Demokratische Republik Kongo: Löcher ins Erdinnere
In der Republik Kongo schürfen gegen zwei Millionen junge Männer unter unwürdigen Bedingungen Kobalt und Kupfer. An der Weiterverarbeitung des Rohstoffs ist das Land nicht beteiligt. Die Wertschöpfung geschieht an anderen Orten – und einige der Endprodukte halten wir täglich in den Händen.
Die Steinmenschen von Kamatanda fürchten sich nicht, wenn sie ins schwarze Loch hinuntersteigen. Es hat einen Durchmesser von knapp zwei Metern und führt senkrecht in die Tiefe. Wie Spinnen klettern sie barfuss vierzig Meter hinab in die Erde. Eine Leiter gibt es nicht. Nur mit ihren ausgestreckten Armen und Beinen stützen sie sich ab. In Fünfergruppen klettern sie in ihr Loch, um unten seitwärts noch tiefer in Gänge zu kriechen und die metallhaltigen Gesteine der Erde zu entreissen: Kobalt und Kupfer für die industrialisierte Welt. Im Licht ihrer Stirnlampen und Kerzen, mit Hammer und Meissel, kleinen Schaufeln und Pickeln und blossen Händen buddeln sie sich durchs unterirdische Erdreich.
Der Hügel von Kamatanda im Süden der Demokratischen Republik Kongo ist durchsiebt von mehr als hundert Löchern. Ein Heer von Menschen, die sich wie Maulwürfe durch das Erdreich graben, steht hier am Anfang der Wertschöpfungskette von Handys, Windturbinen und Elektroautos.
Es ist Regenzeit, und der Einstieg ins Loch ist glitschig, das Hinunterklettern gefährlich, doch Joseph hat keine andere Wahl. Der 36-jährige Vater von vier Kindern verlor seine Stelle als Elektriker bei einem internationalen Minenunternehmen, als 2009 der Kupferpreis infolge der globalen Finanzkrise um zwei Drittel einbrach. Seither ist er ein «creuseur» (Buddler, Schürfer) und verdient an einem guten Tag, wenn seine Equipe auf eine Gesteinsader trifft, zehn US-Dollar – weit mehr als vorher als angestellter Elektriker. Auf seine Arbeit ist Joseph trotzdem nicht stolz, sie kostet ihn täglich neue Überwindung. Er muss sich meistens mit hochprozentigem Alkohol, den sie unten im Zeltdorf in verschweissten Plastiksäcklein für 25 Cent die Portion verkaufen, den nötigen Mut antrinken. Die Erde ist feucht, die weitverzweigten, labyrinthartig angelegten Gänge stürzen häufig ein: «C’est la vie ou la mort, chaque jour», sagt Joseph, Tod oder Leben, jeden Tag.
Als der Stollen zusammenbrach
Zwei Millionen Kongolesen bestreiten ihren Lebensunterhalt als Creuseure, die offiziell «mineurs artisanaux» (Kleinbergbauarbeiter) heissen – ein verharmlosender Begriff für eine unmenschliche Tätigkeit. Mit ihren mittelalterlichen Methoden fördern sie im Osten an der Grenze zu Ruanda Coltan und Zinnerze, in der Provinz Kasai Diamanten und hier, auf dem Hügel von Kamatanda in der südlichen Provinz Katanga, Gold, Kupfer und Kobalt.
Fiston, ein 23-jähriger Student aus der nahe gelegenen Stadt Likasi, hat von den 33 chilenischen «mineros» und ihrer spektakulären Rettung 2010 nie etwas gehört. Dafür einen ähnlichen Vorfall selbst erlebt. «Mit neun Kollegen sass ich an einer Kobaltader, als plötzlich der Stollen hinter uns zusammenbrach», erzählt Fiston. Ein Einsturz sechzig Meter unter der Erde, eingeschlossen in einem knapp meterhohen Gang, auf wenigen Quadratmetern. Lebendig begraben. Zuerst schaufelten sie wie wild, panikartig, um freizukommen. «Doch wir merkten schon bald, dass dies aussichtslos war, und fingen an zu beten», erinnert er sich. Einige weinten, bis sie kurze Zeit später Stimmen hörten: Creuseure einer anderen Equipe, die sie suchten!
«Wir schrien laut, damit sie uns finden konnten, verhielten uns aber sonst ruhig, um keine unnötige Energie zu verschwenden», sagt Fiston. Irgendwann rührte sich sein Nebenmann nicht mehr. Er war tot. Sauerstoffmangel. Achtzehn Stunden nach dem Einsturz wurden sie von den Kollegen befreit und im Krankenhaus in Likasi kurz untersucht. Fiston schildert das alles eher beiläufig, lacht dabei sogar hin und wieder, solche Unfälle sind hier nichts Ungewöhnliches. «Ein paar Tage später begann ich, in einem neuen Loch zu graben, schliesslich musste ich die Arztkosten von dreissig Dollar begleichen.»
