US-Fiktionen: Herbeigeträumte Attacken oder die Sprengkraft einer alten Formel

Nr. 16 –

In keinem Land verwickeln sich Fiktion und Realität auf so grundlegende, innige und spektakuläre Weise wie in den USA. Das hat historische Gründe, erhielt aber rund um den 11. September 2001 ganz neue Dimensionen.

Es wäre verwegen zu behaupten, die Formel «based on a true story» sei in den USA erfunden worden. Aber gleichzeitig gibt es kaum ein anderes Land, in dem die Realität als Geschichtenlieferantin bereits von Anfang an eine derart zentrale Rolle gespielt hat. Die US-Literatur stammt hauptsächlich von «wahren Geschichten» ab, genauer von den sogenannten «captivity narratives», niedergeschriebenen, actionreichen Erlebnisberichten von sogenannten Indianergeiseln. Puritanische SiedlerInnen, in der Mehrzahl Frauen, erzählen, wie sie von IndianerInnen entführt und gefangen gehalten worden waren, mit dem Ziel, Lösegelder zu erpressen, den Rückzug von Siedlungen zu erzwingen oder die Geiseln gegen andere Gefangene und Naturalien einzutauschen. Diese historisch verbürgten Geiselgeschichten aus dem 17. und 18. Jahrhundert waren gleichzeitig die ersten Bestseller der Neuen Welt, die Erstausgaben der bekanntesten Exemplare sind so zerlesen, dass sie nicht mehr erhältlich sind. «Based on a true story» ist seit US-Urzeiten nicht zuletzt ein Verkaufsargument, das bis heute Filme und literarische Werke mit seinem behaupteten Realitätskick auszeichnet.

Geheimtreffen im Pentagon

Spätestens seit den neunziger Jahren und später den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon in Washington beschäftigt uns aber auch das umgekehrte und viel weiter reichende Phänomen: Was, wenn nicht bloss Fiktionen von der Realität inspiriert sein können, sondern die Realität selbst plötzlich wie eine wahr gewordene Erfindung wirkt? Was, wenn man den ungeheuren Verdacht nicht mehr loswird, dass katastrophische Ereignisse wie die Anschläge vom 11. September 2001 in zahlreichen Fiktionen angedacht oder sogar vorweggenommen worden waren, und zwar nicht etwa in den Fantasien und Fiktionen der anderen, sondern in den eigenen, den einheimischen?

Sogar die US-Behörden glaubten nach dem 11. September, dass ProduzentInnen von Fiktionen einen siebten Sinn für ganz reale politische Entwicklungen haben. Das Pentagon und mit dem Militär verbundene technische Universitäten luden Schriftstellerinnen, Drehbuchautoren und Regisseurinnen zu Geheimtreffen ein, um gemeinsam zu beratschlagen, was die TerroristInnen wohl als Nächstes vorhaben könnten. Über diese Zusammenkünfte ist nur wenig bekannt, man weiss leider weder im Detail, wer eingeladen worden war, noch, worüber genau gesprochen wurde. Immerhin haben einzelne TeilnehmerInnen, wie der «Die Hard»-Drehbuchautor Steven de Souza, gegenüber der BBC solche Treffen bestätigt. Man sei in den Sitzungen aufgefordert worden, zu improvisieren und sich etwas möglichst Verrücktes auszudenken, das passieren könnte. So sollten Gefahren und Verwundbarkeiten rechtzeitig offengelegt werden, die von den nüchternen AnalytikerInnen der Geheimdienste und des Militärdepartements bis jetzt nicht bedacht worden waren.

Gleichzeitig wurden die professionellen GeschichtenerfinderInnen und vor allem Hollywood sanft angemahnt, Filme mit heiklen Plots nicht mehr in die Kinos zu bringen oder die Veröffentlichung von bereits Abgedrehtem zu vertagen. In den meisten Fällen hat die Traumfabrik aber von alleine reagiert und Filme freiwillig aus dem Verkehr gezogen. Das betraf etwa «Collateral Damage», ein Schwarzenegger-Vehikel, das vor dem 11. September 2001 noch mit dem Satz «This fall the war hits home» beworben worden war: Diesen Herbst schlägt der Krieg bei uns zu Hause ein. Wie es scheint, war die Unterhaltungsindustrie selber erschrocken, wie viele Filme die Fernsehbilder von den Flugzeugen und den explodierenden und einstürzenden Türmen auf die eine oder andere Art vorweggenommen hatten.

