Druckereisterben: Der letzte Zeitungsleser
Und wieder schliesst eine Druckerei – und ein hoffnungsloser Nostalgiker kämpft gegen die pressefeindlichen Winde unserer Zeit. Eine Kurzgeschichte vom nahen Verschwinden eines Gewerbes.
Eigentlich habe Herr L. an diesem Montag nur ins Café gehen und Zeitung lesen wollen, sagte eine Nachbarin, die ihn zuletzt im Treppenhaus angetroffen hatte.
D., ein Freund aus vergangenen Tagen, berichtete, dass sich L. schon die Jahre vor seinem Verschwinden zunehmend zurückgezogen habe. Telefonisch sei er schon seit langem nicht mehr zu erreichen gewesen. Die grösste Wahrscheinlichkeit, ihm zu begegnen, seien vereinzelte Kaffeehäuser in der Stadt gewesen; in wärmeren Monaten die Strassencafés, in kälteren die Innenräume.
Herr L. hatte ein tägliches Ritual. Dieses bestand darin, in Anwesenheit von mehr oder weniger fremden Leuten an einem Tischchen zu sitzen, Kaffee zu trinken und in Tageszeitungen zu lesen.
«Natürlich muss man bedenken», gab der alte Bekannte zu Protokoll, «dass es zu jener Zeit noch Tageszeitungen gab.»
Frau W., Stammgast eines weiteren Kaffeehauses, wo L. zuletzt in Zeitungen geblättert hatte, erinnerte sich an ein Gespräch, das sie eines Morgens geführt hatten. L. habe sich über die Lichtverhältnisse beklagt. Das sei doch einfach kein Licht, soll er gesagt haben.
«Ja», sagte die ehemalige Kellnerin, eigentlich sei Herr L. ein freundlicher Zeitgenosse gewesen. Doch eines Morgens habe er über die Verhältnisse geschimpft.
Sie könne das verstehen, meinte W. Es herrsche in der zeitgenössischen Gastronomie seit längerem ein diffuses Licht. Auch sie habe zunehmend Mühe bekundet, einem Zeitungsartikel unter diesen Umständen die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. In ihr mache sich seit längerem der Verdacht breit, dass es sich dabei um eine strategische Entscheidung handle.
So weit würde er nicht gehen, entgegnete P. Er könne sich gut an L. erinnern, wobei das Jahre zurückliege. Im späteren 20. Jahrhundert, als er selbst noch in einer Druckerei gearbeitet habe und von der Nachtschicht direkt ins Café gegangen sei, um sich, wie er beifügte, «vom Lärm der Maschinen zu erholen», seien sie sich zuweilen begegnet.
Es sei ihm aufgefallen, wie sorgfältig L. Tageszeitungen behandelt habe. Schon sein Gang von der Garderobe zur Zeitungsablage habe etwas Hochkonzentriertes gehabt, «als würde er sich innerlich auf die bevorstehende Lektüre vorbereiten». Dabei habe L. auf immer dieselbe Art, wie in einer einstudierten Choreografie, die Gläser der Lesebrille, die er zuvor aus der Mantelinnentasche genommen habe, beiläufig mit einem Stofftüchlein gereinigt.
So weit er sich erinnere, seien damals noch drei Tageszeitungen in der Stadt erschienen, und jede davon sei in einer eigenen Druckerei gedruckt worden. Wenn er also, noch immer den Lärm der Maschinen im Ohr, ins Café getreten sei, so sei er immer wieder von der konzentrierten Stille überwältigt worden, die ihn alsogleich vereinnahmt habe, sobald er die Eingangstür hinter sich geschlossen habe. Gewiss habe das auch an der schalldämpfenden Wirkung der Teppiche gelegen. Auf jeden Fall habe es ihm wohlgetan, in dieser Andacht dem konzertanten Blättern zu lauschen, das die Zeitungsleser ausgeübt hätten. Auch müsse er zugeben, dass ihm diese Akustik Genugtuung verschafft habe. Manchmal sei ihm das Rascheln und Knistern wie ein leiser Applaus vorgekommen, dann wieder, als habe sich der hemmungslose Lärm der Maschinen in ein minimalistisches Hörspiel vergeistigt.
Nun ja, gab die Nachbarin zu Protokoll, es habe sie schon verwundert, dass L. so viel Zeit für das Lesen von Tageszeitungen verwenden konnte. Wobei sie sich gefragt habe, womit er seinen Unterhalt bestreite. Worauf W. sich erinnerte, dass L. auf ihre Frage, was er beruflich tue, gesagt habe, dass er es sich zu seiner täglichen Pflicht gemacht habe, die Tageszeitungen einer ausführlichen Lektüre zu unterziehen. Dies allein verdiene seine ganze Aufmerksamkeit und lasse keine weiteren beruflichen Tätigkeiten zu, zumal ein umfassendes Lesen von Tageszeitungen höchste Sorgfalt auch im Umgang mit dem Material voraussetze. Eine Tageszeitung sei ja weit mehr als ihr oberflächlicher Inhalt. Entscheidend beim Lesen einer Tageszeitung sei ihre Handhabung. Überhaupt handle es sich dabei immer auch um Handarbeit. So erst könne auch die Beschaffenheit der Papiere angemessen gewürdigt werden, welche ganz eindeutig das Gewicht der Artikel mitbestimme. Erst durch langjährige tägliche Übung sei er imstande, das spezifische Gewicht eines Textes zu messen und zwischen den Zeilen zu lesen, wobei er immer wieder staune, wie viel Ungeschriebenes sich dabei herausdestillieren lasse.
