Weihnachtslieder im Pub: Bier zwischen den Strophen

Nr. 51 –

Wer den Text nicht parat hat, darf radikaldemokratisch mitsummen: In Nordengland wird Weihnachten mit einer widerständigen Gesangstradition gefeiert. Mittlerweile geht die Kirche damit gelassener um.

Im Nebenzimmer eines Pubs in Ecclesfield, einem Vorort von Sheffield, sitzen drei Dutzend Gäste bestens gelaunt an runden Tischchen. Auf einmal klopft jemand an ein Bierglas und ruft einen Titel aus. Emsig wird in Notenbüchern geblättert. Ist das Lied gefunden, hebt der Striker – der Vorsänger – mit kräftiger Stimme an, und alle stimmen ein. Was nun ertönt, ist nicht ein dumpfes Sauflied, sondern ein fein gedrechseltes «Christmas Carol», ein Weihnachtslied, und das in recht anspruchsvoller Mehrstimmigkeit.

So geht es im «Black Bull» im Advent jeden Donnerstagabend her. Im Norden von England – genauer in Süd-Yorkshire, im Peak District von Derbyshire und in Nottinghamshire – ist eine Tradition lebendig, die um die Weihnachtszeit zum Vorschein kommt. Dann trifft sich die Bevölkerung in den Pubs ihrer Ortschaften, um ganz spezielle Christmas-Carols zu singen: lokale Weihnachtslieder, die es sonst nirgendwo gibt.

Gehütet wie ein Schatz

Das Carol-Singen im Pub ist eine radikaldemokratische Musiktradition: Jeder kann mitmachen. Eine Aufnahmeprüfung gibt es nicht. Wer Lust hat, kommt dazu. Man braucht nur in die Melodie einzustimmen, und sollte man den Text nicht parat haben, summt man leise mit.

Die meisten singen nach Gehör. Die Notenblätter dienen eher der groben Orientierung. Oft helfen sie auch gar nicht weiter, weil die Carols in jedem Dorf etwas anders klingen. Die Texte können variieren, Melodie und Stimmführung ebenso. Meistens wird ohne Instrumentalbegleitung gesungen. Nicht so im Royal Hotel in Dungworth (Süd-Yorkshire), wo eine Orgel begleitet und zwischen den Strophen zum Zwischenspiel anhebt – was die Chance bietet, mal kurz am Bier zu nippen.

Früher wurde das Carolling von losen Gruppen ausgeübt. Sie zogen durch Matsch und Schnee, mit Geige, Klarinette und Konzertina, um in Häusern und Farmen die Weihnachtslieder zum Besten zu geben. Als Belohnung gab es ein Trinkgeld und ein paar Mince Pies, das traditionelle Süssgebäck.

Die örtlichen Carols wurden wie ein Schatz gehütet. In der Chronik von Warroll in Süd-Yorkshire findet sich der Fall eines versuchten Musikdiebstahls vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Gruppe The Big Set musizierte in der Vorweihnachtszeit im Dorf und auf den umliegenden Höfen. Eines Tages soll sie von einer Person aus dem nahen Stannington beschattet worden sein, die die Lieder mitnotierte. Um dem Spion das Leben schwer zu machen, wurde jede Strophe in einer anderen Version gespielt.

Die Rivalitäten leben bis heute fort. Jedes Dorf schwört auf seine Versionen. SängerInnen aus dem «Black Bull» können dem eher gemächlichen Stil, wie er im Pub Blue Ball in Warroll gepflegt wird, wenig abgewinnen. «Klingt wie ein Trauermarsch. Da schläft man ja ein.» Dagegen schwören die Carolers aus Warroll auf ihren getragenen Gesangsstil, Orgelbegleitung inklusive – für die PubsängerInnen aus Ecclesfield ein Unding. Hier ist man stolz darauf, dass man auch ohne Instrument die Noten trifft.

Aus der Kirche verbannt

Die Liedtradition reicht mehr als 200 Jahre zurück. Inspiriert von der Musik Georg Friedrich Händels schrieben Laienkomponisten Ende des 18. Jahrhunderts mehrstimmige Kirchenlieder mit eingängigen Refrains im volksbarocken Stil. Niemand störte sich daran, wenn die MusikantInnen, die samstagabends zum Tanz aufspielten, am nächsten Morgen in der Kirche dieselben Lieder schmetterten.

Den Reformern des viktorianischen Zeitalters war so viel pralles Leben ein Dorn im Auge. Sie zogen in der zweiten Hälfte des 
19. Jahrhunderts aus, den Unterklassen ihre vermeintlich schlechten Sitten auszutreiben und sie zu braven Untertanen zu erziehen. Das traditionelle Liedgut wurde mit einem Bann belegt und gegen unverfänglichere Melodien ausgetauscht. Damals wurde das liebliche «Stille Nacht» aus Österreich importiert.

Damit gaben sich die Autoritäten noch nicht zufrieden. In Ecclesfield wurde 1826 der Musikkapelle die Tür gewiesen. Ein Harmonium trat an ihre Stelle. Später wurde der Chor aus der Kirche verbannt und durch Sängerknaben mit weissen Gewändern und hochgestellten Kragen ersetzt, die diskret ihre Gesangsbücher hielten und vornehm und fein intonierten.

Doch still und leise gingen die «Säuberungen» nicht über die Bühne. Nicht nur in Ecclesfield schlugen die Emotionen hoch. In vielen Dörfern gab es Proteste und Sabotageakte. Kirchen blieben leer, Gemeindemitglieder sassen Woche für Woche mit geschlossenen Lippen da. Die alten Carols, geächtet und heimatlos, wurden weiterhin im Dorf gesungen, bis sie in den Pubs eine permanente Zufluchtsstätte fanden.

War das Carol-Singen im Pub früher reine Männersache, nehmen inzwischen genauso viele Frauen daran teil. Auch hat die Kirche gelernt, gelassener damit umzugehen. Allerdings kann der Zwist sofort wieder aufflammen, wenn sich ein neuer Pfarrer allzu puritanisch gibt und sich gegen die Carols sperrt. Damit aber macht man sich in Sheffield und Umgebung keine FreundInnen.

Mittlerweile hat auch die Folkszene die Christmas Carols entdeckt. Etliche FolksängerInnen haben das eine oder andere Lied ins Repertoire genommen. Ob The Watersons, Kate Rusby oder das Gesangstrio Coope Boyes & Simpson – alle greifen die lokalen Carols wieder auf und sorgen dafür, dass die Tradition an Popularität gewinnt.

CD: «English Christmas Carols». 
Smithsonian Folkways.

Im Radio: «Weihnachtslieder im Pub – eine Singtradition aus Nordengland», DRS 2, 
Fr, 23., 21–22 Uhr, und Mi, 28. Dezember, 
16–17 Uhr.