«Zwanzigtausend Seiten»: In diesem Land erinnert sich einer

Nr. 6 –

Lukas Bärfuss bringe die Bergier-Kommission auf die Bühne, hiess es, und damit die Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Ein Augenschein im Zürcher Schiffbau.

Zwei sehr berührende Momente gibt es in Lukas Bärfuss’ Stück «Zwanzigtausend Seiten», und zweimal wird dabei derselbe Text vorgetragen, ein Brief des Juden Oskar H., der Ende August 1942 in die Schweiz geflohen war und von den Schweizer Behörden am nächsten Tag unter Vorspiegelung falscher Tatsachen der französischen Gendarmerie zur Deportation übergeben wurde. Der Brief ist ein echtes Zitat aus dem Bericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz–Zweiter Weltkrieg, der Bergier-Kommission, um die es im Stück auch geht.

Geschichtslos und medial verdorben

Professor Jean-François Bergier, der Vorsitzende der Kommission, heisst hier Jean-François Blonay, und in einer weiteren sehr berührenden Szene sieht man ihn, wie er auf dem Boden herumkriecht und einen Sack ausgeleerter Knöpfe sortiert, während eine Gouvernante seine bitteren Gedanken referiert. Der Historiker, der die Verbrechen und Unterlassungen der offiziellen Schweiz in der Zeit des Nationalsozialismus untersuchte, scheint über seiner Arbeit verrückt geworden zu sein.

Mit dem Zitat von Oskar H. – und einer zweiten Opfergeschichte an anderer Stelle – ist die historische Substanz des Stücks schon fast erzählt. Der etwa 12 000-seitige Bergier-Bericht kommt darin sonst eher als Chiffre vor. Er wird nicht ergründet oder erläutert. Nicht die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg ist das Thema, sondern Erinnern und Vergessen allgemein. Man ahnt von Anfang an: Das Erinnern kommt zu kurz. Das Vergessen überwiegt. Man lernt: Wir leben in einer geschichtslosen, medial verdorbenen Schweiz, in der natürlich auch die wissenschaftliche Exzellenz von Professor Bergier oder eben Blonay auf Unverständnis stösst.

Einem jungen Mann namens Tony, dem Protagonisten, fällt, als er in einer Kehrichtmulde wühlt, eine Kiste mit Blonays Bericht auf den Kopf, welche der verrückte Professor aus dem Fenster geworfen hat. Als Tony zu sich kommt, hat er den Inhalt des ganzen Berichts im Kopf gespeichert. Man kann ihm eine Seitenzahl nennen, und er sagt den Text dazu auf. Also etwa Tabelle 27 von Seite sowieso, Band sowieso – oder eben den Brief von Oskar H., der von der Schweizer Grenze nach Auschwitz gebracht wurde. Aber schnell wird Tony sein grosses Wissen unerträglich. Die schrecklichen Inhalte plagen ihn. So irrt er herum und versucht, die Erinnerungen loszuwerden: bei einer exaltierten Psychiatrieärztin, bei seiner karrierebewussten Freundin, bei einem Bürgerradio, das offenbar als linkes Projekt erscheinen soll, indem dort die Männer vulgärmarxistische Parolen von sich geben, während die Frauen als dumm-geile Chicks auftreten.

Damals in den neunziger Jahren

Schliesslich wird Tony von einem Agenten entdeckt und in eine Castingshow geschleppt. Fast gewänne er eine Million, wenn es ihm nur gelänge, vom Inhalt der zwanzigtausend Seiten zu abstrahieren. Doch der sympathische Junge mit dem phänomenalen Gedächtnis besteht darauf, dass es nicht allein um korrekte Wiedergabe, sondern um die Bedeutung geht – hier erzählt er zum zweiten Mal die Geschichte des ausgelieferten Oskar H. –, und wird disqualifiziert. Am Ende, nachdem ihm Oskar H. persönlich begegnet (laut Bergier-Bericht hat er Auschwitz vielleicht überlebt) und dieser ihm erklärt, dass er ja selbst auch nicht erinnert werden möchte, ist Tony bereit, sich in einem psychiatrischen Versuch ein Kiste mit weniger schmerzhafter Literatur auf den Kopf werfen zu lassen.

Derlei Kulturkritik, aufgeführt in einem sehr schönen Bühnenbild aus leeren Aktenordnern, ist berechtigt. Allerdings gäbe es gerade zur Bergier-Kommission auch eine etwas speziellere Geschichte zu erzählen: Nie wurde die Schweizer Vergangenheit so intensiv diskutiert wie in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, als jüdische Überlebende endlich Rechenschaft forderten über das Verhalten dieses Landes im Nationalsozialismus. Einzigartig, wie damals die Medien jeden Tag neue Details einer schwer erträglichen Geschichte berichteten, einzigartig, wie das Parlament unter internationalem Druck und ohne Gegenstimme beschloss, eine unabhängige historische Untersuchungskommission einzusetzen. Einen kurzen historischen Moment lang war die Vergangenheit niemandem egal, sondern direkte politische Gegenwart. Doch das entspricht nicht Bärfuss’ Thesen und braucht es auch nicht: «Ich will mich nicht erinnern. Und deshalb bin ich in diesem Land. Hier erinnert sich keiner», sagt Oskar H.

«Zwanzigtausend Seiten» in: Zürich, Schiffbau/Box, Do, 9., Mo, 13., Di/Mi, 21./22., So/Mo, 26./27. Februar, 20 Uhr. www.schauspielhaus.ch