Sobald die Creuseure das kobalt- und kupferhaltige Gestein herausgeschlagen und in Säcke abgepackt haben, schleifen sie diese, auf allen vieren, die unterirdischen Gänge entlang zum Loch. Von dort unten bis zur Erdoberfläche formieren sich die Träger zu einer Menschenkette. Ohne Seil, ohne Leiter, nur mit purer Muskelkraft packen die Steinmenschen die Säcke zwischen den an den Seitenwänden verstrebten Beinen hindurch und reichen sie dem nächsten in der Reihe nach oben. Dort hieven die Unerfahrensten, die noch nicht hinabsteigen dürfen, die schweren Säcke auf die Schultern und tragen sie hinunter zum Fluss. Hundert Kilo schafft ein Träger, es sieht leicht und elegant aus, wenn sie mit ihren Flipflops übers Geröll steigen, nur die schmerzverzerrten, schweissgebadeten und dreckigen Gesichter unter den Säcken verraten, was für eine Qual das ist.
Ein Land verschenkt sein Tafelsilber
Schätzungsweise in jeder vierten Handybatterie oder jedem vierten Laptopakku dieser Welt steckt ein kleiner Anteil Kobalt, der von kongolesischen Creuseuren mit blossen Händen dem Erdinneren entrissen wurde. Man fragt sich unweigerlich, wieso diese archaischen Arbeitsbedingungen zugelassen werden.
Die Antwort ist vielschichtig. Nachdem 2002 der zweite Kongokrieg beendet und die Staatskasse völlig leer war, trat ein Minengesetz in Kraft, wonach jeder männliche Kongolese seinen Lebensunterhalt als Kleinbergbauarbeiter verdienen dürfe. Man wollte mit dieser Massnahme eine kongolesische Mittelschicht kreieren. Die jungen Männer verliessen die Felder, die nur alle paar Monate Ertrag abwarfen, in Scharen und begannen, Metalle aus dem Boden zu fördern. Schnell blühte die Korruption rund um die Minen, bald kamen die Chinesen, die sich um die schwache Infrastruktur foutieren und das Metall möglichst schnell ausser Landes schaffen.
Dabei verschenkt der Kongo sein Tafelsilber. Am Fluss von Kamatanda kauft Julie, die «maman commerçante», den Creuseuren ihre Ware ab. Sie verhandelt mit ihnen Gewicht, Metallgehalt und Qualität, schäkert, kokettiert und spielt mit dem Taschenrechner in der Hand ihr Spiel mit den Männern. Sobald sie aber vor dem mit Stacheldraht und einem Eisentor geschützten Lager des Chinesen in Likasi steht, schwindet ihr Selbstvertrauen und verlässt sie ihr Verhandlungsgeschick. «Die Chinesen, die noch nie in Kamatanda waren, bestimmen willkürlich Kobalt- und Kupfergehalt und diktieren den Preis. Wir haben selbst keine Möglichkeit, den wirklichen Wert zu überprüfen, und keine andere Stelle, unser Material zu verkaufen», klagt sie. Rund sechzig Dollar zahlen ihr die Chinesen derzeit für eine Tonne Gestein, das einen Kupfergehalt von dreissig Prozent aufweist – an den internationalen Rohstoffbörsen wird die Tonne reinen Kupfers für 10 000 Dollar gehandelt.
Das eigentliche Problem dabei: Das wertvolle Gestein verlässt den Kongo praktisch im Rohzustand. Von der wirtschaftlich interessanteren Weiterverarbeitung profitiert die Industrie andernorts. Die Mineure des Kongo verhalten sich also ungefähr so, wie wenn die Schweizer Bauern sich lediglich mit der Bearbeitung ihrer Felder und dem Export von Heu zufrieden gäben und die damit verbundene Viehzucht- und Milchwirtschaft – das eigentliche Herzstück der landwirtschaftlichen Ökonomie – den Nachbarländern überliessen.
Meinrad Schade, Daniel Puntas Bernet
Der Fotograf Meinrad Schade und der Journalist Daniel Puntas Bernet arbeiten seit zehn Jahren zusammen. Ihre Reportage über die Situation in den Minen von Kamatanda bei Likasi in der Provinz Katanga entstand auf einer gemeinsamen Reise in die Republik Kongo im Januar 2011. Schade hat für seine Reportage «Verbrannte Erde» aus Kasachstan, die in WOZ Nr. 47/11 erschien, vergangenes Jahr den Swiss Photo Award erhalten. Puntas Bernet ist Chefredaktor der neuen Zeitschrift «Reportagen», die seit letztem Oktober alle zwei Monate erscheint.