Medientagebuch: Lautes Schweigen

Nr. 15 –

Adrian Riklin über das spezifische Gewicht eines Gedichts.

Während ich darüber nachdenke, wie ein Schriftsteller zu Hause an seinem Schreibtisch sitzt und über einem Text brütet, den er eines Tages an drei Zeitungsredaktionen schickt, sitze ich zu Hause am Schreibtisch und brüte über diesem Text, den ich morgen an eine Zeitungsredaktion geschickt haben werde. Und ich staune darüber, wie laut ein Text aus einem stillen Kämmerlein sein kann.

Zuerst also ist da: ein weltberühmter Mensch, dem etwas auf dem Herz liegt, in einem Kämmerlein. Um zu verlautbaren, was ihm auf das Herz drückte, wählte er die Weltöffentlichkeit. Und er wählte ein Gedicht. Eines, das man zunächst auch als Selbstgespräch lesen kann, das der Mann im Kämmerlein geführt hatte. Ein Selbstgespräch, in dem er sich darüber klar zu werden versucht, warum er so lange verschwieg, «was offensichtlich ist» – und zum Schluss kommt, dass es sich um ein «allgemeines Verschweigen» handelte, dem sich sein Schweigen «untergeordnet» habe. Glaubt der Mann, dass die Welt über das eine oder andere schweigen würde, weil er ihr selbst so lange das eine oder andere verschwiegen hat?

Aber vielleicht hat der Mann schon im Kämmerlein nicht mit sich gesprochen. Sondern mit der Welt. Das könnte damit zu tun haben, dass ein weltberühmter Mensch selbst im stillsten Kämmerlein mit der Welt spricht. Dann wird aus dem Selbstgespräch eine Weltangelegenheit. Der Mann fühlt sich dazu verpflichtet, der Welt seine neue Erkenntnis mitzuteilen. Und als hätte er schon im Kämmerlein das Gewicht der Welt auf sich geladen, hat es sich schon beim Verfertigen der Gedanken schwer in die Zeilen gedrückt.

Noch war der Text bis dahin vielleicht gar kein Gedicht, sondern höchst solide Verlautbarungsprosa. Jedenfalls war es bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Weltöffentlichkeit gelandet. Noch hatte sich keine Klangwolke gebildet. Noch war es nicht vom Himmel gefahren und in hunderttausendfacher Gleichzeitigkeit in die Hände der westlichen Weltbevölkerung geraten. Noch hatte es sich nicht in vielen Köpfen verfangen und darin erneut Lärm geschlagen. Noch hallten daraus nicht weitere Schlagzeilen und Generalsätze in die Welt hinaus.

Nun aber, da ich darüber nachdenke, wie der Mann zum Hörer greift und die Nummer seines Agenten wählt, um seine Verlautbarung der Weltöffentlichkeit vorzusetzen, ist das Gedicht längst schon in die Weltgeschichte eingegangen. Kaum wurde es hunderttausendfach aus den Druckereien gefahren und in die Netze gestellt, hatte es gigantischen Lärm verursacht. Und während ich über diesem Text brüte, den ich morgen an eine Zeitungsredaktion geschickt haben werde, staune ich noch immer darüber, wie ohrenbetäubend laut ein im stillen Kämmerlein gebrochenes Schweigen in die Welt hineinfluten kann. Ich frage mich, was das für ein Vorgang ist: über das Schweigen zu schreiben. Und ob es dafür nicht Alternativen gäbe: Schweigen? Schweigen über das Schweigen? Oder: einfach das Verschwiegene aufschreiben?

Vielleicht ist der Mann ja nicht nur weltberühmt, sondern auch ein wenig weltfremd. Vielleicht. Auf jeden Fall macht es sich derzeit in vielen Runden gut, dem Mann eine geläufige Diagnose zu verpassen. Oder aber ihm zu applaudieren. Und noch viel bequemer ist es, unversehrt von dieser Welt im Kämmerlein zu sitzen und einen Text über einen berühmten Mann zu schreiben, der in einem anderen Kämmerlein über sein eigenes Schweigen gestolpert war.

Adrian Riklin ist WOZ-Redaktor.