Erinnerung und Politik: Aus der Zeit der Spargelboykotte
Sechzig Jahre Befreiung Europas von den Nazis heisst auch sechzig Jahre Schweizer Geschichtsdebatte. Im letzten Jahrzehnt kam es – wegen der Schweizer Banken und der PolitikerInnen – zur grossen Krise.
Wer immer in den neunziger Jahren mit der Schweizer Vergangenheitspolitik zu tun hatte, weiss heute eine Menge kurioser Geschichten. Zum Beispiel jene von Felix E. Müller, mittlerweile Chefredaktor der «NZZ am Sonntag», der am 21. März 1998 in einem Kommentar der «Neuen Zürcher Zeitung» einen schweizerischen Boykott des kalifornischen Grünspargels empfahl, um damit geplante US-amerikanische Sanktionen gegen Schweizer Banken wirksam zu kontern und überhaupt die Amerikaner einmal Mores zu lehren.
Derselbe Müller war ein Jahr zuvor noch «Weltwoche»-Redaktor, als er mich eines Tages anrief und von mir eine Entgegnung auf mehrere antisemitisch gefärbte und von ihm verantwortete «Weltwoche»-Texte zum Fall des St. Galler Flüchtlingsretters Paul Grüninger wünschte. Im Laufe des Gesprächs kam die Rede auch auf einen britischen Journalisten, der ein allerdings haarsträubendes, kritisches Buch über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg geschrieben hatte. Müller erklärte, seiner Ansicht nach sei dieser Autor «bezahlt».
Ich sagte: «Aber bezahlt werden doch alle irgendwie, die Frage ist wohl – von wem?»
Müller: «Das wissen Sie wahrscheinlich besser als ich!»
Er hielt mich für einen Eingeweihten. Für ein – ebenfalls bezahltes? – Mitglied der jüdischen Weltverschwörung, die nach einer verbreiteten Meinung jener Zeit gerade versuchte, den Finanzplatz Schweiz sturmreif zu schiessen, um ihn zu zerstören oder zu übernehmen. Müller war nicht der Einzige, der so dachte: Man kam als Historiker und Journalist 1997 sehr leicht in den Geruch, ein Agent der «jüdischen Hochfinanz», des «jüdischen Kapitals» oder einfach «gewisser Kreise» zu sein, selbst als Redaktor eines chronisch unterfinanzierten linken Blattes und sogar im eigenen Familienkreis: Die Schweizer Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 war, wie niemals zuvor, ein brandaktuelles Politikum.
Schweizerdeutsch in aller Welt
Thomas Maissen arbeitete damals für die «Neue Zürcher Zeitung». Heute ist er Geschichtsprofessor in Heidelberg und muss auf die vaterländischen Verhältnisse weniger Rücksicht nehmen.
Er hat in einem Buch die vergangenheitspolitische Debatte der neunziger Jahre – den Streit um die verschwundenen Konten von Holocaustopfern, der zum Streit über die Schweizer Geschichte wurde – auf siebenhundert Seiten rekonstruiert. Meine Lieblingsanekdote, die sich bei Maissen findet, spielt im Frühjahr 1996 in den USA: Gerade hat der Bankenausschuss des amerikanischen Senats ein Hearing veranstaltet, bei dem unter anderem die jüdische Überlebende Greta Beer aufgetreten ist, um zu berichten, wie sie vergebens ein Schweizer Konto ihres toten Vaters suchte, und wie sie sich dabei gedemütigt vorkam. Auf Beer folgt Edgar Bronfman, kanadischer Schnapsindustrieller und Präsident des Jüdischen Weltkongresses, und verlangt von den Schweizer Banken eine unabhängige Revision ihrer Konten aus der Zeit vor 1945. Nach dem Hearing geht Bronfman zu einem Empfang bei Präsident Bill Clinton. Die anwesenden Vertreter der Schweizerischen Bankiervereinigung (SBVg) wurden nicht eingeladen, dafür halten sie eine Pressekonferenz ab, und weil sie eben wackere Eidgenossen sind, machen sie das auf Schweizerdeutsch: in Washington, am 23. April 1996! Vielleicht denken sie: Uns verstehen sowieso nur die eigenen Leute.
Maissens Anekdote, die er vom Zürcher Bankier Hans J. Bär erfuhr, tönt so irrsinnig wie sie auch typisch ist für den ganzen Konflikt, der 1995 begann und 1998 mit einer Vergleichszahlung der Schweizer Grossbanken in der Höhe von 1,25 Milliarden US-Dollar sowie mit gewaltigen Anwalts- und PR-Kosten endete.
