Linke Opposition in den USA: Wer besetzt Occupy?
Das Label «Occupy» ist längst in Mode gekommen – so sehr, dass manche radikale AktivistInnen mittlerweile Exklusivität beanspruchen. Das jedoch verträgt sich schlecht mit den Grundsätzen einer offenen Bewegung.
Occupy Wall Street (OWS) war letzten Herbst ein Soforthit. Der OWS-Auftritt kam genau zur rechten Zeit (auf der Höhe der Wirtschaftskrise), am rechten Ort (im Herzen des New Yorker Finanzdistrikts), mit einer klaren Anweisung (Besetzen!) und einem starken Slogan («Wir sind die 99 Prozent!»). Vom ersten Tag an wollten viele zu OWS gehören – oder wenigstens vom neuen Trend profitieren. Der US-amerikanische Rapstar und Multimillionär Jay-Z etwa lancierte ganz ungeniert eine «Occupy»-Modelinie. Und in New York wurde für die beliebte US-Fernsehserie «Law & Order» ein fiktives Occupy-Camp aufgebaut – nur eine Woche nachdem die realen Occupy-AktivistInnen von der Polizei gewaltsam aus dem Zuccotti-Park vertrieben worden waren. Die Liste der feindlichen Übernahmen des Labels «Occupy» ist lang.
Unkraut im eigenen Garten
Bedeutsamer für die Zukunft von Occupy Wall Street ist aber das Verhältnis der Bewegung zu den aktuellen und potenziellen BündnispartnerInnen, kurz: zur US-Politik links der Mitte. Wie reagieren die bestehenden Organisationen und NGOs auf den Überraschungscoup von OWS? Sehen sie den neuartigen Protest als Konkurrenz oder Korrektur ihrer eigenen Politik? Wollen die ganz grossen Akteurinnen – die demokratische Partei und die Gewerkschaften – OWS im Wahljahr 2012 für sich vereinnahmen? Oder kann Occupy auch in diesen hierarchischen Organisationen Raum besetzen? Wird das neue linke Bündnis 99% Spring (vgl. «Der Frühling der 99 Prozent» im Anschluss an diesen Text) die Occupy-Bewegung wiederbeleben und verbreitern? Oder ist es bloss ein trojanisches Pferd mit unverdaulich systemkonformen Obama-WahlhelferInnen im Bauch?
Die anarchistisch-situationistische Gruppe von Adbusters, die Occupy Wall Street im Sommer 2011 ins Leben rief, präsentiert heute ein eher eindimensionales Feindbild: «Erst schwiegen sie unseren Aufstand mit einem Medienblackout tot. Dann demolierten sie unsere Camps mitten in der Nacht mit paramilitärischen Einsätzen. Und nun wollen sie unseren Widerstand heimtückisch mit Spendengeldern und Vereinnahmung brechen.» Noch düsterer ist die Einschätzung des Occupy-Aktivisten Mike King. Die Mitglieder der alten organisierten Linken seien doch alles «Zuhälter» und «faule Bürokratensäcke», behauptet er. Und das Bündnis 99% Spring sei nicht Teil des Aufstands, sondern Teil der Aufstandsbekämpfung, ein politisches Sicherheitsventil für die Mächtigen. King, der gegenwärtig an der University of California, Santa Cruz, zum Thema Occupy Oakland dissertiert, steigert sich in eine unheimliche Rhetorik hinein: «Es wird Zeit, das Unkraut in unserem Garten auszumerzen, damit das echte Engagement für soziale Gerechtigkeit zum Blühen kommt.»
Besetzt die Linke
Ähnlich ausgrenzende Äusserungen findet man in etlichen Blogs radikaler Occupy-Mitglieder. Sie gründen mehr oder weniger explizit auf zwei unbewiesenen politischen Annahmen. Erstens: OWS handle aus einer Position der politischen Schwäche heraus. Die Bewegung könne liberale PolitikerInnen und die grossen Medien kaum und die Repression der Polizei gar nicht beeinflussen. Also müsse sie wenigstens kontrollieren, was in den eigenen Reihen abgeht. Und zweitens: Die moderaten Linken und Linksliberalen seien der Hauptfeind. Wenn es diese Zauderer nicht gäbe, wären «die Massen» reif für die Revolution.