Im Grunde sei L. ein hoffnungsloser Nostalgiker, meinte D. Wie oft er L. doch anerboten habe, ihn auf dem Weg ins 21. Jahrhundert zu begleiten. Doch L. sei unbelehrbar gewesen. Er könne sich an einen Vorfall in einem Strassencafé erinnern, kurz nach der Jahrtausendwende. Da habe sich L. heftig über die Windverhältnisse beklagt. Tatsächlich sei an jenem Nachmittag ein pitoyabler Wind über den Tisch und durch die Zeitung gefegt, sodass L. nur satzteilweise in der Zeitung habe lesen können und es kaum geschafft habe, von der einen zur anderen Seite zu blättern, geschweige denn zwischen einzelnen Zeilen zu lesen, was L. zur Behauptung hingerissen habe, dass es sich hierbei um einen dieser in den letzten Jahren aufgekommenen «pressefeindlichen Winde» handle, früher jedenfalls habe es nie so häufig derart «pressefeindlich gewindet». Als er ihm vorgeschlagen habe, die Zeitungslektüre bei ungünstigen Wind- und Lichtverhältnissen vorübergehend doch einfach bei sich zu Hause auszuüben, sei L. erst recht in Rage geraten und habe ihm einen Vortrag darüber gehalten, weshalb es für ihn ganz und gar nicht infrage komme, die Zeitungslektüre in private Räumlichkeiten zu verlegen.
Genau darüber habe auch er mit L. diskutiert, sagte P. Das müsse wenige Jahre vor der Jahrtausendwende gewesen sein, als nur noch zwei und bald darauf gar nur noch eine Tageszeitung in der Stadt erschienen seien, sodass er seine Stelle verloren und sich frühzeitig habe pensionieren lassen müssen, was ihn jedoch nicht davon abgehalten habe, weiterhin zur gleichen Zeit am frühen Morgen in jenes Café zu gehen, wenngleich die Stille, die ihn einst so behutsam aufgenommen habe, immer profaner geworden sei, je mehr sich der Nachhall des Maschinenlärms aus seinen Gehörgängen geschlichen habe. Auch sei er von da an mehr mit den Leuten ins Gespräch gekommen. Zunächst habe es sich nur um kurze Begrüssungs- und Abschiedsworte im Flüsterton gehandelt, als störe man eine liturgische Andacht. Bald aber sei man in recht bewegte Diskussionen gekommen, in denen es auch um das pressefeindliche Klima und den Niedergang der Tagespresse gegangen sei. «Jetzt, wo wir nur noch einen Übungsgegenstand haben», so habe L. gesagt, sei es umso wichtiger, «dass wir die Lektüre umso gewissenhafter pflegen».
So ähnlich habe sich L. anlässlich einer zufälligen Begegnung auf einer Verkehrsinsel, wenige Wochen vor dem Verschwinden der letzten Tageszeitung, auch ihm gegenüber ausgedrückt, versicherte D. Er sei sich der schweren Verantwortung bewusst, die er als Tageszeitungsleser trage, habe ihm L. zugebrüllt, um den Verkehrslärm zu übertönen. Es gehe nun noch mehr darum, die Tätigkeit des Lesens einer Tageszeitung und die dafür nötigen Handbewegungen und Kopfhaltungen vorbildlich auszuführen, wofür naturgemäss am ehesten noch immer, solange es die Lichtverhältnisse zuliessen, die wenigen noch einigermassen dafür prädestinierten Kaffeehäuser infrage kämen. Eine solche Tätigkeit in private Räumlichkeiten zu verlegen, sei obszön, um nicht zu sagen unsolidarisch. Wir seien ja schliesslich noch immer das letzte Glied einer Produktionskette. Ohne diese tägliche Andacht, diesen unseren Vergeistigungsdienst, wozu auch die Aufrechterhaltung der Papierakustik gehöre, würde bald auch diese letzte Tageszeitung verschwinden. «Und mit ihr auch die Arbeit der Journalisten, Fotografen, Layouter, Korrektoren, Drucker und Zeitungsverträger.»
Ja, sie könne sich an den Montagmittag erinnern, als keine Zeitung mehr im Briefkasten lag, sagte die Nachbarin. Kurz darauf sei ihr L. ein letztes Mal im Treppenhaus begegnet.