Fumoir: Schweizer Tugenden

Nr. 51 –

Yusuf Yesilöz über einen globalen Exportschlager

Kaum trat ich über die Türschwelle des Ladens, wurde ich von einer lautstarken Diskussion zwischen dem Ladenbesitzer Ferhad und seinem Stammkunden Florian, dem Musiklehrer, begrüsst. Die beiden debattierten ernsthaft und so heftig, als würden sie um das allerletzte Brot kämpfen. Florian war im Gesicht schon rot angelaufen, und aus Nervosität spielte er mit seinem silbernen Ohrring. Ferhad hinter der Theke, der sonst Kunden wie seinen eigenen Augapfel liebt, hörte nicht einmal, dass ich einen Espresso bestellte.

Ich setzte mich an die Bar, hörte dem Gespräch zu. Das streitbare Thema war folgendes: Ferhad, der frühere Revolutionär, hatte an jenem Morgen in der türkischen Zeitung gelesen, dass an der Istanbuler Börse ein gigantischer Korruptionsskandal aufgeflogen war. Mehrstellige Millionenbeträge seien in die Schweiz geflogen und dort auch schon verduftet.

Den letzten Satz sprach Ferhad mit recht schadenfroher Stimme. Er zählte auch noch diverse andere Peinlichkeiten der vergangenen Woche in der Schweiz auf, sprach vom gescheiterten Bundesratskandidaten einer Partei, die wegen der Erbschleicherei eines kleinen Mannes Schlagzeilen machte, während ihre besten Funktionäre Lügen zu ihrem Motto gemacht hätten. Er freue sich aber, sagte Ferhad, dass der grosse Fisch namens Schweizerische Volkspartei jetzt vom Kopf her zu stinken beginne.

Florian nippte an seiner leeren Kaffeetasse. Mit etwas Bitterkeit in der Stimme sagte er, als er wieder mal drankam, er hoffe, dass Ferhad endlich lerne, nicht nur von dieser peinlichen rechten Ecke zu sprechen, wenn er über seine Wahlheimat etwas zu erzählen habe. Das Land habe nämlich beste Persönlichkeiten hervorgebracht. Florian begann im Schnelltempo mindestens zwanzig Namen aufzuzählen, als letzten nannte er den Hitler-Attentäter, an dessen Namen er sich im Moment aber nicht erinnern konnte.

Weil mir klar war, dass die besten Freunde sich auch am nächsten Tag dem gleichen Thema widmen würden und diese Diskussion ein Teufelskreis ist, mischte ich mich zur Ablenkung ein, denn eigentlich ich wollte nur meinen Espresso bekommen. Unser Land habe noch viele andere Tugenden, erzählte ich, es exportiere beispielsweise jährlich 7.5 Billionen Spermien in die Welt, was ein globaler Exportrekord sei. «Millionen was exportiert die Schweiz?», fragten beide im Chor, höchst erstaunt.

«Nicht Millionen, sondern Billionen von Spermien exportiert der Schweizer Genetikanbieter, der in den letzten zehn Jahren seine Spermienexporte verfünffacht hat, und jetzt will die Firma den Markt in China erobern», berichtete ich mit Stolz. Beide Männer standen reglos und sprachlos da, als hätte jemand ihnen die Zunge rausgeschnitten.

Ferhad hatte die türkische Börse längst vergessen, er wollte nur noch wissen, wie so etwas gehe. Ich erklärte: «Das heisst, dass der Schweizer Unternehmer die Spermien eines Ochsen in eine Dose fliessen lässt. Und eine Dose mit fünfzehn Millionen Spermien reicht für die Besamung einer Kuh, die hinter der chinesischen Mauer je nach Art der inseminierten Spermien ein Kalb der Rasse ‹Simmental›, ‹Red Holstein› oder gar ‹Brown Swiss› gebären wird.»

Das sei ja mega krass, rief Florian. Ich legte ihm den Zeitungsartikel auf die Theke, den er sofort verschlang. Mit Genugtuung im Blick schaute er auf Ferhad, der sich unterdessen wieder seinen Dönerspiessen zugewandt hatte. Aus Respekt vor meinem vielfältigen Schweizerwissen lud mich Florian zu einem zweiten Espresso ein. Ferhad wünschte uns beiden zum Abschied noch «Froi Wienachte».

Yusuf Yesilöz ist Schriftsteller und 
Filmemacher in Winterthur.