1996 wurde die Auseinandersetzung noch verhältnismässig moderat geführt. Von den Schweizern hätte sie laut Maissen zu diesem Zeitpunkt mit viel geringerem Aufwand beigelegt werden können als später: Man hätte dazu glaubhaft um Entschuldigung bitten müssen – die Opfer der Shoah und ihre Kinder, nicht den Jüdischen Weltkongress – statt im nationalen Selbstmitleid zu versacken. Man hätte überhaupt eine Schuld erkennen müssen. Thomas Maissen zeigt, dass für die Eskalation des Konflikts nicht in erster Linie die «Schatten des Zweiten Weltkriegs» verantwortlich gewesen sind – Banken anderer Länder hatten ebenfalls «nachrichtenlose Konten» von ermordeten Juden einbehalten, andere Staaten hatten auch Flüchtlinge abgewiesen und üble Geschäfte mit den Nazis getrieben –, sondern dass diese Eskalation sich vielmehr der Arroganz, dem Kleinmut und der geistigen Unbeweglichkeit der 1997 und 1998 aktiven Bankiers und Politiker verdankte.
«Oder geh aus dem Weg»
Es herrschte eine helvetozentrische Beschränktheit unglaublichen Ausmasses in den Banken sowie im Bundeshaus: ausserdem Unehrlichkeit, soziale Inkompetenz, hochfahrendes Mackergehabe und Gefühlskälte. Da gab es zum Beispiel einen Bankpräsidenten, der sich den Spruch «Führe, folge oder geh aus dem Weg!» auf eine Metallplatte graviert ins Büro hängte und der auf eine illegale Aktenvernichtung im eigenen Haus einzig mit Rufmord an jenem armen Wachmann reagierte, der das Vergehen aufgedeckt hatte (Bankgesellschaftspräsident Robert Studer gegen Christoph Meili).
Es gab einen Schweizer Aussenminister, der existierende Staatsverträge öffentlich dementierte, weil sein Verhältnis zur zuständigen Departementsabteilung gerade etwas schwierig war, und der wegen persönlicher Animositäten mitten in der Krise die Berichte seines Washingtoner Botschafters nicht mehr las (Flavio Cotti). Es gab einen Bundespräsidenten, der sich zu heiklen historischen Themen mit rechtsbürgerlichen Mythomanen beriet und die wichtige Rede zum 8. Mai 1995 am übernächsten Tag von seinem engsten Mitarbeiter bis zur Bedeutungslosigkeit relativieren liess (Kaspar Villiger). Und es gab, notabene, einen Wirtschaftsminister, der zu viel soff, statt sich zu informieren, und mit judenfeindlichen Stammtischsprüchen herumpolterte (Jean-Pascal Delamuraz).
Wegen solcher Unfähigkeit oder Dummheit in den Chefetagen, aber auch im mittleren Kader, und wegen eines unter Schweizer Bürgerinnen und Bürgern sehr weit verbreiteten chauvinistischen Dünkels, den wohl nur richtig einschätzen kann, wer das Land einmal für mehrere Jahre verlässt oder wer hier einwandern muss –, reagierte die Schweiz im Jahr 1997 auf legitime ausländische Forderungen statt mit Vorschlägen mit einem antisemitischen Taumel. Zu ihm gehörte auch das eingangs erwähnte journalistische Telefongespräch: Für jüdische Einwohnerinnen und Einwohner nahm dieser Taumel nicht lächerliche, sondern bedrohliche Formen an.
Politik statt Geschichtsdebatte
Allerdings war die Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg – die problematische «Neutralität», die kollaborationistische Judenpolitik, das Wirtschaften mit den Nazis – tatsächlich schon lange vorher bekannt. Vieles, was der historischen Schweiz jetzt vom Jüdischen Weltkongress, von Senator Alphonse D’Amato, von Unterstaatssekretär Stuart Eizenstat und von der amerikanischen Öffentlichkeit vorgeworfen wurde, kam substanzieller, genauer und differenzierter in Büchern oder Filmen vor, die seit den sechziger und siebziger Jahren erschienen waren und in der Schweiz zum Teil respektable Verbreitung gefunden hatten: Arbeiten von Leuten wie Alfred A. Häsler, Werner Rings, Edgar Bonjour, Niklaus Meienberg, Jakob Tanner beispielsweise.
1989 hatte Markus Heiniger die zentralen Erkenntnisse der neuen, auch akademischen Geschichtsschreibung in seinem Buch, «Dreizehn Gründe. Warum die Schweiz im Zweiten Weltkrieg nicht erobert wurde», noch einmal aufgezählt und – im Hinblick auf die Armeeabschaffungsinitiative – erörtert. Der innenpolitisch motivierte Versuch von Bundesrat Villiger im selben Jahr, fünfzig Jahre Kriegsausbruch als grosses Volksfest zu feiern («Übung Diamant»), erschien dagegen als eine der letzten grossen Zuckungen des Kalten Krieges: Nachdem dieser aber trotzdem zu Ende ging, durfte kritische Zeitgeschichte bald regelmässig auch in den Mainstreammedien erscheinen. Als «Nestbeschmutzung» galt sie jetzt nicht mehr. Mein eigenes Buch «Grüningers Fall» etwa, das zuerst als Serie in der WOZ erschien und versuchte, ein Stück Flüchtlingspolitik aus den Perspektiven möglichst aller Betroffenen zu erzählen, stiess 1993/94 in der Schweizer Presse und bei unzähligen Veranstaltungen fast ausnahmslos auf grosse Zustimmung. Inhaltlich kam kaum Widerspruch auf – auch nicht bei den schweizerischen Zeitzeugen selber.
