembleme ist ausdrücklich verzichtet worden. Willkommen beim zentralen Wahlkampfauftritt der Tessiner Grünen am letzten Samstag im März.

Eine «Manifesta», Demo und Volksfest zugleich, sollte es werden, eine Demonstration gegen den schleichenden EU-Beitritt! Schluss mit dem Verdrehen von Abstimmungsresultaten! Gegen das «Betrugsabkommen» mit Italien! Keine Parteifahnen! Nur das Tessiner Rot-Blau! Das sind die Botschaften.

Nicht links, nicht rechts

Sergio Savoia, der Koordinator der Tessiner Grünen, macht Witze auf dem Podium. Savoia und seine Getreuen haben eine neue Partei geformt, die auch für Menschen aus dem politischen Zentrum wählbar ist. «Wir haben uns wegbewegt von der Wassermelonen-Partei – innen rot, aussen grün», sagt Savoia. «Wir sind grün, aber auch tessinerisch, patriotisch.» Die Tessiner Fahne soll nicht nur der politischen Rechten, der Lega oder der SVP gehören, sondern auch den Grünen und Linken.

Die Tessiner Grünen wollen nicht mehr Velowegpartei sein, sondern mitagitieren bei den grossen Ängsten um Arbeitsplätze und Sicherheit, die die rechtspopulistische Lega dei Ticinesi beackert. Die Einzigen, die der Lega Stimmen wegnehmen könnten, seien die Grünen, sagt Savoia. Die Wählerschaften von Lega und Grünen könnten miteinander verschmelzen. «Was nützt eine geschützte Umwelt, wenn es keine Arbeit, keine würdigen Löhne gibt?»

Am 9. Februar 2014 hat das Tessin die SVP-Einwanderungsinitiative mit einem rekordhohen Ja-Stimmen-Anteil von 68 Prozent angenommen. Auch die Tessiner Grünen gaben die Ja-Parole aus – im Gegensatz zu den Grünen Schweiz. «Ein Alarmruf», begründete Savoia: Die Jugendarbeitslosigkeit im Tessin sei hoch, die seit der Einführung der Personenfreizügigkeit neu geschaffenen Stellen gingen fast ausschliesslich an GrenzgängerInnen, der Verkehr erleide einen Zusammenbruch. Es mache Bauchweh, mit der SVP zusammenzugehen. Auch die Fremdenfeindlichkeit in diesem Umfeld tue weh. «Aber genug ist genug.»

Nach dieser Abstimmung sprachen Lega und SVP, aber auch die Grünen von einem historischen Resultat. Noch am Abstimmungssonntag betitelten die Grünen ihre Medienmitteilung mit «La storia siamo noi» – «Wir haben Geschichte geschrieben». Ausländerkontingente seien der erste Schritt, um die Wirtschaft in den Griff zu bekommen. Jetzt müsse Schluss sein mit halbherzigen Massnahmen und Scheu. Die politische Klasse halte das Volk für blöd.

Auf Savoias Blog wird Statistik geführt über die Anzahl der Aufrufe seiner Webseite: an die 700 000. Im Eintrag vom 7. Januar 2014 schreibt er: «Wir sind stolz, Populisten zu sein (…), wir sind stolz, unsere Meinung laut auszusprechen. Populist ist, wer dem Volk zuhört und nicht der Wirtschaft, nicht der Elite, die auf ihrem warmen Hintern sitzt, nicht den Experten, Zirkeln, den käuflichen Intellektuellen.»

Savoia schreibt auch für Tageszeitungen, zum Beispiel den «Corriere del Ticino». Etwa am 1. Februar 2014, kurz vor der Abstimmung über die SVP-Initiative, als er dort SP-Mitglieder als «Salonsozialisten», als «Kaviarlinke mit dünnen Händchen» bezeichnete. Eine Linke, die für Savoia das Interesse an den «neuen Proletariern» verloren hat, an den «kilometerlangen Kolonnen der Verzweifelten, die für 1500 Franken im Monat ausgebeutet werden», an «unserem Volk» in den einfachen Wohnquartieren draussen. Savoia klagt die Linksintellektuellen an, weil sie dem Volk nichts mehr zu sagen hätten. In seinem Blog vom 5. Februar 2014 legte Savoia nach: Die SP sei in den Händen einer Bande von Kleinbürgerlichen, die sich für die politische Elite des Landes halte.

Im April 2014 schrieb der Historiker Danilo Baratti, der für die Grünen im Stadtparlament von Lugano politisiert, in der Monatszeitschrift «verifiche» einen «didaktischen Exkurs» über Savoias verbalen Stil: Hier das Volk, dort die Verräter in den Salons, hier die Arbeiterbasis, dort die wohlhabende Parteielite der Sozialisten. Hier die Gemeinschaft des Tessiner Volks, dort das mit Blindheit geschlagene Bundesbern. Baratti bezeichnet Savoia als den fähigsten Politiker der Gegenwart im Tessin, als glänzenden Analytiker, der sich mit unübertroffener Rhetorik der Massenmedien bedient.

