Filmfestival Havanna: Leonardo in der Gefängniszelle

Nr. 2 –

Kubas grösster jährlicher Kulturanlass strahlt weit über die Landesgrenzen hinaus. Doch die jüngste Ausgabe des internationalen Filmfestivals Havanna zeigte Tendenzen, die nicht gerade optimistisch stimmen.

«Im heutigen Kuba von Raúl Castro gibt es keine offene Repression gegen Kulturschaffende, es gibt heute mehr Ausdrucksfreiheit als je zuvor – trotzdem ist die Stimmung nicht gut.» Jorge-Luis Sánchez (51), Filmregisseur und seit dreissig Jahren im Kulturbetrieb Kubas tätig, beschreibt ein Paradox. Für ihn ist jener Eklat kein Zufall, der sich just vor dem kürzlich zu Ende gegangenen Havanna-Filmfestival 2011 ereignete: Gleich zwei bekannte Regisseure, Eduardo del Llano und Enrique Colina, nahmen ihre Filme unter Protest aus dem Programm, und der dritte, Enrique Pineda Barnet, reichte seinen neuen Film gar nicht erst ein.

Zwar wären heute Fälle wie jener von «Alicia en el Pueblo de Maravillas», bei dessen Kinopremiere 1991 eigens mobilisierte Schlägertrupps der Partei die Aufführung gestört hatten und der Film danach umgehend aus den Kinos entfernt wurde, nicht mehr möglich. «Aber die Strukturen von damals sind die gleichen, auch wenn der Staatschef ein anderer ist», sagt Sánchez. Es sei skandalös, dass der 86-jährige Festivaldirektor Alfredo Guevara seit der ersten Ausgabe von 1979 zwar unumschränkter Herrscher über das Festival sei, sich selbst aber schon seit Jahren keine Filme mehr ansehe. «Ich kann das aus eigener Anschauung bestätigen, ich habe lange genug mit ihm gearbeitet», so Sánchez. Die sechs Mitglieder der Auswahlkommission seien mehrheitlich Funktionäre, nicht Filmfachleute. Ihre Tätigkeit bestehe im Werweissen, welche Filme dem Geschmack Alfredo Guevaras wohl entsprechen könnten. Sánchez bestreitet nicht das Recht der Kommission, Filme abzulehnen. «Aber diese Leute sollen bitte seriös arbeiten.»

Szenenwechsel: Gespräch mit der Bloggerin und Journalistin Miriam Celaya (51). Sie betreibt den Blog SinEvasion und exponiert sich mit vollem Namen und Foto mit ihren regimekritischen Kommentaren und Beobachtungen. Für sie hat die kubanische Regierung längst jeglichen Kredit verspielt, und im Gegensatz zum Filmregisseur Sánchez hat Celaya auch keinerlei Vertrauen in Raúl Castro. Sie hat sich Eduardo del Llanos Spielfilm «Vinci» angesehen, der zwei Tage vor Beginn des Filmfestivals in einer einmaligen Vorpremiere in Havanna gelaufen war, und zeigt sich begeistert.

Der Film ist ein historisches Kammerspiel, angesiedelt im Jahr 1476, und entwickelt sich ausschliesslich in einer Gefängniszelle. Dorthin wird der junge Leonardo da Vinci aufgrund einer Denunziation geworfen, und dort muss er sich gegen die Vergewaltigungsversuche durch einen alternden Mörder und einen kranken Räuber zur Wehr setzen – allein mit Hilfe seiner Intelligenz und mittels seiner künstlerischen Fähigkeiten. Wenn man die Gefängniszelle als Metapher für Kuba ansieht, so ist das wohl nicht völlig falsch.

Miriam Celaya lobt Eduardo del Llano in den höchsten Tönen. Den Entscheid der Festivalleitung, den Film nur in einer unbedeutenden Nebensektion zu zeigen, hält sie für gezielt politisch: «Eduardo ist blitzgescheit und höchst charismatisch – zwei Eigenschaften, die dem Regime äusserst suspekt sind. Da ist es klar, dass man jemanden wie ihn so weit wie möglich unsichtbar machen will.» Markenzeichen von Raúl Castros Regierungsstil sei es, Repression nicht mehr mit spektakulären Aktionen, wie etwa mit Schauprozessen, auszuüben, sondern quasi niederschwellig. Etwa, indem man Leute für einen Tag oder auch nur einen halben verhafte, um sie von einem kulturellen oder politischen Anlass fernzuhalten.

Fasziniert von den BloggerInnen

Als Beispiel erwähnt Miriam Celaya das Undergroundfestival Poesía Sin Fin, das in der zweiten Dezemberhälfte zum 13. Mal stattfand. Bis vor zwei Jahren ging das Festival noch in einem staatlichen Kulturzentrum in einer tristen Plattenbausiedlung im Osten Havannas über die Bühne. Dann wurde den OrganisatorInnen der Raum unter dem Vorwand gekündigt, das Festival werde von Leuten manipuliert, die im Dienst der USA stünden. Nachdem das Festival im vergangenen Jahr nur noch in kleinem Rahmen und dezentral in verschiedenen Privatwohnungen abgehalten werden konnte, feierte es 2011 seine Auferstehung an einem Ort, der seit Frühling des Jahres zu einem von der kubanischen Staatsmacht meistbeobachteten Brennpunkte oppositioneller Aktivitäten in Havanna geworden ist: in der Villa des jungen Mathematikers Antonio Rodiles.

