Sole: «Ältere Ladys lassen sich für uns die Arme brechen»

Nr. 46 –

1999 gründete er das Label Anticon und revolutionierte damit die Rapmusik. Jetzt ist der Antiheld des US-Hip-Hop eine zentrale Figur der Occupy-Proteste in Denver. Die WOZ hat mit Sole das mittlerweile von der Polizei geräumte Camp auf dem Zürcher Lindenhof besucht.

WOZ: Wir haben uns soeben das beschauliche Camp der Zürcher Occupy-Bewegung angeschaut …
Sole: Es ist tatsächlich beschaulich, wirkt nicht wirklich breit abgestützt und kraftvoll. Verstehen Sie mich nicht falsch: Das ist cool. Aber nicht vergleichbar mit dem, was in meinem Land passiert. Es hätte mich aber auch gewundert, wenn diese Art des Protests in Zürich funktioniert hätte.

Warum?
Anders als die USA ist die Schweiz kein Drittweltland. Wir aber haben alles verloren. Den Wohlstand. Die Moral. Den Humor. Wir haben Barack Obama gewählt. Er hat uns Hoffnung auf einen nötigen Wandel gemacht. Er hat alle Versprechen gebrochen. Obama ist ein Mann der Wall Street, ein neuer Ronald Reagan. Wie viele Menschen leben in Zürich?

Knapp 400 000 .
In Denver leben knapp 600 000. 20 000 davon sind obdachlos und völlig verarmt. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, vor allem unter den 20- bis 35-Jährigen. Als ich von der Highschool kam, verdiente ich fünfzehn Dollar pro Stunde mit Telefonsupport. Diese Telefone werden heute auf den Philippinen oder in Indien bedient. Wir haben alles ausgelagert. Die USA sind «made in China». Gewerkschaften? Ein Witz. Um die paar Jobs, die übrig geblieben sind, streiten sich viel zu viele Leute. Von diesen Löhnen kannst du nicht mehr leben. Viele Menschen sehen in der Occupy-Bewegung die letzte Hoffnung für die USA.

Die letzte Hoffnung?
Wir sind vor allem auch moralisch völlig am Anschlag. Ich bin kein Ökonom. Ich weiss nur, dass der Preis eines Marschflugkörpers dem Jahreslohn von vierzig Lehrern entspricht. Wir streichen Lehrerstellen, weil wir andere Länder zerbomben und dann neu aufbauen müssen. Das ist alles, was von Obamas Versprechen geblieben ist. Darum die Explosion: Die Bewegung entstand vor sechs Wochen an der Wall Street. Inzwischen protestieren in 1200 Städten Millionen von Menschen.

Ist es nicht wahnsinnig kompliziert, alles in Vollversammlungen entscheiden zu müssen?
Unglaublich. Ich bin ja ein extrem friedlicher Mensch. Bis vor kurzem hatte ich auch wahnsinnig Angst vor einer Konfrontation mit den Cops … Jetzt hat sich meine Einstellung geändert. Die State Troopers dringen in Camps ein. Sie sind die dunkle Seite der Macht. Wenn ein Cop eins über die Rübe kriegt dafür, dass er friedliche Demonstranten schlägt, hat er das nicht besser verdient. Er wendet sich gegen die eigenen Leute.

Wir waren bei den Vollversammlungen …
Wie gesagt, ich bin ein friedlicher Mensch. Aber es braucht einen langen Atem, wenn man in einer ernsthaften Debatte mit Leuten konfrontiert ist, die darüber abstimmen wollen, ob wir künftig alle in Baumhütten leben sollen. Trotzdem sind die Versammlungen entscheidend.

Entscheidend wofür?
Die USA sind die grösste Macht in der Geschichte der Menschheit. Konzerne bestimmen über unser Leben. Sie bestimmen Politik, ihnen gehören die Medien. Das Occupy-Modell ist direkte Demokratie, totale Transparenz. Keine Geheimdeals, keine Absprachen in Hinterzimmern. Sie müssen wissen: Es gibt in den USA keine funktionierende Linke mehr. Die Linke hatte den Achtstundentag erkämpft. Wie lange ist das her? Siebzig Jahre? Dann wurde sie systematisch geschwächt und unter Reagan beerdigt.

Die einzigen Linken, die gehört werden, sind Akademiker. Noam Chomsky zum Beispiel. Diese radikalen Professoren gibt es überall, sie sind extrem populär, aber sie haben keine Macht. Zum ersten Mal, seit ich lebe, stehen in den USA Leute für ihre Rechte auf: ältere Ladys, fünfzigjährige Arbeiter, junge Anarchisten, Kids, Studentinnen, Ex-Cops und unzählige Veteranen aus dem Irak, aus Afghanistan, Vietnam, Somalia, Kolumbien, Panama. Alle sagen dasselbe.

Was sagen sie?
Wir sind hier!

Das ist alles?
Es ist zentral. Die USA haben ihre eigenen Leute vergessen. Wir sind Spielbälle von Konzerninteressen.

