Terror in Paris, Brüssel, Manchester Drei Betroffene erinnern sich.

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Das legendäre Pariser Konzertlokal Bataclan, die Brüsseler Metrostation Maalbeek, die Manchester Arena – drei Schauplätze von islamistisch motivierten Terroranschlägen in Europa. Drei Menschen, die direkt von den Attentaten betroffen waren, erzählen: der Student Paul Hugo Voisin, in dessen Wohnung über dem «Bataclan» im November 2015 Dutzende KonzertbesucherInnen flüchteten und so den Anschlag überlebten, dem in ganz Paris 130 Menschen zum Opfer fielen; die EU-Kommissionsmitarbeiterin Jaana Mettala, die auf dem Weg zur Arbeit war, als im März 2016 in ihrer Metrostation eine Bombe hochging – sie überlebte mit schweren Verletzungen; die Psychotherapeutin Figen Murray, deren Sohn Martyn im Frühjahr 2017 beim Anschlag auf die Manchester Arena ums Leben kam, wo 21 weitere KonzertbesucherInnen sowie der Attentäter starben.

«Ich wollte nur, dass es vorbeigeht und wir lebend davonkommen» Paul Hugo Voisin (29), Paris

Eigentlich begann der Abend des 13. November 2015 wie jeder andere. Ich spielte ein bisschen am Computer, und mein Vater schaute das Fussballspiel Frankreich gegen Deutschland. Wir wohnten schon seit vier Jahren im Dachgeschoss über dem Konzertlokal Bataclan, ein besonderer Wohnort, aber in der Wohnung bekam man von den Konzerten nichts mit. Plötzlich hörte ich das Geräusch von Schüssen auf der Strasse, und weil ich nicht begriff, was da vor sich ging, schaute ich aus dem Fenster. Dort rannten Menschen herum, aber mein Vater sagte, es sei gerade ein Tor gefallen, vielleicht sei es einfach der Freudentaumel. Doch als ich im Schlafzimmer nachsah, wo eine Feuertreppe an unserem Fenster vorbeiführt, drängten sich dort Menschen in Panik.

Ich öffnete das Fenster, ein Wachmann sagte, da unten seien Typen, die auf sie geschossen hätten. Ich schleuste die Leute durch das Fenster ins Wohnzimmer, es waren vierzig, vielleicht fünfzig, die sich über diesen Weg in Sicherheit bringen konnten, bevor die Terroristen in die oberen Etagen gelangten. Die Leute sassen überall auf dem Boden, wir löschten das Licht und es herrschte völlige Stille. Eine Frau, die durch Schüsse an der Schulter verletzt worden war, blutete stark. Ich drückte ihr ein Stück Stoff auf die Wunde und legte sie in ein Bett.

Irgendwann klingelte mitten in die Stille mein Festnetztelefon, und ich eilte an den Apparat, einfach damit das Klingeln aufhört. In der Leitung war eine Journalistin, die irgendwie an unsere Telefonnummer gekommen war, aber ich legte sofort wieder auf. Wie lange wir schweigend im Dunkeln sassen, kann ich kaum sagen, vielleicht eine knappe Stunde. Alles kam mir unwirklich vor, ich versuchte, ruhig zu bleiben, denn ich fühlte mich verantwortlich für das Leben der Leute. Ich wollte nur, dass es schnell vorbeigeht und dass wir lebend davonkommen.

Als es dann noch einmal doppelt so viele laute Detonationen gab, begriff ich, dass es sich wohl um die polizeiliche Befreiungsaktion handeln musste. Dann verstummten die Schüsse, und irgendwann sah ich durch den Flur im leeren Schlafzimmer den Schein von Taschenlampen. In meinem Kopf redete ich mir ein: Terroristen mit Taschenlampen, das wäre schon komisch, das muss die Polizei sein. Im Flur sass ein Mann mit einem weissen Schal. Diesen Schal schnappte ich mir beim Vorbeigehen, ohne gross drüber nachzudenken, wie in einem alten Western, etwas Weisses, als Zeichen, dass ich mich ergebe. Die Beamten brüllten mich an, ich hörte die Worte «Geiseln, Geiseln?», und ich schrie, so laut ich konnte, «nein, nein!» und versuchte, alles zu erklären.

