Porträt: Ein Trabant gegen die Einsamkeit

Nr. 4 –

Julia Kuruc betreut als Sozialarbeiterin Sexarbeiterinnen am Sihlquai in Zürich. Dass sie fliessend Ungarisch spricht, ist ein grosser Vorteil, der ihr trotz ungarischer Wurzeln nicht in den Schoss gelegt wurde.

Als Julia Kuruc vor zwei Jahren aus Ungarn in die Schweiz kam, landete sie in Zürich am Sihlquai. Fallen in einem Satz die Wörter «Ungarn» und «Sihlquai», scheint klar, wo die Geschichte endet: auf dem Strassenstrich. Tatsächlich befindet sich Kurucs Arbeitsplatz dort, doch ihre Geschichte ist eine andere. Die ausgebildete Sozialarbeiterin ist für die Frauenberatung Flora Dora tätig, die in einem Bus am Sihlquai untergebracht ist und als mobile Anlaufstelle für die Sexarbeiterinnen dient.

Wöchentlich an zwei oder drei Abenden arbeitet Kuruc im Bus sowie draussen auf der Strasse. «Es ist unsere Aufgabe, die Sexarbeiterinnen so gut wie möglich zu begleiten, während sie am Sihlquai anschaffen.» Es gehe vor allem auch darum, sie zu informieren und aufzuklären rund um die Themen Gewalt, Gesundheit und Umgang mit den Behörden. «In Ungarn unterliegt die Prostitution viel strengeren Regeln, gleichzeitig sind viele Polizisten korrupt. Wir versuchen deshalb bewusst, Ängste abzubauen», sagt Kuruc. «Die Sexarbeiterinnen können im Bus aber auch einfach mal innehalten und eine Tasse Tee trinken.»

Plötzlich arm

Kuruc ist in der Schweiz geboren und aufgewachsen – in Scherz, einem «Kaff» im Kanton Aargau in der Nähe von Brugg. Ihr Vater war in den siebziger Jahren von Südungarn über Italien in die Schweiz geflüchtet. Eigentlich wollte er nach Kanada, aber der gelernte Elektroingenieur fand bei der ABB in Baden eine Arbeitsstelle und lernte bald darauf Kurucs Mutter kennen. Anfangs sprachen die Eltern Italienisch miteinander. Als Julia 1984 zur Welt kam, war es längst Schweizerdeutsch. «Meine Kindheit auf dem Land war schön. Ich war viel draussen», sagt sie. Und doch war für sie schon damals klar, dass sie weggehen möchte, in die Ferne.

Als Kuruc ein Teenager war, waren die Fragen nach Identität und Heimat dringlicher geworden, und mit sechzehn Jahren ging sie für ein Jahr nach Ungarn zu ihren Verwandten. Sie besuchte ein deutsch-ungarisches Gymnasium in Baja, im Süden des Landes . «Ich wollte die Sprache, die Leute und die Mentalität näher kennenlernen», sagt sie. Das Austauschjahr hat ihr gefallen: «Die Menschen in Ungarn waren offener und herzlicher als in der Schweiz. Sie haben sich für mich interessiert, mich ausgefragt. Besonders schön fand ich, dass alle in die Gespräche miteinbezogen wurden. Vom Kind bis zum Greis haben alle mitreden können.»

Wieder in der Schweiz, wusste Kuruc, dass sie nach Ungarn zurückkehren wollte. Ihre Ausbildung zur Sozialarbeiterin begann sie zwar in der Schweiz, absolvierte aber ihr einjähriges Praktikum in einem Flüchtlingsheim bei Budapest. Während die Arbeit oft schwierig und anstrengend war, fühlte sie sich – je besser ihre Sprachkenntnisse wurden – immer wohler in Ungarn. «Die Leute sind melancholisch und lebensfroh zugleich, das entspricht mir. Ausserdem berührt mich die Sprache emotional.»

Heizöl oder Budapest?

Diese Erfahrungen haben Kuruc darin bestärkt, einen Selbstversuch zu wagen: Sie wollte ausprobieren, ob sie in Ungarn leben, arbeiten und dabei glücklich sein konnte. So fand sie vor vier Jahren eine Anstellung in einer Rehaklinik für Drogensüchtige – in Zsibrik, einem Weiler mit sechs EinwohnerInnen, die «alt und alkoholsüchtig» waren, wie sie lachend erzählt.

Dann wird Kuruc ernst. «Ich war es aus der Schweiz gewohnt, genug Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen. In Ungarn war das mit meinem Lohn von etwa 400 Franken nicht möglich. Ich musste zusätzlich putzen und einen Pferdestall pflegen.» Das sei eine neue Erfahrung gewesen. Sie musste sich plötzlich fragen, ob sie Heizöl kaufen oder das Wochenende in Budapest verbringen wollte. Es kamen Zweifel auf, ob sie wirklich je ankommen würde in der neuen Heimat. «Irgendwie bin ich den Leuten fremd geblieben. Sie konnten meine Motivation, mein Leben dort zu verbringen, nicht nachvollziehen.» Ein «durchfallbrauner» Trabant, das kleine DDR-Auto, mit dem sie über die hügelige Landschaft tuckerte, und viele Velofahrten liessen sie ihre Einsamkeit vergessen.

Deutsch büffeln für den Strich

Julia Kuruc begann, übers Internet nach Jobs in der Schweiz zu suchen, und stiess auf die Frauenberatung Flora Dora. Am Sihlquai war die Zahl von ungarischen Sexarbeiterinnen stark angestiegen. Kuruc fragte an, ob sie als Ungarisch sprechende Sozialarbeiterin etwas tun könne. Sie erhielt vorerst den Projektauftrag, sich über die Prostitution in Ungarn zu informieren. Bald bemerkte Kuruc, dass fast alle Sexarbeiterinnen am Sihlquai aus einem bestimmten Romaghetto in Ostungarn stammten: aus Nyiregyhaza. Zugleich setzte sie sich mit mehreren ungarischen Organisationen in Verbindung und organisierte ein Austauschtreffen in Zürich.

«Jeder Abend im Beratungsbus bringt tragische, aber auch lustige Ereignisse. Die meisten jungen Frauen sind humorvoll. Wenn ich ihnen etwa deutsche Sätze beibringe, dann ist das oft absurd und lustig», sagt Kuruc. «Humor ist etwas vom Wichtigsten in der Sozialarbeit.»