Immer und ewig: Zauberer Vaclav und die Guetzli
Eigentlich wollte ich am Sonntagnachmittag im Internet nur rasch nachschauen, ob die Tschechen im Eishockey gegen die Russen gewonnen hatten. Aber dann las ich, dass Vaclav Havel gestorben war. Ich schaltete den Computer aus und ging in die Küche, wo eine Schale voller Weihnachtsguetzli auf dem Tisch stand.
Vor 22 Jahren stand schon einmal eine Schale voller Weihnachtsguetzli auf dem Küchentisch – in der Wohnung meiner böhmischen Grosseltern. Die sassen damals auf dem Sofa im Wohnzimmer und schauten fern. Den ganzen Tag lang. «Ihr kriegt noch viereckige Augen», sagte ich zu ihnen, aber sie hörten mir nicht zu. Gut, dachte ich, damals knapp neun Jahre alt, und schlich in die Küche, wo ich mich über die Guetzli hermachte, bis mir schlecht war. Die wirkliche Strafe für meine Völlerei würde aber noch folgen, dachte ich, denn meine Grosseltern waren beim Thema Essen sehr heikel. Jedoch, es geschah nichts. Im Gegenteil: Wann immer ich im Dezember 1989 bei meinen Grosseltern war, durfte ich so viele Guetzli essen, wie ich wollte. Und das mit den viereckigen Augen glaubte ich fortan keinem Erwachsenen mehr.
Am 28. Dezember 1989 geriet die Welt dann komplett aus den Fugen. Ich sah meinen Grossvater weinen. Still und leise rannen ihm die Tränen über seine Backen und tropften auf den schweren Perserteppich. Ich rannte zu ihm hin und wollte ihn trösten. Er aber nahm mich lachend – und gleichzeitig weinend – auf den Schoss und zeigte auf den Bildschirm. Ich sah einen Mann mit Schnauz, der rauchte. «Schau nur, das ist Vaclav Havel! Der Schriftsteller. Unser neuer Präsident. Im nächsten Sommer besuchen wir ihn auf seiner Burg in Prag!»
Vaclav Havel wird für mich immer auch der Zauberer sein. Er war es, der meinen starken Grossvater zu Tränen rührte und mir volle Guetzlischalen bescherte. Und Havel öffnete mein Tor zu Prag, das für immer verschlossen schien.
Am vergangenen Sonntag habe ich später doch noch nachgeschaut. Die Tschechen hatten die Russen tatsächlich geschlagen. Die Guetzlischale war da schon leer. Mir war wieder schlecht, aber es fühlte sich gut an.