Ein ungemütlicher Verdacht

Der Filmkritiker Fritz Göttler sprach drei Wochen nach der Attacke von «verspielten, dekadenten» Filmbildern, die auf unseren Leinwänden jahrelang wie versteckte terroristische «Schläfer» auf ihre Entsicherung in der Wirklichkeit – und in unseren Köpfen – gewartet hätten. Vom irakischen Diktator Saddam Hussein ist der hämische Spruch überliefert: «Als wir die Bilder von 9/11 zum ersten Mal sahen, dachten wir, es sei bloss ein neuer amerikanischer Actionfilm.» Auch der französische Philosoph der Irrealität, Jean Baudrillard, kam in seinem Essay «Der Geist des Terrorismus» zu einem erstaunlich ähnlichen Schluss: 9/11 sei «ein Katastrophenfilm aus Manhattan», in dem zwei Elemente zusammenkämen, die schon im 20. Jahrhundert die Massen fasziniert hätten, «das weisse Licht des Kinos und das schwarze Licht des Terrorismus». Gewohnt pointiert fasste der slowenische Allzweckphilosoph Slavoj Zizek die herrschende Stimmung zusammen: «Der Schock ist, dass das passiert, wovon man geträumt hat.»

Dabei liess sich das ganze potenziell explosive Durcheinander von Realitäten, Fantasien und Fiktionen in den neunziger Jahren zuerst noch recht harmlos an. Nach dem Ende des sogenannten Kalten Kriegs nistete sich im triumphierenden Kapitalismus als übrig gebliebenem «only game in town» ein ungemütlicher Verdacht ein. Was, wenn meine Wirklichkeit, auf die ich mich im Alltag ganz selbstverständlich verlasse, ein Fake, eine Inszenierung, eine betrügerische Projektion böser oder zumindest dubioser Mächte wäre? Mehrere populäre Filme aus den neunziger Jahren spielten mit diesem Gedanken. Peter Weirs «The Truman Show» (1998) lässt seine Hauptfigur Truman Burbank in Echtzeit als Star einer TV-Seifenoper aufwachsen. Truman hält diese Realityshow für sein wahres Leben in einer ganz normalen biederen Kleinstadt, bis ihm eines Tages ein Scheinwerfer aus der gigantischen künstlichen Himmelskuppe vor die Füsse stürzt und auch andere Fassaden Risse bekommen.

Noch grösser war die Kelle, mit der die Wachowskis in ihrem Science-Fiction-Blockbuster «The Matrix» (1999) eine epochale filmische Realitätsfiktion anrührten: Wir leben in einer täuschend echten digitalen Projektion. Die reale Welt dahinter ist nach einem verlorenen Krieg gegen die Maschinen eine praktisch unbewohnbare, schreckliche Wüste. Trotzdem gibt es eine heldenhafte Rebellengruppe, die diese echte Realität zurückerobern und die Maschinenherrschaft mit ihren falschen Projektionen zerschlagen will. Und gewissermassen handelt auch David Finchers Film «Fight Club» (1999) nach dem gleichnamigen Roman von Chuck Palahniuk vom Unbehagen in einer falschen, oberflächlichen Scheinrealität, die wie das Abziehbild eines Ikea-Katalogs daherkommt. Das wahre Leben kann dagegen nur im Blut, Schmerz und Schweiss der geheimen Kellerboxklubs wiedergefunden werden. Am Ende von «Fight Club» detonieren die Bomben, die Wolkenkratzer der Kreditkartenfirmen stürzen in sich zusammen, zur Tilgung aller Schulden dieser Welt: Ground Zero.

Falsche Version der Wirklichkeit

Nach 1989 hatte die vorerst erstaunlich unspektakuläre und friedliche Entladung der grossen bipolaren Spannung zwischen den beiden Atommächten offenbar ein grundlegendes Misstrauen gegenüber der Realität freigesetzt. Gleichzeitig entlud sich die jahrzehntelang bedrohlich in der Luft liegende, aber nie gezündete grosse Atombombe nun auch fiktional in vielen kleineren Bomben. Wer die Filmplakate der erfolgreichsten Actionfilme aus den neunziger Jahren studiert, wird mit einem auffällig oft wiederkehrenden Bild konfrontiert: Explosionen als rotgelber Feuerball im Hintergrund, ein grimmig und entschlossen dreinblickender männlicher Held im Vordergrund. Was im US-Actionkino oft etwas simpel durchgespielt wurde, fand in den Romanen des New Yorker Schriftstellers Don DeLillo bereits früh eine genau durchdachte literarische Reflexion.

