Fumoir: In die Berge, FatalistInnen
Esther Banz will statt Ferienhausghettos revolutionäre Nachbarschaften
Wir waren fast so was wie eine Clique, und der Zürcher Kreis 4 war unser Zuhause. Einige von uns arbeiteten im StudentInnenreisebüro, andere machten Musik, zeichneten Comics oder studierten. Es gab noch die ganzen illegalen Bars damals, in den Neunzigern war das, bevor das Gastgewerbe liberalisiert wurde. Konzerte, Partys, lange Nächte (wenn die Polizei nicht plötzlich dastand). Und blöde Sprüche. Einer ist mir geblieben, vermutlich weil Adi ihn so oft aufsagte, nämlich jedes Mal, wenn ich oder jemand anders ankündigte, nun nach Hause zu gehen – Adi rief dann jeweils laut und launisch: «Ä Revoluzionär het kei Dihei!»
Ich hatte es immer mehr mit Gandhi als mit Che und Fidel, aber ansonsten verstanden wir uns prima. Die Clique ist schon lange keine mehr. Viele fingen irgendwann an, Familien zu gründen, einige zogen nach Berlin oder sonst wohin, andere haben Karriere gemacht. Früher zu Bett als damals gehen wir vermutlich alle. Die Sehnsucht nach Revolution hat sich irgendwo verkrümelt, falls sie je da war. Oder sie ist beim vielen Joggen müde geworden. Oder hat sich im Facebook verzettelt und verloren.
Aber vermutlich ist Yoga schuld. Heute machen ja alle Yoga, wenn sie nicht gerade joggen. Yoga gibt nicht nur ein gutes Körpergefühl, sondern auch innere Ruhe. Yoga besänftigt rastlose und unzufriedene Gemüter und lässt den Menschen achtsamer werden. Yoga ist super, ich bin ein grosser Fan. Aber obwohl so viele Leute Yoga machen, ist die Welt kein bisschen besser geworden. Yoga bringt keine kleinen Gandhis hervor, es scheint den westlichen Menschen vor allem elastischer zu machen. Vielleicht ist Yoga auch deshalb so beliebt, weil moderne Yogis die von ihnen in Beruf und Alltag abverlangte Flexibilität besser ertragen. Oder weil ihnen die erlangte innere Ruhe hilft, Sätze wie «Du bist fristlos entlassen» oder «Ich habe mich neu verliebt, sorry» mit einem Lächeln auszusprechen. Es könnte auch sein, dass Yoga beim modernen Menschen vor allem den Weg in die innere Emigration fördert – sich gelassen der Welt abwenden.
Sicher ist: Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unsicherheit bei gleichzeitigem Kommunikationsoverkill produzieren in der Schweiz des 21. Jahrtausends nicht KämpferInnen, sondern die eigene Mitte suchende FatalistInnen. Würden sie doch wenigstens zu echten AussteigerInnen. «Ich geh dann auch mal länger wandern oder Velo fahren» – das ist ja eine rundum gehegte Sehnsucht. Aber nach drei Monaten, erholt und gut eingemittet, kehrt man zurück in den Job, wo immer mehr verlangt und immer weniger bezahlt wird. Zum Ausgleich verbringt man das Wochenende mit Konfitürekochen.
Dabei hätte eine grosse AussteigerInnenbewegung in der heutigen Zeit fast schon revolutionären Charakter. Man müsste nicht mal in die Toskana oder nach Australien auswandern – in den Schweizer Alpen stehen Abertausende Ferienhäuser unbenutzt rum. Die Zweitwohnungsinitiative macht die auch nicht weg. Aber wenn sich die von der Immobilienspekulation geplagten MieterInnen aus dem Unterland mit farbigen Bannern in die Peripherie wagen würden, liessen sich dort aus toten Ferienhausghettos ganze Nachbarschaften aufbauen. Sich leerende Dörfer hätten die ersehnten ZuwanderInnen, mit Kindern sogar, die ZuzügerInnen würden Neues aufbauen, und dank tiefer Lebenskosten könnten sie sogar überleben.
Illegal? Das waren die Bars in Zürich damals auch. «Ä Revoluzionär het kei Dihei?» Stimmt, wer über kurz oder lang wegen wuchernder Mietpreise vertrieben wird, hat kein Zuhause mehr – beste Voraussetzungen also, eine Revolution anzuzetteln.
Esther Banz ist freie Journalistin in Zürich.