Scherbengericht

Im gleichen Monat, in dem Barattis Artikel erschien, fand 2014 die Versammlung der Tessiner Grünen statt. In einer stürmischen Debatte brachen die innerparteilichen Gegensätze auf. Eineinhalb Stunden lang wurde über die Person Sergio Savoia debattiert. Sein eigenmächtiges Vorgehen wurde kritisiert, er habe die Partei mit seinem Populismus auf einen Kurs gesteuert, in dem sich manche nicht mehr erkennen. Er agiere, als ob die Partei sein persönlicher Wahlverein sei. Nur ein Jahr vor den Wahlen stimmten die Delegierten aber für Kontinuität.

Sergio Savoia ist ehemaliger Radiojournalist, von 2003 bis 2006 politisierte er für die SP. Als diese ihn nicht für den Regierungsrat nominierte, wechselte er zu den Grünen und stieg dort rasch zum Koordinator auf. Die Grünen verfügen über keine Persönlichkeit, die so erfolgreich wie Savoia in der Öffentlichkeit auftritt. Sein Name ist verbunden mit Wahlerfolgen (vgl. «Ambitionierte Ziele» im Anschluss an diesen Text). So wurde er mit 47 von 82 Stimmen für zwei Jahre als Grünen-Koordinator wiedergewählt. Auch eine spätere Versammlung bestätigte Savoias Kurs deutlich.

Im Umfeld der Parteiversammlung vom April 2014 war Greta Gysin eine der wichtigsten GegenspielerInnen von Savoia. Sie hat die kantonale Mindestlohninitiative massgebend gestaltet, die das Tessiner Parlament vor zwei Wochen dank Stimmen der SP und der Lega angenommen hat: Die Initiative, die nun zur Abstimmung kommt, würde je nach Branche abgestufte Mindestlöhne zwischen 3000 und 3500 Franken bringen.

Gysin hatte aber Nein zur «Masseneinwanderungsinitiative» gesagt. Sie kritisierte die Abhängigkeit der Partei von Sergio Savoia. Sie hatte nicht nur die Frage gestellt, was diskutiert wird, sondern auch wie.

Gysin war jene Spitzenfrau der Grünen, die 2011 hinter Savoia mit dem zweitbesten Resultat und mit Riesenvorsprung auf alle übrigen KandidatInnen in den Tessiner Grossrat gewählt wurde. Aber für die Wahlen 2015 steht sie nicht mehr zur Verfügung. Die offizielle Begründung: Gysin habe ein Kind zur Welt gebracht, sie sei auf Arbeitssuche, so bleibe ihr zu wenig Zeit. Fraktionsleiter Francesco Maggi aber sagte: Es sei schwierig, alle an Bord zu halten. Guter Wille allein genüge nicht, vor allem bei Frauen. «Männer streiten sich, doch am nächsten Tag ist alles vergessen. Frauen vergessen nie.» So wird Gysin die Schuld am Zerwürfnis zugeschoben. Die Wahrheit: Ohne den Richtungsstreit wäre Gysin noch an Bord.

Der Ton zwischen SP und Grünen ist gehässig. Als SP-Staatsrat Manuele Bertoli in seiner letztjährigen Ansprache zum 1. August davon sprach, dass ein erneuter Urnengang über die Masseneinwanderung vorstellbar sei, reagierte Savoia sofort. Bertoli wurde in eine Reihe gestellt mit PolitikerInnen, die die Interessen ihres Landes und der BürgerInnen verraten hätten. Wenn Bertoli seiner Verantwortung nicht nachkomme, dann solle er zurücktreten und eine kreative Schreibwerkstatt gründen.

Lüge und Betrug

Es ist nach 17 Uhr auf der Piazza Governo in Bellinzona. «Wir wollen eure Hoden nicht mit allzu langen Reden quetschen», verspricht Savoia. Aber dann brauchen die acht RednerInnen doch eine Stunde. Umweltfragen sind kaum ein Thema. «In unserem Haus hat es Platz für viele Einwanderer, aber nicht für alle», ruft Savoia. Vor zehn Jahren habe es im Tessin noch 35 000 GrenzgängerInnen gegeben. Mit dem freien Personenverkehr gebe es kein Halten mehr, heute 65 000, übermorgen – wer weiss – 100 000? Das zerstöre den sozialen Pakt im Land. Aktivistinnen haben Stände aufgestellt, Tessiner Fahnen aufgehängt. Viele der Helfer sind keine Mitglieder der Grünen, sie sind dem «Manifesta»-Aufruf auf Facebook gefolgt. 170 Liter Suppe und 50 Kilo Risotto dampfen, genug für 500 Menschen. Aber nur gut 100 sind da.

