Breivik-Prozess: Die Grenze zum Wahn
Der norwegische Massenmörder Anders Breivik kommt am Montag vor Gericht. Nach der von ihm bis heute glorifizierten Tat war er von zwei RechtspsychiaterInnen als «psychotisch» eingeschätzt worden: Wegen «paranoider Schizophrenie» sei er nicht zurechnungsfähig. Zur Tatzeit habe er in einer Wahnwelt gelebt, in der allein er die Normen gesetzt habe. Auch der norwegische Schriftsteller Erik Fosnes Hansen bekräftigte in einem Essay, Breivik habe in einem Traumreich gelebt, sei «von seinen Landsleuten derart weit entfernt, dass er nicht zu uns gezählt werden kann». Ein nun veröffentlichtes zweites Gutachten meint allerdings, Breivik sei «asozial und narzisstisch, nicht aber psychotisch und schizophren» – also zurechnungs- und schuldfähig.
Mit der psychiatrischen Bestimmung von Zurechnungsfähigkeit geraten wir in eine Ambivalenz der Moderne. Historisch bedeuten Psychiatrie und Psychoanalyse einen aufklärerischen Fortschritt. Der Mensch wird aus den religiösen Zwangsgesetzen befreit. Er wird aber auch nicht als vollkommen autonomes Subjekt gedacht. Vielmehr entwickelt sich ein differenzierteres Verständnis psychischer und sozialer Prozesse. Die verbrecherische Tat steht nicht länger im Mittelpunkt, sondern deren Motive und sozialen Umstände werden einbezogen. Der Mechanismus von Rache und Sühne wird aufgebrochen.
Tat und/oder Motiv: Diese beiden Auffassungen stehen sich heute noch gegenüber. Bei schweren Verbrechen taucht schnell der Ruf nach Rache auf; doch die Justiz «muss frei sein von Vergeltungsfantasien» (Martin Kiesewetter in WOZ Nr. 11/12 ). Obwohl der Befund der Unzurechnungsfähigkeit durchaus strenge Massnahmen nach sich zieht – Breivik würde länger psychiatrisch verwahrt als ins Gefängnis gesperrt.
Aber die psychiatrische Diagnose, die jemanden für unzurechnungsfähig erklärt, hat nicht nur für den Diagnostizierten einen Effekt: Sie rückt auch die Gesellschaft von ihm weg. Plötzlich tut sich eine Kluft zwischen dem pathologischen und dem als normal anerkannten Verhalten auf. Die Pathologie wird in den Untergrund der Psyche abgeschoben. Oder des unergründlichen Bösen.
Dagegen zeigte Hannah Arendt schon vor fünfzig Jahren in ihrer Studie über den bürokratischen Nazimassenmörder Adolf Eichmann, wie dessen Taten aus banalen psychischen Motiven entsprangen und wie er sie, auch vor sich selbst, zu rechtfertigen verstand. Und sie zeigte, wie die gesellschaftlichen Umstände und die Menschen in diesen seine Taten erst ermöglichten. Ein Fazit ihrer Studie lautete: Das Erschreckende an Eichmann war seine «Normalität».
Auch Breivik gehört einer «Normalität» an. Selbst wenn er die ihn umgebende Gesellschaft scharf ablehnte: Er brauchte in all den Jahren, in denen sein Hass latent blieb, Techniken, den Alltag jenseits seiner Zerstörungsfantasien zu bewältigen. Eine solche Existenz ist widersprüchlich. Selbst Breiviks «Manifest» ist ein uneinheitliches Konglomerat, aus rechtsextremen Thesen, aus mehrheitsfähiger Fremdenfeindlichkeit, aus praktikablen Verhaltensregeln. Die rechtsextremen geistigen Brandstifter können benannt werden. Erklärungsbedürftig bleibt die Mischung.
Das Verstehen stösst an Grenzen. Als konkrete Tat mag die Handlung unerklärlich sein: Was diesen Menschen, Anders Breivik, dazu gebracht hat, seine Vorstellungen in Handlungen umzusetzen. Aber auch dieses Unerklärliche entspringt bestimmten Bedingungen und realen Erfahrungen, gesellschaftlichen Zuständen und deren Verarbeitung, bewussten Entscheidungen und unbewusstem Verhalten.
Notwendig bleibt eine auch nur annähernde Erklärung. Man muss den Wahn als Möglichkeit anerkennen – und zugleich versuchen, ihn in Schranken zu halten. Also Bedingungen herstellen, dass er nicht zerstörerisch werden kann. Orientierungspunkte dafür müssten sein: psychisch-emotionales Selbstvertrauen aufbauen und selbstbestimmtes Handeln ermöglichen, das Nichtgewalttätige, das Demokratische, Gemeinschaftliche stärken, auch das Verantwortliche. Und dies sowohl individuell wie gesellschaftlich.