«Das Kalb vor der Gotthardpost»: Kein Schweizer Sonderfall, nur eine Sonderfantasie

Nr. 9 –

Rudolf Kollers berühmte «Gotthardpost» entstand 1873, zeitgleich mit einem Börsencrash. Anlass für den Literaturwissenschaftler Peter von Matt, die Hinter- und Abgründe des Schweizer Selbstverständnisses auszuloten.

«Ob das Kalb davonkommt? Als Kind hat man sich das oft gefragt, mit einer Mischung aus Bangen und Faszination.» Wer einen anspruchsvollen Text mit solchen Sätzen beginnt, will, dass er über die eigene Zunft hinaus gelesen wird, dem geht es um politische Wirkung. Diese besteht darin, den «stadtnahen» Villenbesitzern, die sich wie «geborene Bergler» vorkommen und «im Nadelstreifenanzug den politischen Wurzelsepp» spielen und dafür «von andern synthetischen Berglern begeistert beklatscht» werden, die «Zeichen des Ursprungs» streitig zu machen.

«Offensive gegen die Alpen»

«Das Kalb vor der Gotthardpost», Peter von Matts jüngster Sammelband, ist ein Meisterstück historischer Dialektik. Wie von Matt beispielsweise im Hauptbeitrag «Die Schweiz zwischen Ursprung und Fortschritt» die Widersprüche in der «Seelengeschichte einer Nation» entfaltet, ist einfach brillant. Aus der Dreiheit von gefährdetem Kalb, rasenden Rossen und glotzenden Kühen entwickelt von Matt eine Geistes-, Wirtschafts- und Naturgeschichte, die Jacob Burckhardt und Theodor W. Adorno vereinigt. Sie führt vom Börsencrash von 1873 über Alfred Escher und den «Schwarzen Freitag» von 1929 zur aktuellen Finanzkrise. Ausgehend von der «Baumschlächterei» in Gottfried Kellers Seldwyla und der «Naturschlächterei» in Meinrad Inglins Urwang endet sie bei der «neuen Offensive gegen die Alpen» durch «Luxusresorts». In diese ökologischen Ausführungen baut von Matt einen Exkurs über die naturwissenschaftlich-ökonomische Verengung des Fortschrittbegriffs und über das alte Wort «Nachhaltigkeit» ein.

Kernstück des 84-seitigen Essays ist Albrecht von Hallers Gedicht «Die Alpen» (erschienen 1732) – es machte die Schweiz zum «Alpenland». Zuerst zeigt von Matt, wie ein Werk, das in «krasser Idealisierung» das Leben in den «Schweizer Bergen» als «Goldenes Zeitalter» beschreibt und damit fortschritts- und veränderungsfeindlich erscheint, in den folgenden Jahrzehnten beim städtischen Zielpublikum eine Veränderungen fördernde Sprengkraft zu entwickeln vermochte.

Dann erklärt er den Ursprung des Gedichts in der Antike bei Horaz und Vergil und zeigt, wie es das schweizerische Selbstverständnis bis heute prägt. Im Unterschied zum US-amerikanischen «Traumbild der Frontier», in dem «richtig ist, was kommen wird», trage unser Land «eine Vision vom glücklichen Land der Väter in der Seele», in dem «richtig ist, was einmal war». In diesem «Gedanken eines einzigartigen Ursprungs» sieht von Matt den Grund für die umstrittene These von der Schweiz als Sonderfall. Sein Fazit: «Die Schweiz ist kein Sonderfall, sie hat nur eine Sonderphantasie.»

«Konservativ oder progressiv?»

Ist es aber richtig, den Blick nach vorn derart pointiert dem Blick nach hinten entgegenzusetzen? In seinem berühmten «Der 18te Brumaire des Louis Napoleon» moniert Karl Marx, dass sich Luther als Apostel Paulus «maskierte» und die französischen Revolutionäre sich als antik-römische Republikaner «drapierten». Um dann anerkennend festzustellen, dass sie trotzdem «die Aufgabe ihrer Zeit vollbrachten». Diese Würdigung ist die Antwort auf eine Frage, die von Matt im Zusammenhang mit der subversiven Wirkung von «Die Alpen» stellt: «Voran! als ein: Zurück zu! Ist das nun konservativ oder progressiv?»

Ein ähnlich kritischer Einwand gegen von Matts allzu pfleglichen Umgang mit dem Begriff «konservativ» drängt sich beim Buchbeitrag über die «geschichtsphilosophische Differenz zwischen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt» auf. Frisch stellt er als Liberalen, Dürrenmatt als Konservativen vor. Nehmen wir von Matts Analogie mit dem Gegensatzpaar der Figuren Settembrini und Naphta in Thomas Manns «Zauberberg» wörtlich: Settembrini und Frisch stehen beide in der Tradition der Aufklärung, sind also politische Liberale, wobei der Schweizer ein weniger naives Verhältnis zu ihr hat. Naphta aber ist kein Konservativer, sondern ein Nihilist. Ist nicht auch Dürrenmatt eher ein Nihilist, allerdings ein menschen- und lebensfreundlicherer? Kann man jemanden wie Dürrenmatt, der die Kirchen, die Armee und den Nationalismus ablehnte, in einem Land wie der Schweiz als Konservativen bezeichnen?

Ursprung oder Utopie

Wichtiger als solche begrifflichen Differenzen ist von Matts je nachdem wertkonservative oder linkssubversive Warnung vor der herrschenden positivistisch-technokratischen Beschränktheit am Schluss seiner «Seelengeschichte der Nation»: «Beim Blick auf unsere Welt und Gegenwart können wir doch nie ganz verzichten auf die Beschwörung eines vergangenen Ursprungs oder aber einer kommenden Utopie. Nur durch sie wissen wir ja vom Richtigen.»

Was aber soll das Richtige sein in der «Gotthardpost»? Als Kind war ich mir sicher, dass das Kalb davonkommt. Anlass dazu bot die in den meisten Bildbetrachtungen übersehene Kuh zwischen Gefährt und Abgrund. Ihr ist nichts passiert, obwohl sie viel gefährdeter war, als das Kalb es ist.

Peter von Matt: «Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz». Hanser. München 2012. 368 Seiten. Fr. 29.90.