Franco Denti tritt auf. Der ehemalige CVP-Mann gehört nun zum grünen KandidatInnenteam für ein Amt in der Kantonsregierung. Ein besseres Land soll im Tessin entstehen, verheisst er, hier, wo Verunsicherung und geistiges Unbehagen herrschten. Die Jungen gingen nicht mehr an Friedensmärsche, hätten sich zurückgezogen und seien verzweifelt. Sie missbrauchten Drogen, interessierten sich weder für das Tessin noch für die Schweiz.

Elisabetta Gianella übernimmt, auch sie kandidiert für den Staatsrat. Sie ist von der Lega zu den Grünen gestossen. Exakt am 9. Februar 2015 hat Gianella zusammen mit Sergio Savoia ihr gemeinsames Buch «Die grosse Lüge» vorgestellt. Die grosse Lüge, das sei die Erzählung, dass es dank des freien Personenverkehrs allen besser gehe. Nach Tieflöhnerinnen dürstende Unternehmer, Gewerkschaften auf der Jagd nach neuen Mitgliedern, die neoliberale und europafreundliche Rechte, die Linke mit ihrem romantischen Internationalismus – sie alle seien als Passagiere auf dem «Transatlantikschiff» namens «Grosse Lüge» vereint. GrenzgängerInnen werden gleichgesetzt mit Lohndumping. Neu sind diese Erkenntnisse nicht: Dass die Tessiner Kantonsregierung so wie keine andere in der Schweiz mit Normalarbeitsverträgen Mindestlöhne durchsetzt, zeigt nämlich, dass das Thema Lohnmissbrauch auch bei bürgerlichen Parteien längst angekommen ist.

Gianella ist in ihrer Rede mittlerweile beim Steuerabkommen zwischen der Schweiz und Italien angelangt. Es geht um italienische Schwarzgelder in der Schweiz, um den Schweizer Eintrag in schwarzen Steuerparadieslisten in Italien, um Informationsaustausch bei Bankkundendaten, um Grenzgänger: «Lüge! Betrug!», ruft Gianella, das Tessin werde ausverkauft. «Nein zum Betrugsvertrag. Ja zu Liebe und Freiheit im Tessin!»

Ein SVP-Vertreter spricht Grussworte. Die SVP und die Grünen kämpften immer wieder Seite an Seite. Beide Parteien seien in der Opposition. «Inländer zuerst!», ruft er und erntet breiten Applaus. Nachher sagt er: «Die Grünen reiten auf dem Rücken des Tigers.» Da heisst es aufpassen, dass man nicht herunterfällt.

Alexander Grass ist Tessinkorrespondent von Schweizer Radio SRF.

Wahlen 2015 : Ambitionierte Ziele

Seit 1987 politisieren die Tessiner Grünen auf kantonaler Ebene. 1991 bekamen sie bei den Grossratswahlen 1,1 Prozent. Die Partei blieb bis 2003 relativ erfolglos (3 Prozent). Dann kam Sergio Savoia, und seither geht es aufwärts: An den letzten Wahlen holte die Partei 6,4 Prozent.

2007 kündigten die Grünen die traditionelle Listenverbindung mit der SP auf. Die Hoffnung war es, wählbar zu werden für Unzufriedene aus CVP und SP. Lachende Dritte war die Lega dei Ticinesi: Sie erbte 2011 jenen Nationalratssitz, den die SP wegen der fehlenden Listenverbindung mit den Grünen verlor. 371 Stimmen fehlten der SP.

Die Untersuchung «Le elezioni cantonali ticinesi del 2011» ergab: Keine Tessiner Partei hat so viele UniversitätsabsolventInnen unter ihren WählerInnen wie die Grünen, und in keiner Partei ist der Anteil an Staatsangestellten höher – er liegt bei zwei Dritteln. Achtzig Prozent der Tessiner Grünen-WählerInnen empfinden kein Vertrauen gegenüber politischen Parteien – der kantonale Spitzenwert. Drei von vier WählerInnen sind jünger als fünfzig, sechzig Prozent halten sich für linksgerichtet.

Als Ziel für die anstehenden Wahlen Mitte April gibt Savoia einen Sprung auf zwölf oder dreizehn Prozent sowie den Einzug in die Kantonsregierung an. Gemäss Umfragen kommen die Grünen aber kaum über ihre bisherigen rund sieben Prozent hinaus; offenbar verlieren sie bei der bisherigen rot-grünen Basis Stimmen. Der Verlust wird ausgeglichen durch neue Wähleranteile aus der politischen Mitte und von der Rechten. Per Saldo aber findet kein Wachstum statt.

Alexander Grass