Die Taschenlampen blendeten mich, ich senkte den Blick und auf meinem Oberkörper waren überall rote Punkte zu sehen, denn ihre Gewehre waren alle auf mich gerichtet. «Das ist jetzt verdammt ernst, du musst ruhig bleiben!», war mein erster Gedanke, denn sie wussten ja nicht, ob ich zu den Attentätern gehörte. Sie schrien, ich solle mein T-Shirt hochziehen, um sicherzugehen, dass ich keinen Sprengstoffgürtel trage. Ich riss mir das T-Shirt vom Leib und schmiss es auf den Boden. Dann erst haben sie verstanden, dass ich keine Gefahr darstellte, und stürmten in die Wohnung. Den Leuten sagte ich, die Polizei sei da, und sofort gab es eine Welle von Stossseufzern, «oh verdammt, endlich, ja!» – eine kollektive Erleichterung. Wenig später stand ich mit nacktem Oberkörper auf der Strasse, mein pflegebedürftiger Vater wurde am Ende herausgetragen. Wir gingen zu einem Freund, bei dem wir ein paar Tage unterkamen. Ich meldete mich bei der Polizei, um zu berichten, was in der Wohnung passiert war.

In den folgenden Monaten hatte ich immer wieder Angstzustände, Zitteranfälle. Ich dachte, sie kennen mich, sie werden zurückkommen, um sich an mir zu rächen, weil ich sie daran gehindert habe, noch mehr Menschen zu töten. Von den vierzig oder fünfzig Leuten, die bei mir Unterschlupf gefunden hatten, habe ich keinen wiedergesehen, aber einige schrieben Briefe, um sich zu bedanken. Ich verliess Paris ein Jahr später, wie ich es schon seit langem geplant hatte, aber vorher ging ich noch auf ein Konzert ins «Bataclan», mein allererstes dort. Der Saal war renoviert worden, meine Angstzustände waren weg und während des Konzerts waren auch die Gedanken an den Anschlag verschwunden. Protokoll: Romy Strassenburg

«Sie ist Maylie, und sie wird leben!» Jaana Mettala (49), Brüssel

Der 22. März 2016 war ein Dienstag. Ich war im siebten Monat schwanger und unterwegs zu meiner Arbeit in der EU-Kommission. Kurz bevor ich in die Metro stieg, simste mir eine Cousine aus Schweden: «Furchtbar, was am Brüsseler Flughafen passiert ist. Sieht aus wie ein Terroranschlag.» In der Station Maalbeek, in deren Nachbarschaft mein Arbeitsplatz liegt, traf ich eine Kollegin. Weil die Rolltreppe kaputt war, gingen wir zur Treppe.

Als wir gerade hochgehen wollten, kam die Explosion. Ich wurde zu Boden geworfen. Um mich herum waren Flammen, nur wenige Meter entfernt. Alles war schwarz und voller Rauch. Ich wusste, ich musste dort raus, falls es eine zweite Explosion gäbe. Wie schwer ich verletzt war, realisierte ich nicht, mein einziger Gedanke war: «Das Baby!»

Ich schaffte es nach draussen. Ein Krankenwagen brachte mich in die Sint-Jan-Klinik. Ich hatte schwere Verbrennungen an Händen und Beinen und im Gesicht. Ein Arzt in der Notfallstation schlug vor, dass ein plastischer Chirurg sich meine Hände ansehen solle. Der Chirurg riet zu einer Fasziotomie. Das rettete meine Hände. Die Verbrennungen waren so schwer, dass man zumindest die rechte Hand hätte amputieren müssen, wäre es zu einer Nekrose gekommen.

Nach der Operation wurde ich beatmet und war verpackt wie eine Mumie. Noch am selben Tag brachte man mich ins Universitätskrankenhaus Leuven. Am dritten Tag wurde ich aufgeweckt. Erst da wurde mir klar, dass ich hätte sterben können. Bis dahin war das Baby mein einziger Fokus gewesen. Dreimal täglich wurde sein Herzschlag überprüft, es gab kein Problem. Ein Wunder! Aber man fürchtete, all das Morphium, das sie mir gaben, könnte das Baby süchtig machen. Meine Emotionen unterdrückte ich. Ich weinte nie. Ich wollte ruhig bleiben, für mein Kind.

