Cirque de Loin : Aufruhr im Zunfthaus

Nr. 47 –

ZirkusartistInnen und SchauspielerInnen erkunden im Zürcher Theater Neumarkt neue Formen des spielerischen Erzählens.

Zementieren der Verhältnisse in den Räumen der Hottingerzunft im ersten Stock, Aufrütteln ebendieser im zweiten: Seit der Gründung des Neumarkt-Theaters 1966 hat diese Konstellation im ehemaligen Zunfthaus am Zürcher Neumarkt eine Ironie. Unter der Leitung von Barbara Weber und Rafael Sanchez hat sich das Theater denn auch den augenzwinkernden Untertitel «Theater fürs Establishment» verpasst.

Und nun also hat in diesem Haus ein Zirkus sein Winterquartier aufgestellt. Statt in Wohnwagen in Oerlikon leben und arbeiten die Zirkusleute gut zwei Monate im Niederdorf. Das hat während der Proben zum Knatsch mit dem ersten Stock geführt. Nicht dass auch echte Tiere dabei wären – aber die aufrührerische Energie, die der Cirque de Loin ins Haus bringt, fühlt sich auch so eine Spur wilder an als jene des fortschrittlichen Sprechtheaters.

Auf der Strasse ruft ein Programmheftverkäufer, und vor dem Theatersaal spielt eine Band Roma-Musik: Wie wenig es braucht, um in das Zunfthaus so etwas wie Zirkusluft hineinzuzaubern! Wobei es sich beim Cirque de Loin ja nicht um einen klassischen Zirkus handelt, sondern um eine überaus vitale Mischung aus Musik-, Körper- und Erzähltheater.

Offener Spielplatz

«Marasa – musirque théâtre», das neue Stück der Truppe, ist der zweite Teil einer Trilogie, geschrieben von Reto Finger und inszeniert von seinem Cousin Michael. Dieser amtet zudem als Zirkusdirektor (und Sänger der Zirkusband). Als solcher führt er durch das Programm, das eigentlich ein mit zirzensischen Mitteln erzähltes und angespieltes Liebesdrama ist: die «Geschichte aus einem fernen Land», in dem sich ein Prinz und eine Bauerntochter ineinander verlieben und so in einen unlösbaren Konflikt mit den Konventionen geraten.

Das erinnert sehr an Shakespeares «Romeo und Julia», dient aber weniger zur Klärung der Frage, was «epische, tragische Romantik mit der Liebe im Jahre 2011 zu tun» haben könnte (Pressetext). Vielmehr eröffnet die Geschichte einen Spielplatz für allerlei zirzensische und szenische Experimente. In den besten Momenten bietet sie das Versuchsfeld für ein «totales Theater», in dem Grenzlinien zwischen Sprache und Bewegung, Geschlechterrollen (der Jongleur Kaspar Gross spielt die Bäuerin, Franziska Wulf den König), Alltag und Aufführung überschritten werden. Der Versuch, den Rahmen eines etablierten Kulturbetriebs mit den Möglichkeiten einer vagantischen Truppe zu erweitern, spiegelt sich also quasi im Inhalt: Auch darin wird versucht, standesgesellschaftliche Mauern aufzubrechen. Und so könnte es in diesem Stück auch darum gehen, die politische Grundsituation in der shakespeareschen Vorlage aus dem bürgerlich zurechtprivatisierten Rahmen zu befreien, ihr also die Brisanz zurückzugeben, die sich in der Zerstörung zwischenmenschlicher Beziehungen durch die herrschenden Verhältnisse offenbart.

Durcheinandergeraten

Die Frage, inwieweit sich gesellschaftliche Ungleichheiten heutzutage in Gleichgültigkeiten verschleiern und so Beziehungen in ihrem Kern zerrütten, wird in «Marasa» kaum gestellt. Umso mehr dient der Abend der Reflexion, wie das Sprechtheater aus dem etablierten Rahmen ausbrechen könnte: Wenn Anna von Grünigen (eine Zirkusartistin mit Spezialfach Handstand), die Darstellerin der Bauerntochter, bewegungslos im Raum steht und in hellem Berndeutsch in die Stille spricht, ist das ein Moment, wie man ihn selten erlebt im Sprechtheater; wenn sie am Punkt, wo es mit Sprache nicht mehr weitergeht, in einen Solotanz eintaucht, offenbart sich eine sprachlose Traurigkeit, wie man sie im Zirkus kaum je sieht; und ganz zum Schluss, wenn das Publikum vom Zirkusdirektor eingeladen wird, sich mit den KünstlerInnen an den Tisch zu setzen, an dem während der Vorführung eine Köchin Gemüse gerüstet und gedämpft hat, werden die Grenzen zwischen dem Alltag der ZuschauerInnen und dem Schicksal der Figuren für einen Moment aufgehoben – man findet sich in einem Raum, in und aus dem so manches durcheinandergeraten könnte.

In diesem Moment nährt sich der Verdacht, dass sich die gesellschaftlichen Vorstellungen doch eher mit den Mitteln einer Zirkustruppe verändern liessen als mit einem noch so revolutionären Sprechtheater. Und so wünscht man sich eine Fortsetzung des Experiments. Vielleicht ja sogar mit echten Tieren.

«Marasa» in: Zürich Theater Neumarkt. Vereinzelte Vorstellungen bis 31. Dezember, 
je 20 Uhr. Um 22 Uhr findet jeweils 
ein «Bettmümpfeli» (mit AutorInnen) oder 
eine «Stubete» (mit Bands) statt. 
www.theaterneumarkt.ch