Von dieser sektiererischen Weltsicht ist es nicht weit bis zur dümmsten Parole, die eine offene Bewegung wie OWS ausgeben kann, nämlich «Defend Occupy», verteidigt Occupy. Wie besetzt man aus dem Schützengraben? Natürlich ist es ärgerlich, dass der Slogan «Wir sind 99 Prozent» mittlerweile von Hinz und Kunz und vor allem von demokratischen PolitikerInnen als rhetorische Floskel verramscht wird. Aber wer 99 Prozent der Bevölkerung ansprechen will, kann handkehrum nicht eine radikale Exklusivität für sich beanspruchen. Und sollte es auch nicht.
Occupy Wall Street kann und sollte auch die defätistischen und puristischen Tendenzen in den eigenen Reihen mit neuen politischen Inhalten besetzen. Und zwar offensiv, wie es dem Geist der ersten Tage entspricht. Denn zum einen hat OWS bereits Stärke bewiesen, als die Bewegung innerhalb kürzester Zeit die nationale Debatte der USA nach links verschob, von der Klage übers Defizit hin zur Diskussion über Arbeitslosigkeit und soziale Ungerechtigkeit. Und zum andern ist für die USA historisch belegt – etwa durch die schwarze Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre –, dass moderate Linke und Linksliberale eine Brücke zu den 99 Prozent und zu einem grossen und breiten Bündnis für den Fortschritt bilden können. Aus dieser demokratietauglichen Perspektive muss man dann nicht mehr ängstlich fragen, wer OWS besetzt, sondern kann sich überlegen, welche Themen, welche soziale Infrastruktur und etablierten Organisationen Occupy Wall Street besetzen oder zumindest neu aufmischen soll.
Die Frage der Vereinnahmung durch die etablierte Linke ist – insbesondere im Wahljahr 2012 – damit natürlich noch nicht aus der Welt geschafft. Aber handelt es sich nicht um ein grundsätzlich gutartiges Problem? Denn die enorme Popularität von Occupy und ihrem 99-Prozent-Slogan verschafft der jüngsten sozialen Bewegung einen nicht zu unterschätzenden Einfluss in der Politlandschaft links der Mitte.
Dass ein Zusammengehen der vertikal organisierten Gewerkschaften und der horizontal gebauten Basisbewegungen möglich ist, hat sich vielerorts bei gemeinsamen Aktionen zum diesjährigen 1. Mai gezeigt. In New York zum Beispiel demonstrierten und feierten OWS-AnhängerInnen, AnarchistInnen, ImmigrantInnen, GewerkschafterInnen und AktivistInnen gegen Rassendiskriminierung in seltener Eintracht.
Blockiert die Häfen
Im politischen Alltag mag das Zusammengehen komplizierter und konfliktreicher sein, aber auch da gibt es vielversprechende Ansätze wie die Geschichte von Occupy Oakland und der Hafenarbeitergewerkschaft International Longshore and Warehouse Union (ILWU) an der US-Westküste zeigt. Im Herbst 2011 eskalierten Occupy Oakland sowie benachbarte Occupy-AktivistInnen den schwelenden Arbeitskampf zwischen den organisierten Hafenarbeitern und dem Unternehmen EGT, einem riesigen multinationalen Getreidekartell. Am 2. November und am 12. Dezember 2011 blockierte Occupy West Coast den wichtigsten Westküstenhafen der USA, den Port of Oakland.