Kurz vor dem Anschlag hatten wir erfahren, dass es ein Mädchen ist, und uns auf den Namen Maylie geeinigt. Als sie mich im Krankenhaus fragten, ob es ein Junge oder ein Mädchen sei und ob wir schon einen Namen hätten, wollte ich am liebsten schreien: «Sie ist Maylie, und sie wird leben!» Am 1. Juni wurde sie geboren, per Kaiserschnitt, zwei Tage vor meinem eigenen Geburtstag. Um 9.12 Uhr. Das war sehr symbolisch für mich: Der Anschlag war um 9.11 Uhr geschehen. Ein Sieg des Lebens!

Jedes Jahr im März feiere ich mein Überleben nun als zweiten Geburtstag. Aber nicht am 22., denn an diesem Tag gedenke ich der Toten und ihrer Angehörigen. Ich engagiere mich bei der Stiftung Life4Brussels, die die Opfer der Anschläge unterstützt. Wenn ich am Monument in Maalbeek Botschaften wie «Wir werden dich nie vergessen» sehe, ist das sehr hart für mich: dieser Kontrast zwischen meiner Dankbarkeit, am Leben zu sein, und ihrem Schmerz! Ich fühle einen enormen Schmerz für alle, die dort getötet wurden.

Meine Tochter weiss, dass ich verletzt wurde, als sie in meinem Bauch war, und dass sie mein Antrieb war, dies alles durchzustehen, samt den vier Monaten im Krankenhaus. Ich weiss nicht, welche Konsequenzen das hat, was sie fühlte. Was für Fragen wird sie irgendwann stellen? Meine zweite Schwangerschaft brachte Traumata wieder hoch. Darum bin ich nun sehr mit der zweiten Phase meiner Genesung beschäftigt. Unser kleiner Junge, Mathias, wurde im November 2019 geboren. Es ist fantastisch, die beiden zu haben.

Die Probleme an meiner rechten Hand werden immer bleiben: weniger Gefühl, eine Taubheit, wie eingeschlafen. Ich kann Dinge nicht gut fangen, die Hand schliesst nicht richtig, manche Nägel fehlen. Ein Handicap, mit dem ich mich jeden Tag herumschlage. Das löst Frust aus, Wut, Trauer, das Gefühl, dass mir ein Teil der ersten Schwangerschaft genommen wurde. Auch die Zeit mit meiner neugeborenen Tochter war nicht, wie sie hätte sein sollen: Ich konnte sie kaum hochheben und halten. Bei meinem zweiten Baby wurde mir das schmerzhaft bewusst.

Manchmal auf der Strasse habe ich dunkle Gedanken, dass jemand mit einem Messer auf mich einsticht und ich diesmal nicht überlebe. Ich leide an Klaustrophobie, Angst, dass mein Körper eingeschlossen ist oder dass ich nicht atmen kann. Covid hat das verstärkt. Ich hatte grosse Angst, mich anzustecken, wieder beatmet werden zu müssen. Deswegen konnte ich seit der Geburt meines Sohnes noch nicht wieder arbeiten. Ich käme wohl infrage für eine Invalidenrente. Aber im Herbst will ich zurück in meinen Beruf. Protokoll: Tobias Müller

«Ich will diesen destruktiven Kreislauf durchbrechen» Figen Murray (60), Manchester

Als der Selbstmordattentäter am 22. Mai 2017 um 22.31 Uhr in der Manchester Arena seine Bombe zündete, war ich schon im Bett. Meine Tochter weckte mich auf und sagte mir, dass mein Sohn Martyn zum Konzert in die Arena gegangen sei und dass seine Freunde ihn nicht finden könnten. Schon in jener Nacht spürte ich, dass mein Sohn nicht mehr am Leben war. Offiziell informierte uns die Polizei am folgenden Abend, dass Martyn unter den 22 Todesopfern des Anschlags war.

