Europäische Schuldenkrise: Jenseits von Sparhysterie und Wachstumsglaube
Wie findet Europa aus der Schuldenkrise? Während die Regierungen auf Sparkuren setzen, rufen deren Kritiker nach einem lockeren Umgang mit Schulden, um das Wachstum zu stärken. Aber es gibt eine weitere Alternative.
Europa ist in der falschen Debatte gefangen. Auf der einen Seite: Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Alliierten in Brüssel, die die Staatsschuldenkrise durch immer härtere Sparmassnahmen zu überwinden suchen. Auf der anderen: KeynesianerInnen, die nicht auf weniger, im Zweifelsfall gar auf höhere öffentliche Ausgaben setzen. Das bringe Wachstum – und damit wiederum höhere Staatseinnahmen.
Nach zwei Jahren protestantischer Sparpolitik ist klar: Die erste Strategie ist gescheitert. Zuvorderst rutscht Griechenland Monat für Monat tiefer in die Rezession ab, die Arbeitslosigkeit liegt bei über achtzehn Prozent, die Schulden steigen. Und mittlerweile steht Europa als Ganzes vor der Rezession. Am EU-Gipfel Anfang Woche stand das Thema Wachstum denn auch seit langem erstmals wieder zuoberst auf der Traktandenliste. Doch auch die tendenziell linke, keynesianische Position, die ein lockereres Verhältnis zu Staatsschulden hat, greift zu kurz: Wie die aktuelle Krise zeigt, sind Staatsschulden ein Problem. Denn sie unterhöhlen nicht zuletzt die Demokratie. Die europäischen Staaten stehen längst unter der Kontrolle der Banken statt unter der der BürgerInnen. Um die Schulden zu bedienen, wird privatisiert, gestrichen und an allen Enden gekürzt. Sonst steigen die Zinsen – und damit die Schulden.
Wie es dazu kam, ist schnell erzählt: In seiner neoliberalen Reinform der letzten Jahrzehnte hat der Kapitalismus zu einer immer ungleicheren Einkommensverteilung geführt. Die Löhne verloren zugunsten der Kapitalrenditen. Die Tief- zugunsten der Hochqualifizierten. Gründe dafür gibt es viele: Handarbeit wurde durch Maschinen ersetzt, die Globalisierung dehnte das Angebot an Arbeitskräften aus, Gewerkschaften wurden geschwächt, Arbeitsrechte aufgeweicht. Einen Teil der zunehmenden Ungleichheit haben die europäischen Länder durch den Ausbau ihrer Sozialstaaten kompensiert, wie neuste Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) belegen. Jedoch auf Pump. Es fehlte das Geld. Denn gleichzeitig wurden Reiche und Grosskonzerne schrittweise von ihrer Steuerpflicht entbunden: Der durchschnittliche Spitzensteuersatz für Reiche innerhalb der EU sank seit 1995 von rund 47 auf 37 Prozent, jener für Unternehmen von 35 auf 23.
Was nicht durch den Sozialstaat kompensiert wurde, liehen sich KleinverdienerInnen selber bei den Banken, in Form von Konsumkrediten oder Hypotheken. Doch als die Schuldenblase 2007 platzte, luden sich die Staaten auch die privaten Schulden auf den Rücken.
Die Schuldenökonomie des 21. Jahrhunderts ist eine Folge des Kapitalismus, der zu einer zunehmend ungleichen Verteilung der Einkommen führt. Und einer Ideologie, die diese Ungleichheit lieber durch Schulden kompensiert statt durch Umverteilung.
Die Verteilung: Genau darin liegt jenseits von Sparhysterie und keynesianischer Schuldenpolitik die Alternative. Statt sich das Geld bei Banken zu leihen, müssen die Staaten Reiche und Grosskonzerne wieder angemessen besteuern: durch höhere Spitzensteuersätze und Erbschaftssteuern. Damit könnten sich die Staaten sanieren, ohne das Wachstum zu bremsen. Denn: In einer Zeit, in der Vermögende mangels rentabler Investitionsmöglichkeiten mit den Grundnahrungsmitteln der Unterprivilegierten dieser Welt spekulieren und die Zinsen bei fast null Prozent liegen, soll niemand mehr behaupten, eine solche Besteuerung würde Investitionen und damit das Wachstum behindern. Die Wirtschaft lahmt, weil nach Jahren stagnierender Löhne und zwei Jahren rigider Sparpolitik die Nachfrage fehlt. Eine Abkehr von der Sparhysterie würde das Wachstum stärken.
Langfristig ist das Kapital noch weitreichender zu demokratisieren, vermehrt in die Hände der gesamten Gesellschaft zu legen: Nebst Erbschafts- und höheren Spitzensteuern etwa durch die strengere Regulierung der Kapitalmärkte. Aber auch durch eine stärkere Mitsprache der Arbeitnehmenden im Unternehmen bis hin zur Förderung von Genossenschaften: Dort ist das Kapital in den Händen der Angestellten.
Eine Demokratisierung des Kapitals würde für eine gleichere Verteilung des Reichtums sorgen. Denn sie bedeutet: höhere Löhne statt Maximalrenditen, und: Renditen zugunsten der Gesellschaft statt für ein paar wenige.
Damit würde schliesslich ein existenzielles Problem entschärft, das seit dem Finanzcrash 2007 weit in den Hintergrund gerückt ist: die ökologischen Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums. Denn weniger Wachstum, und damit weniger Verschleiss natürlicher Ressourcen, ist nur in einer Welt möglich, in der der Reichtum gleichmässiger verteilt ist. Darüber hinaus bedeutet abnehmender Renditedruck, sich ein Stück weit vom Wachstum zu lösen.
Europa braucht eine Debatte über Grundsatzfragen. Mit immer härteren Sparauflagen, ein paar Ideen zu Wachstumsimpulsen und sporadischen Klimagipfeln ist es nicht getan.