Occupy wollte mit diesen Aktionen die Arbeiter unterstützen, aber auch der eigenen – aus Oakland vertriebenen – Bewegung neuen Auftrieb verschaffen. Die ILWU-Vertrauensleute waren von diesem eigenmächtigen Vorpreschen damals alles andere als begeistert. Ausgerechnet die Occupy-Bewegung, die sich ständig gegen Vereinnahmung wehre, vereinnahme nun den Kampf der Gewerkschaft. Niemand habe ein Copyright auf den Arbeiterkampf, entgegnete Occupy. Ausserdem seien die Gewerkschaften zu zaghaft, weil sie die strengen Arbeitskonfliktgesetze des einen Prozents akzeptierten. Auch 2012 gingen die Auseinandersetzungen weiter. Sogar die US-Armee wurde zeitweise zum Schutz von Streikbrechern aufgeboten. Doch im Februar 2012 führte der immer besser koordinierte Druck von ILWU und Occupy-Sektionen im ganzen Land zu einem Vertrag mit EGT. Das sei auch ein Sieg für Occupy, sagt nun die ILWU-Führung, ohne die Unterstützung dieser breiten und aktiven Bewegung wäre der Erfolg nicht möglich gewesen. Occupy Oakland wiederum besteht darauf, dass die Occupy-Bewegung an keine Arbeitsverträge gebunden sei, und fordert darum nun: «Besetzt EGT!». Fortsetzung folgt.
Ein neues breites Bündnis: Der Frühling der 99 Prozent
In den USA macht ein neues linkes Bündnis von sich reden. Es nennt sich 99% Spring, Frühling der 99 Prozent, und umfasst etwa sechzig gewerkschaftliche, politische und soziale Organisationen. Im April bot dieser informelle Dachverband Kurse in gewaltfreiem Widerstand für rund 100 000 kritische BürgerInnen an – so wie einst das Martin Luther King und die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den sechziger Jahren getan hatten. Die frisch ausgebildeten und motivierten AktivistInnen belebten daraufhin prompt die in den USA bis vor kurzem eher marginalen 1.-Mai-Demonstrationen. Und am 10. Mai besetzten sie den Hauptsitz der Bank of America im US-Bundesstaat North Carolina und 200 Filialen im ganzen Land.
Ein Teil der US-Linken betrachtet das breite politische Spektrum und die Organisationsstruktur von 99% Spring als Verwässerung und Vereinnahmung, ja als Verrat an der ursprünglichen, strikt basisdemokratischen Occupy-Bewegung. Besonders heftig distanzieren sich die meist dezidiert ausserparlamentarischen KritikerInnen von der in der Frühlingsallianz einflussreichen BürgerInnenbewegung MoveOn. Vor vier Jahren habe MoveOn dem Präsidentschaftskandidaten Barack Obama zum Wahlsieg verholfen, nun versuchten dieselben Kreise, mittels 99% Spring die Protestbewegung Occupy Wall Street zu einer Wahlmaschine der demokratischen Partei umzufunktionieren.
Auch die starke Präsenz der Dienstleistungsgewerkschaft Service Employees International Union (SEIU) im neuen politischen Frühling ist für den radikalen Occupy-Flügel ein Problem, denn die US-Beschäftigtenorganisationen unterstützen seit je die demokratische Partei. Auf der Negativliste befindet sich ausserdem die Gruppe Rebuild the Dream, das linke Gegenstück zur Tea Party der RepublikanerInnen.
Doch bei 99% Spring beteiligen sich auch Basisorganisationen wie die National People’s Action, ein Netzwerk von lokalen Graswurzelinitiativen, oder die National Domestic Workers Alliance, eine Vereinigung von Care-ArbeiterInnen. Anders als in den Occupy-Zelten vor Ort sind ethnische Minderheiten und ImmigrantInnen im Frühling der 99 Prozent gut vertreten. Religiös motivierte Menschen protestieren da neben Umweltschützerinnen, Menschenrechtskämpfern und Bürgeraktivistinnen. Sie sehen 99% Spring als Erneuerung, Erweiterung und Stärkung des politischen Aufbruchs, der im letzten Herbst mit Occupy Wall Street so spektakulär begann – und der weder mit der Wahl von Barack Obama noch der von Mitt Romney im November zu Ende geht.