Komplexe Literatur: Leerstellen aus Sand

Nr. 14 –

Bilder und Möglichkeiten zerrinnen wie Sand zwischen den Fingern. Rätsel wie Fragezeichen mit hochgezogenen Augenbrauen bleiben, zahlreich wie Sandkörner der Sahara. Aber vielleicht hängt auch alles miteinander zusammen – all die Handlungen, Gedanken, Haltungen zur Welt. Die Wüste ist etwas anderes als die Summe ihrer Quarzteilchen.

«Sand» heisst der dritte, grandiose Roman des Berliner Schriftstellers Wolfgang Herrndorf, der vor wenigen Tagen mit dem Leipziger Buchpreis geehrt wurde. Etliche Titel hat der Autor des Überraschungserfolgs «Tschick» verworfen. Am Ende blieb «Sand» übrig, der funktioniert wie eine grosse Klammer: der Titel als Sinnerzeuger.

Eine Kommune, in der bei einem Massaker vier Hippies sterben. Ein Verdächtiger, der sich ahnungslos gibt. Unmotivierte mit der Aufklärung des Falls betraute Polizisten. Eine als Kosmetikberaterin getarnte Agentin. Ein Mann ohne Gedächtnis, dessen Nachdenken immer wieder «im Nebel versinkt». Die Kinderschuhe Afrikas, Esoterik und Rassismus, Codes und Chiffren. Ein Koffer voller Geld und Folterverhöre. Über und unter alledem: der Irrsinn der Welt, der konstruierte Zusammenhänge, Missverständnisse und eine Menge Dummheit produziert. Mag sein, dass die Wüstenthriller-Reflexion «Sand», im Marokko des Jahres 1972 angesiedelt, nichts für FreundInnen knapp zu beschreibender Plots ist.

Herrndorf selbst hält seinen Roman «für den Aufbewahrungsort des Falschen». Das erinnert an Don DeLillo und dessen komplexe und anspielungsreiche Romane, in denen es immer um sehr viel mehr geht als um das offen Ausgesprochene. Auch «Sand» kennt viele Leerstellen, die Verschiedenes bedeuten können. Man wird nicht leicht fertig mit diesem Buch. Es speist sich aus – ungemein pointensicher präsentierten – tödlichen Zufällen und erweist sich, weil es sich nach dem Zuklappen von selbst im Kopf weiterbewegt, als besonders lebendiges Exemplar einer seltenen Art.

Wolfgang Herrndorf: Sand. Rowohlt Verlag. Berlin 2011. 480 Seiten. Fr. 28.90