Auch in DeLillos Büchern explodierten Bomben. Aber mit seinem Roman «Mao II» lieferte er darüber hinaus bereits 1991 eine literarische Erkundung über die unheimliche Verschränkung von kreativer Fantasie und Terrorismus, die spätestens nach dem September 2001 im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit stand. Die Fragen, die DeLillo stellt, lauten zugespitzt: Sind die AutorInnen – zumindest in ihrer Fantasie – TerroristInnen? Oder sind nicht vielmehr die TerroristInnen die neuen AutorInnen? Die «New York Times» überschrieb eine Rezension von «Mao II» mit dem Titel «Gefährlicher Don DeLillo», obwohl DeLillo selber eigentlich gerade einen kontinuierlichen Macht- und Einflussverlust von AutorInnen konstatierte. Anfang der neunziger Jahre sagte er in einem Interview: «Vor nicht allzu langer Zeit durfte ein Romanautor noch glauben, er könne unser Bewusstsein von Terrorismus beeinflussen. Heute sind es die Terroristen, die unser Bewusstsein formen und steuern.» Nach dem 11. September 2001 doppelte er nach: «Nun bestimmen Terroristen, wie die Welt dargestellt wird.»

Ein aktuelles Beispiel zeigt allerdings, dass die ganz reale Macht und Manipulationskraft von Fiktionen weiterhin nicht unterschätzt werden sollte. Vor allem, wenn sich Drehbuchautoren und Regisseurinnen für ihre Stoffe «based on a true story» von Geheimdienst und Militär «beraten» lassen, wie bei Kathryn Bigelows Actionthriller «Zero Dark Thirty» (2012) über die Ermordung von Usama Bin Laden. Spätestens nachdem der renommierte Enthüllungsjournalist Seymour Hersh Anfang 2015 seine brisanten Recherchen publiziert hatte, wurde klar, dass die offizielle Version der Geschichte, die auch per Hollywoodfilm in der ganzen Welt verbreitet worden war, so überhaupt nicht stimmte. Die CIA hatte den meistgesuchten Terroristenchef mitnichten dank Folterverhören und jahrelanger hartnäckiger Geheimdienstarbeit aufgespürt. Der entscheidende Hinweis war vielmehr aus dem Umfeld des pakistanischen Geheimdiensts gekommen, der Bin Laden schon länger faktisch unter Hausarrest gehalten hatte. Somit war auch der Helikopterüberfall auf Bin Ladens Haus und seine Tötung durch US-Elitesoldaten wohl viel weniger sensationell als gezeigt und behauptet. Mit ihrem Wunsch nach möglichst wirklichkeitsgetreuer Fiktion hatten sich die FilmemacherInnen von offizieller Stelle eine falsche Version der Wirklichkeit unterjubeln lassen. Nicht nur Terroristen bestimmen, wie die Welt dargestellt wird, sondern auch staatliche Behörden.

Spurenelemente von Fiktionen

Doch was hat das alles mit den Indianergeiseln und anderen Geschichten aus der Gründerzeit zu tun? Bereits die «wahren» «captivity narratives» der PuritanerInnen waren nicht bloss Unterhaltungsliteratur, sondern ebenso propagandistische Traktate, die in enger Zusammenarbeit mit puritanischen Gemeindevorstehern und Geistlichen verfasst worden waren. Das Ziel damals: Verteufelung der IndianerInnen als BarbarInnen und Verbreitung christlicher Wahrheiten und Weltbilder – von der Vorsehung über das Jüngste Gericht bis zu den unergründlichen, aber stets weisen Wegen Gottes. All das verpackt in eine spannende Actiongeschichte mit leichtem Gruselfaktor.

Die US-Literatur besteht also ganz ursprünglich aus ideologisch bewaffneten, wahren Geschichten. Die aus derselben Zeit stammenden offiziellen Gründungsdokumente der USA wiederum enthalten deutliche Spurenelemente von Fiktionen. In der Unabhängigkeitserklärung von 1776 ist nichts weniger als das «unveräusserliche Recht» auf ein «Streben nach dem Glück» festgehalten. Sie ist ein politisches wie literarisches Markenzeichen der USA. Denn das staatlich versprochene Glücksstreben wurde als verwirklichter oder gescheiterter «amerikanischer Traum» zum festen Bestandteil zahlreicher Roman- und Filmplots, von «Der grosse Gatsby» über «Easy Rider» und «Der Pate» bis zu Jonathan Franzens Gegenwartsroman «Die Korrekturen».

Auch der erste Abschnitt des offiziellen Untersuchungsberichts zu den Anschlägen von 9/11 liest sich wie ein Roman- oder Drehbuchbeginn: «Dienstag, 11. September 2001. Der Tag begann an der US-Ostküste mit milden Temperaturen und einem fast wolkenlosen Himmel. Millionen von Männern und Frauen machten sich auf den Weg zur Arbeit. (…) In Sarasota im Bundesstaat Florida drehte der Präsident George W. Bush seine frühmorgendliche Laufrunde.» Was hätte wohl Platon, der als allererster Staatsphilosoph die lügnerischen Dichter und ihre Scheinwelten direkt aus der Polis verbannen wollte, über einen Staat gesagt, der selber zum Dichter wird?