Vier Jahre später war es mit dieser Zustimmung vorbei. Wer etwas Kritisches über die Schweiz zu äussern wagte, wurde zur Kategorie der unwissenden «Junghistoriker» geschlagen und von einer organisierten «Aktivdienstgeneration» angefeindet. Diese «Generation» war zwar grösstenteils gar nie im Aktivdienst gewesen, dafür war sie einfach zu wenig alt. Aber sie hatte im Krieg ihre Jugend erlebt, und mit ihrem Protest lebte der nationale Zusammenhalt von 1940 noch einmal auf: Den liess man sich nicht durch uns «Junghistoriker» und erst recht nicht durch «die Juden» verderben.
Aus Nostalgie am Ende eines privilegierten Lebens entstand mit einem Mal blanker Hass.
Globalisierte Erinnerung
Die Geschichte zeigt, dass die «Aktivdienstgeneration», die glaubte, sich heroisch vor die Schweizer Grossbanken stellen zu müssen, als sei der Paradeplatz ihr Réduit, am Ende von den Banken verraten wurde. Der New Yorker Vergleich vom August 1998 kam gegen ihren Willen und ihre Durchhalteparolen zustande – übrigens auch ohne Beteiligung des Bundesrates und seines Sonderbotschafters Thomas Borer. In den Augen vieler greiser Vaterlandsverteidiger war die Bezahlung von 1,25 Milliarden Dollar eine Kapitulation, selbst wenn die Finanzinstitute mit dem Geld nicht nur sich selber, sondern gleich noch den Rest der Schweiz von möglichen Forderungen aus der Nazizeit freikaufen konnten.
Der Bundesrat jedoch hatte bis dahin erklärt, er werde sich der Geschichte erst stellen und über allfällige Entschädigungen verhandeln, wenn die historischen Untersuchungen abgeschlossen seien. Dazu hatte das Parlament 1996 die Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg unter Jean-François Bergier (UEK) eingerichtet. Als die UEK fünf Jahre später ihre Arbeit abschloss, war der Konflikt längst beigelegt, und der Bundesrat interessierte sich nicht mehr dafür. Er nahm den Bericht höchst unwillig entgegen – von den Ereignissen so unbelehrt, wie er 1998 die Wiedergutmachungsforderungen dreier 1942 und 1943 an die Nazis ausgelieferten Flüchtlinge abgelehnt und sie auf die «Solidaritätsstiftung» verwiesen hatte, die aber auch nie zustande kam.
Über den Bergier-Schlussbericht, der historische Neuigkeiten brachte und aus der Politikdebatte eine wirkliche Geschichtsdebatte hätte machen können, gab es keine Diskussion mehr, weder in der Regierung noch im Parlament. Auch später, so scheint es, haben die politischen «Eliten» dieses Landes nie begriffen, dass nicht «die Juden» schuld waren, wenn sie das Thema Holocaust oder Schoah nicht einfach überspringen konnten wie irgendein anderes historisches Traktandum. Thomas Maissen erwähnt es am Ende seines Buches: Eine globalisierte Welt besteht weitgehend aus Minderheiten. Vor diesem Hintergrund ist die Erinnerung an die systematische Ausrottung der jüdischen Minderheiten erst recht ein globales Anliegen. Auch die Gerechtigkeit für die Opfer wäre von globaler, nicht nur jüdischer Bedeutung.
Aber gerecht wollten weder die Banken noch der Bundesrat noch die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer sein. Nur Recht haben wollten sie.
Thomas Maissen: «Verweigerte Erinnerung. Nachrichtenlose Vermögen und Schweizer Weltkriegsdebatte 1989–2004». 129 Seiten. 68 Franken. Verlag Neue Zürcher Zeitung. Zürich 2005.
In diesen Tagen erscheint ein Buch, das nach den antisemitischen Kampagnen der neunziger Jahre in Auftrag gegeben wurde und die Rolle der jüdischen Gemeinden der Schweiz während der Nazizeit kritisch untersucht:
Stefan Mächler: «Hilfe und Ohnmacht. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die nationalsozialistische Verfolgung 1933-1945». 569 Seiten. 48 Franken. Chronos Verlag. Zürich 2005.