Als wir uns 2005 zum Gespräch trafen, lebten Sie in Barcelona. Wie kamen Sie nach Denver?
Ich bin damals von Oakland gekommen. Ich wollte Europa sehen. Als ich nach zwei Jahren in die USA zurückkehrte, zog ich zuerst nach Arizona. Ich wollte nicht mehr in einer Grossstadt leben, sondern in den Wäldern. Aber irgendwann drohte ich durchzudrehen. Meine Frau und ich waren von der modernen Kultur abgeschnitten. Handys funktionierten nicht. Wir mussten zwanzig Meilen fahren, um Bier zu kaufen. Kennen Sie «The Shining»?

Den Film, in dem ein Schriftsteller in totaler Abgeschiedenheit seine Frau mit einer Axt …
Also gingen wir besser zurück in die Zivilisation, in die amerikanischen Alpen, nach Denver. Ich habe viele Freunde dort. Meine Frau und ich sind Selbstversorger. Das ist in den USA eine inzwischen sehr verbreitete Protestform: Urban Farming. Man zieht sich aus dem öffentlichen Leben zurück, verwandelt seinen Rasen in Beete, baut Gemüse an, backt sein eigenes Brot.

Sie bauen Gemüse an? Sie sind doch Rapper.
Mein ganzer Keller ist voll gefrorenem Gemüse. Ich könnte drei Jahre überleben, ohne einkaufen zu müssen. Ich bin inzwischen ein richtig guter Farmer. Die Gärtnerei hatte aber auch eine dunkle Seite. Die Gründe für den Rückzug waren Zynismus und Resignation: «Es wird nie wieder gut.» So denken viele: Sie ziehen in die Berge, nach Kanada, Mexiko oder ins leer stehende Detroit.

Unzählige Amerikaner sind regelrecht traumatisiert davon, in einer Nation zu leben, die permanent Krieg führt. Ich weiss nicht, ob Ihnen das hier bekannt ist, aber wir Amerikaner werden ja nicht als Kriegsgurgeln geboren. Wir haben der Welt immerhin die Hippies gegeben. Aber es ist ein Kampf gegen Windmühlen, gegen McDonald’s und Coca-Cola. Bis in die fünfziger Jahre hatte ein Unternehmen als juristische Person mehr Rechte als eine Frau oder ein Schwarzer. Occupy hat mich wieder hoffnungsvoll gemacht. Millionen demonstrieren ununterbrochen gegen Big Business.

Euphorisch?
Das ist keine revolutionäre Fantasie in einem meiner Rapsongs. Das passiert hier und jetzt. State Troopers schlagen uns zusammen. Am nächsten Tag sind wir wieder da. Nur sind wir nun dreimal so viele. Alte Damen stellen sich vor uns, lassen sich für uns von Schlagstöcken die Arme brechen, und es ist ihnen egal. Das ist toll! Die Menschenrechtsgruppen investieren wahnsinnig viel Arbeit in die Bewegung.

Cornel West, einer der führenden schwarzen Intellektuellen in den USA, hat die Entwicklung «The American Autumn» genannt. Cooler Dude, dieser Cornel. Aber als Rapper geht das natürlich nicht: «The American Autumn»? Mann, da hast du auf der einen Seite den «Arab Spring», dann ist das hier «The American Fall». Das swingt einfach besser, und es enthält diese Doppeldeutigkeit. Ich habe seit zwanzig Jahren auf diesen «Fall» gewartet, darauf, dass Amerika in Flammen aufgeht. Oder, weniger realistisch, dass wir einen Frühling erleben.

Flammen oder Frühling?
Ich bin nicht naiv. Das hier ist nicht Tunesien. Wir legen uns mit einer Macht an, die unbesiegbar ist. Der einzige Mensch in den USA, der mehr Morddrohungen erhält als George W. Bush, ist Michael Moore, der sich seit zwanzig Jahren für die Leute in diesem Land engagiert. Was sich aber extrem schnell geändert hat, ist die Art der Kommunikation.

Die Grossbanken kündigten im September an, auf Kreditkarten Zusatzgebühren von fünf Dollar zu erheben. Plötzlich nahmen das Millionen von Leuten nicht mehr hin. Die Occupy-Bewegung hat einen «National Bank Transfer Day» organisiert. Die Leute haben ihre Konten geschlossen und das Geld auf kleine Credit Unions transferiert. Wells Fargo, fuck you! Wir reden hier von über vier Milliarden Dollar im ganzen Land. In einem Land, das regiert wird durch Geheimabsprachen und Hinterzimmerdeals, ist direkte Demokratie die totale Revolution.

Sole

1999 gründete der 34-jährige Tim Holland alias Sole in Oakland das Label Anticon, um das sich verschiedene Bands formierten. Die Wirkung in der Szene, vor allem in der Indie-Rock-Szene, war enorm – etwa durch die Hip-Hop-Folk-Fusion «Why?». Soles Album «Selling Live Water» (2003) gilt als zentrales Werk des Avantgarde-Hip-Hop. Aktuell tourt Sole mit seinem neuen Album «Hello Cruel World» durch Europa.