CD: Die Versöhnung mit einem Instrument

Nr. 6 –

Im Wohnzimmer meiner Grossmutter stand ein Klavier – dunkelbraun und irgendwie mächtig in seiner Grösse. Es schüchterte mich ein, dieses Instrument, und ich war neidisch auf meinen gleichaltrigen Cousin, der im Gegensatz zu mir Klavier spielen konnte und von meiner Grossmutter dafür gelobt wurde. Aus Abneigung wurde Missachtung. Sobald ein Klavier im Zentrum einer Band oder Platte stand, hörte ich auf, auf sie zu hören.

Im letzten November liegt plötzlich «Living Room Songs» von Olafur Arnalds auf meinem Büroschreibtisch. Der Himmel ist grau, vor mir huschen Nebelschwaden über die Limmat. Ein bisschen Island würde passen, denke ich und lege die CD ein. «Frysta» heisst der erste Song. Aus der Stille spielt sich eine Klaviermelodie nach vorne – ohne Kraft und doch dringlich, dann setzen Streicher ein. Gleichzeitig lese ich die Pressemitteilung, die Arnalds als «Darling der modernen Klassik» bezeichnet. Klavier, Streicher, moderne Klassik: Der Abfalleimer wartet schon unter dem Schreibtisch, doch ich drehe die Lautstärke auf. «Near Light» beginnt ebenfalls mit einer leisen Klaviermelodie, nimmt nach vierzig Sekunden Fahrt auf und rennt eine Minute später auf einem Elektrobeat davon. Ein betörender, spektakulärer, grosser Song – vielleicht einer der besten des letzten Jahres und unbestritten ein Höhepunkt von «Living Room Songs». Ein anderer ist «Lag Fyrir Ömmu». Auch dieser Song ist ungeheuer dicht und packend, wenn auch weniger überraschend als «Near Light».

Olafur Arnalds hat «Living Room Songs» in seinem eigenen Wohnzimmer in Reykjavik live aufgenommen und diesen Prozess filmen lassen. Daraus sind intime, ruhige Videos entstanden, die auf livingroomsongs.olafurarnalds.com abrufbar sind. Und für Nachschub ist bereits gesorgt: Der 26-jährige Isländer hat den Soundtrack zum US-amerikanischen Drama «Another Happy Day» geschrieben, der letztes Jahr am Zurich Film Festival gezeigt wurde.

Jan Jirát

Olafur Arnalds: Living Room Songs. Erased Tapes Records / Indigo