Fotoseite: Der Mikrokosmos im Makrokosmos

Nr. 4 –

Die Bilder des in Düsseldorf arbeitenden Fotografen Andreas Gursky haben ikonenhaften Charakter und sind um die Welt gegangen. Wenn man an die Börse denkt, an die Zeit, als dort noch Menschen in ausgesprochener Hektik in 
einem grossen Saal unterwegs waren, erinnert man sich vielleicht an das Bild «Tokio, Börse» (1990) oder an «Chicago Board of Trade III» (1999). Es sind grossartige Fotografien, die haften bleiben. Sie zeigen die Masse der Menschen, aber auch den Einzelnen in gestochener Schärfe.

Die Masse und der einzelne Mensch sind in Gurskys bildnerischen Kompositionen oft das Thema. Das kann ein Konzert von Madonna sein, bei dem der Star im Scheinwerferlicht der Masse der Fans gegenübersteht («Madonna I», 2001), oder eine in die Tiefe reichende Halle in Vietnam, in der man unzählige Korbflechterinnen bei der Arbeit sieht («Nha Trang», 2004). Ein eindrückliches Beispiel ist auch «Paris, Montparnasse» von 1993, auf dem ein Ausschnitt der Fassade eines achtzehnstöckigen Wohnhauses zu sehen ist, wo man den Leuten buchstäblich in ihre Wohnungen sehen kann.

In der Regel begegnet man den Arbeiten des 57-jährigen Andreas Gursky – 
wie hier – in Zeitungen und Magazinen. Mit der auf dieser Doppelseite gezeigten Arbeit «Kamiokande» von 2007 erhält man einen Einblick in das tief unter 
der Erde liegende Innere einer Anlage in Japan, die kernphysikalischen Experimenten dient.

Der ganze Reichtum von Gurskys Werk erschliesst sich aber erst über die Betrachtung der Originale in einer Ausstellung. Seine Formate können Ausdehnungen von drei auf fünf Meter erreichen und laden dazu ein, länger davor 
zu verweilen. Aus der Distanz lassen sich Geschehen erfassen, die sonst so für 
das menschliche Auge nicht sichtbar sind. Aus der Nähe erschliesst sich ein unerwarteter Detailreichtum wie auf einem Wimmelbild.

Gursky arbeitet wie ein Maler. Die Fotografien dienen als Ausgangsmaterial und werden am Computer in akribischer Arbeit zu grossen Tableaus zusammengebaut. Dabei wird «übermalt» und «retuschiert», Fragmente einzelner Aufnahmen werden sorgfältig vernäht, bis die Vision des Künstlers ihre Gestalt gefunden hat.

Seine Fotografien stehen damit in starkem Gegensatz zur Dokumentarfotografie von Bernd und Hilla Becher, deren eindrückliche Arbeiten zum Thema «Bergwerke und Hütten – Industrielandschaften» noch bis zum 12. Februar im Fotomuseum Winterthur zu sehen sind. Gursky hat bei den Bechers studiert und einiges von ihrem Gestaltungswillen übernommen, versucht aber, in seinen Bildern die archetypische Ausprägung eines Themas zu zeigen und nicht, wie die Bechers, die reale Vielfalt.

Ausstellungskatalog zur Retrospektive «Andreas Gursky at Louisiana» im dänischen Humlebaek. 
Hrsg. vom Louisiana Museum of Modern Art, Michael Juul Holm. Texte von Frederik Stjernfelt, Poul Erik Töjner. 
Hatje Cantz Verlag. Ostfildern 2012. 140 Seiten, 45 farbige Abbildungen. Fr. 52.90. 
Die Retrospektive dauert noch bis 13. Mai. www.louisiana.dk