Bis zu jenem Tag arbeitete ich als Psychotherapeutin, führte meine eigene Praxis und war sehr erfolgreich. Aber ich wusste, dass ich nicht weitermachen konnte: Es wäre meinen Patienten gegenüber nicht fair gewesen. Ich war mir sicher, dass es immer eine kleine, leise Stimme in meinem Kopf geben würde, die ihnen vorwirft: «Beklag dich doch nicht, wenigstens bist du am Leben.» Mit dieser Haltung ist es schlicht unethisch, als Therapeutin zu arbeiten. Ich gab den Job auf.

Das erste Jahr nach Martyns Tod verbrachten wir in tiefer Trauer, wir gingen kaum aus. Etwa achtzehn Monate nach dem Anschlag besuchten mein Mann und ich ein Konzert, und ich war überrascht, dass es überhaupt keine Sicherheitsmassnahmen gab – nicht einmal unser Ticket wurde kontrolliert. Das schockierte mich sehr, denn ich war davon ausgegangen, dass die Sicherheitsvorkehrungen nach dem Anschlag überall verstärkt worden waren. Ich entschloss mich, eine Kampagne zu starten, um Sicherheitsmassnahmen an öffentlichen Anlässen obligatorisch zu machen. Seit 2014 haben sich die Methoden der Terroristen geändert, es gibt viel mehr Anschläge von Einzeltätern, und darum sind solche Massnahmen wichtig.

Natürlich will ich nicht, dass sämtliche Veranstaltungsorte Metalldetektoren oder Körperscanner haben, aber je grösser das Event, desto gründlicher sollten die Sicherheitsmassnahmen sein – um zu verhindern, dass noch mehr Menschen sterben wie mein Sohn. Meine Kampagne für eine entsprechende Gesetzesänderung war bislang erfolgreich, die Vernehmlassung ist vorbei, hoffentlich wird sich das Unterhaus bald damit beschäftigen.

Nach dem Anschlag schauten wir kein Fernsehen, es war zu schmerzhaft. Aber einige Tage danach sah ich auf meinem Wohnzimmertisch eine Zeitung. Auf der ersten Seite war der Attentäter abgebildet. Ich erstarrte und dachte: «Mein Gott, du bist so jung! Warum um Himmels willen tust du so etwas? Wieso jagst du dich selbst in die Luft und reisst alle diese anderen Menschen mit in den Tod? Etwas Schlimmes muss in deinem Leben geschehen sein.» Damals fasste ich den Entschluss, mit jungen Menschen zu reden, sobald ich emotional in einer besseren Verfassung sein würde.

Ich habe seither unzählige Schulen besucht und vor über 10 000 Schülerinnen und Schülern gesprochen: über die Taktiken der Terroristen und Onlinerekrutierer und darüber, wie man Hilfe erhält. Und ich spreche noch von etwas anderem: vom Wert der Nächstenliebe. Davon, dass man sich vor Menschen, die anders sind, nicht zu fürchten braucht, sondern sie als Bereicherung sehen sollte. Dass Neugier für andere Kulturen und Lebensweisen etwas Positives ist. Ich rede von moralischen Werten und davon, wie wichtig sie im Leben sind. Unsere Generation hat viele Fehler gemacht – ich denke an den Klimawandel und die unzähligen Konflikte, die wir derzeit erleben. Ich sage den Kindern: «Ihr seid die Erwachsenen der Zukunft, macht es besser als wir.»

Einige Wochen nach dem Tod meines Sohnes entschied ich, mich nicht von Hass und Wut zerfressen zu lassen – ich will diesen destruktiven Kreislauf durchbrechen. Den Ausschlag gab ein weiterer Anschlag, wenige Wochen nach der Manchester-Attacke. Ein rechtsextremer Brite hatte in London einen Kleinlaster in eine Gruppe von Muslimen gefahren und einen Menschen getötet. In der Zeitung war ein Bild zu sehen, auf dem fünf Muslime, darunter ein Imam, den am Boden liegenden Attentäter vor Racheakten schützten. Sie sagten: «Nein, rächt euch nicht an diesem Mann, er wird seine Strafe durch ein Gericht erhalten.» Das machte einen tiefen Eindruck auf mich. An jenem Abend sagte ich zu meinem Mann: Ich werde im Fernsehen auftreten und dem Terroristen, der meinen Sohn getötet hat, öffentlich vergeben. Genau das habe ich getan. Und ich bin noch immer froh, dass ich es getan habe. Protokoll: Peter Stäuber