Rodiles hat als Sohn eines kürzlich verstorbenen Revolutionshelden bislang einen gewissen Schutz genossen. Während mehrerer Jahre hatte er in Mexiko gelebt und dort als Informatiker gutes Geld verdient. Ausserdem genoss er das Privileg, frei zwischen Kuba und dem Ausland reisen zu können. 2010 kehrte er nach Kuba zurück und war fasziniert von der in den Jahren zuvor entstandenen Szene von BloggerInnen. Rasch knüpfte er Kontakte und startete dann im März 2011 das Projekt «Estado de Sats», eine Art Bürgerfernsehen im Internet, das Debatten zu Gegenwart und Zukunft Kubas initiierte.

Riskanter Kontakt

In den letzten Monaten gelang es Rodiles zunehmend, nebst Oppositionellen und KünstlerInnen auch Intellektuelle für seine Diskussionsrunden zu gewinnen, die Mitglied der herrschenden kommunistischen Partei sind, sich aber dennoch als regimekritische Linke verstehen. Das hatte Folgen: Im September wurde Rodiles’ Pass eingezogen, und im Oktober montierte man vor seiner Villa ganz offen zwei Überwachungskameras. «Jeder soll wissen, dass er etwas riskiert, wenn er mit mir Kontakt hat», sagt Rodiles gegenüber der WOZ. Aber er lasse sich nicht einschüchtern.

Miriam Celaya berichtet, dass beim Auftakt zum Festival Poesía Sin Fin drei Mitglieder einer kürzlich gegründeten antirassistischen Initiative auf dem Weg zu Rodiles’ Villa verhaftet worden seien. «Man hat sie ohne eine Erklärung festgehalten und nach 24 Stunden wieder freigelassen.» Offenbar, so Celaya, stelle eine private antirassistische Initiative für ein Regime, das den Antirassismus für sich reserviert hat, eine besondere Provokation dar.

Zurück zum Filmfestival: Es ist der 6. Dezember, Halbzeit, im Festivalzentrum findet gerade eine Buchpräsentation statt. «Nein, nein, mit so einem Element möchte ich nicht auf ein Foto», scherzt der Regisseur Eduardo del Llano und umarmt dann überschwänglich den kleinen alten Mann, der neben ihm steht. Enrique Pineda Barnet, Schriftsteller, Drehbuchautor und Filmregisseur, ist sichtlich gerührt über del Llanos Sympathiebezeugung. Die beiden Ausgeschlossenen sind an diesem Nachmittag ein einziges Mal am Festival präsent. Als Zuschauer.

Drei Tage später zeigt der junge kubanische Regisseur Alejandro Brugues seinen Film «Juan de los muertos», einen überdrehten und politisch gewagten Spass um Zombies in Havanna – und ruft im überfüllten Festivalkino von der Bühne herab: «Vinci» und «Verde, verde», del Llanos und Pineda Barnets neue Filme, müssten hier am Festival sein. Er erntet dafür so frenetischen Applaus, dass man dies auch als Ventil für eine verbreitete Stimmung im Havanna dieser Tage deuten kann.

Eine Stimmung, die Eduardo del Llano wenige Tage später in seinem Blogeintrag «Wo die Depressionen in Havanna hingehen» auf den Punkt bringt. Darin beklagt er das Verschwinden öffentlicher Treffpunkte und stellt fest, es gebe immer weniger Leute, die ausgehen. Als Gipfel der Absurdität erwähnt er ein «Literatencafé», das sich an bester Lage in der Nähe von zwei der wichtigsten Kinos von Havanna befindet. Das Café hat nur einen Haken: Es schliesst abends um neun Uhr. «Das kommt mir vor, als würde man mittags um zwölf im Freien einen Tanz für Vampire organisieren», spottet del Llano.

Diskutiert wird nicht

Diese Angst des Staats vor allfälligen Diskussionen ist auch dem deutschen Regisseur Andres Veiel aufgefallen. Veiel, der sich zum ersten Mal in Kuba aufhielt, vertrat in Havanna zusammen mit drei anderen deutschen Regisseuren die «Muestra de cine alemán» am Festival und präsentierte hier seinen Spielfilm «Wer wenn nicht wir» (vgl. WOZ Nr. 34/11). Er sei schon an vielen Filmfestivals gewesen, auch in Lateinamerika, sagt er. «Dass es nach den Filmen keine Publikumsdiskussionen gibt, habe ich aber noch nie erlebt.»

Dann berichtet er von einem Erlebnis bei einer touristischen Sightseeingtour, die ihn und die deutsche Delegation in eine Tabakfabrik im Zentrum Havannas geführt hat. Als er dort versucht habe, mit den ArbeiterInnen zu sprechen, um etwas mehr über ihre Situation zu erfahren, sei sofort der kubanische Reiseleiter dazwischengetreten. «Er bat mich, das bitte zu unterlassen. Den Arbeitern seien Gespräche mit Touristen nicht erlaubt.»

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen