Selbstverwaltung in Serbien: Pleitegeier, Auftragskiller und eine freche Belegschaft

Nr. 15 –

Seit dem Ende Jugoslawiens vor zwanzig Jahren vernichtet eine wilde Privatisierungswelle die ökonomische Grundlage der Region. Die streitbaren und selbstbewussten ArbeiterInnen einer Arzneimittelfabrik in Nordserbien beweisen, dass es auch anders geht, und haben den Betrieb in Selbstverwaltung übernommen. Dem serbischen Gesundheitsministerium passt das nicht.

  • Das Jugoremedija-Hauptgebäude: Der Kampf der Belegschaft um ihre Firma und die Arbeitsplätze ist noch lange nicht vorbei. Foto: Thomas Bürgisser
  • 2007 am Jugoremedija-Werkstor: Zrdravko Deuric (rechts) präsentiert den Gerichtsbeschluss, mit dem die Arbeiterinnen und Kleinaktionäre die Firma zurückbekamen. Foto: Ravnopravost
  • Arbeiterinnen in der Verpackungsabteilung von Jugoremedija: Heute beschäftigt die Pharmafabrik 460 Angestellte. Foto: Thomas Bürgisser

«Yugo nece dugo» – «Der Yugo kommt nicht weit», kalauert Branislav Markus eine alte jugoslawische Lebensweisheit, als er nach der Begrüssung am Busbahnhof auf seinen etwas abgehalfterten Kleinstwagen einheimischer Produktion verweist. Die Autos der Marke Yugo, die im serbischen Kragujevac produziert wurden, mögen einen schlechten Ruf haben. Dennoch liefen von den pflegeleichten, schnörkellosen und vor allem unschlagbar günstigen Kompaktwagen zwischen 1981 und 2008 fast eine Million Exemplare vom Stapel, sogar in die USA wurde der Yugo exportiert. Markus’ Fahrzeug – Baujahr 1997 – läuft jedenfalls noch tadellos.

Wir sind in Zrenjanin, einer mittelgrossen Industriestadt, eine gute Autostunde nördlich von Belgrad gelegen, mitten im flachen Land der pannonischen Tiefebene (vgl. die «Geschichte von Zrenjanin» im Anschluss an diesen Text). Seit Anfang der neunziger Jahre arbeitet der gelernte Chemietechniker Markus im lokalen Pharmaunternehmen Jugoremedija. Die turbulente Geschichte, die dieser Betrieb in den letzten zehn Jahren durchlebt hat, ist ein Krimi erster Güte, der einerseits beispielhaft für die wirtschaftliche Entwicklung in Serbien steht, andererseits jedoch einen ganz aussergewöhnlichen Einzelfall beschreibt.

Doch beginnen wir am Anfang: Die Arzneimittelfabrik in Zrenjanin existiert seit 1961 und trägt seit 1973 den Namen Jugoremedija. Damals wurde die Fabrik nominell von einem Arbeiterrat geleitet. In Jugoslawien waren die Betriebe – anders als in den anderen sozialistischen Staaten Osteuropas – nicht Staatsbesitz, sondern gesellschaftliches Eigentum. Der Staat gab keine konkreten Planvorgaben, und die einzelnen Unternehmen konnten unabhängig und nach Wettbewerbsregeln wirtschaften und Entscheidungen umsetzen, die vom Betriebskollektiv in einem basisdemokratischen Prozess getroffen wurden – theoretisch.

Dieser ökonomische Sonderweg Jugoslawiens begann Anfang der fünfziger Jahre im Zuge des ideologischen Konflikts zwischen dem jugoslawischen Präsidenten Josip Broz Tito und dem sowjetischen Regenten Stalin. Faktisch hatten die Arbeiterräte jedoch wenig Gewicht: Die jugoslawische Nomenklatura bestimmte weiterhin den Gang der Wirtschaft. «Arbeiterselbstverwaltung» und «sozialistische Marktwirtschaft» waren jedoch wichtige ideologische Grundpfeiler des Landes, das im Kalten Krieg einen «dritten Weg» beschreiten wollte. Die Konzepte prägten auch das Selbstbewusstsein der JugoslawInnen und stärkten die Identifikation der Belegschaften mit ihren Betrieben.

Die ungerechte Neuverteilung

Als Branislav Markus Anfang der neunziger Jahre bei Jugoremedija zu arbeiten begann, wurden gerade die Arbeiterräte aufgelöst und der Betrieb in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Wie im gesamten Ostblock war es auch in Jugoslawien zum Kollaps des sozialistischen Systems gekommen; zusätzlich zerbrach hier während einer blutigen Dekade des Bürgerkriegs auch der ganze Vielvölkerstaat. In der Ära von Slobodan Milosevic veräusserte der Staat einen Teil der Betriebe an Private sowie an die Belegschaften, die Anteilsscheine zugeteilt bekamen oder erwerben konnten. Allerdings wurde diese Neuverteilung von Eigentumsrechten in Form einer ungeregelten Vergabe von Vouchers in Serbien – wie in allen ehemals sozialistischen Ländern Osteuropas – von Funktionären und Kriminellen genutzt, die sich über Nacht riesige Vermögenswerte aus dem Staats- und Gesellschaftsbesitz aneigneten.

Im Fall von Jugoremedija behielt der Staat vorerst 42 Prozent des Aktienpakets. Die restlichen 58 Prozent gingen zu einem Teil an die Belegschaft, zum anderen an rund 4000 KleinaktionärInnen, die zumeist ebenfalls aus Zrenjanin und Umgebung stammten. Das Unternehmen erzielte selbst unter den schwierigen Bedingungen von Bürgerkrieg und Wirtschaftsembargo Gewinn und galt als erfolgreicher Betrieb. Bis heute exportiert die Firma mehrheitlich in die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, ein kleinerer Teil ist für den heimischen Markt bestimmt. Nach dem Sturz des Milosevic-Regimes im Jahr 2000 kamen in Serbien demokratische Kräfte an die Macht – und deren Annäherung an Europa ging mit einer rigorosen, neoliberal geprägten ökonomischen Politik einher, die zum Ziel hatte, in einer neuerlichen Privatisierungswelle den Grossteil des noch in Staatshand befindlichen Wirtschaftseigentums in private Hände zu überführen.

Auch im Fall von Jugoremedija wollte der Staat seine Anteile nun möglichst schnell veräussern. Die staatliche Privatisierungsagentur verkaufte im Jahr 2002 das staatliche Minderheitenpaket an Jovica Stefanovic, einen Mafioso, der sich in der Milosevic-Ära mit Zigarettenschmuggel zum Grossindustriellen emporgeschwungen hatte, zahlreiche Firmenanteile aufkaufte – und auf der Fahndungsliste von Interpol stand. Stefanovic, der vergangenes Jahr wegen unlauteren Geschäftsgebarens in einem anderen Fall von den serbischen Behörden verhaftet wurde (und dem eine Gerichtsverhandlung noch bevorsteht), verpflichtete sich im Vertrag, den er 2002 mit der Privatisierungsagentur abschloss, Jugoremedija zu sanieren. Im Geschäftsplan, den er dann vorlegte, war von einer Modernisierung des Betriebs jedoch keine Rede mehr, weshalb die Aktionärsversammlung sein Konzept 2003 ablehnte. Doch Stefanovic überging auch diesen rechtlich bindenden Beschluss, liess sich über eine illegale Rekapitalisierung des Betriebs die Aktienmehrheit überschreiben und gebärdete sich fortan als «gazda», als alleiniger Chef.

Doch Stefanovic hatte nicht mit dem Widerstand der Belegschaft gerechnet. «Niemand kann ohne meine Zustimmung über mich entscheiden», sagt Branislav Markus heute. Wir sitzen in der bescheidenen Zweizimmerwohnung, in der er mit seiner Frau Adrijana – die ebenfalls bei Jugoremedija arbeitet – und den beiden Kindern lebt. Der Tisch ist reich gedeckt mit gebratenem Fleisch, eingelegten Paprikaschoten, weissen Semmeln und russischem Salat. Mit Verve schildert Markus während des Essens den weiteren Verlauf. Er selbst gehörte zum harten Kern eines Teils der Jugoremedija-Angestellten, der sich tatkräftig gegen das neue Management zur Wehr setzte. Rund 150 ArbeiterInnen organisierten ab 2003 Streiks, Demonstrationen und Protestaktionen. Als sie gegen Stefanovic Klage einreichten, stellte er sie auf die Strasse und ersetzte sie durch StreikbrecherInnen. Auf eine Betriebsbesetzung durch die Streikenden reagierte Stefanovic mit der Rekrutierung einer Privatarmee an Sicherheitsleuten, die – sekundiert von Polizei und Gendarmerie – die ArbeiterInnen aus den Werkhallen prügelten. Schikanen gegenüber den AktivistInnen waren an der Tagesordnung. Einzig der serbische Antikorruptionsrat unterstützte die Anliegen der ArbeiterInnen. Doch die Demarchen, die dessen Präsidentin Verica Barac an die Regierung richtete, verklangen ungehört. Gleichzeitig diffamierten die Medien die Streikenden. «Wir wurden als Ewiggestrige, als Stalinisten, Titoisten, Diebe und Alkoholiker beschimpft», erinnert sich Markus.

Ein alter Kämpfer

Nach dem Mittagessen treffen wir einen, der sich mit Widerstand auskennt: Nebojsa Popov war sein ganzes Leben lang ein Oppositioneller. Als Assistent am soziologischen Institut der Universität Belgrad wurde er Anfang der sechziger Jahre Mitglied des Praxis-Kreises, einer Gruppe jugoslawischer Philosophen und Sozialwissenschaftler, die sich für einen undogmatischen Marxismus einsetzten. Zusammen mit Intellektuellen wie Ernst Bloch, Erich Fromm, Jürgen Habermas oder Herbert Marcuse richteten sie zwischen 1963 und 1974 auf der Adriainsel Korcula als offenes Diskussionsforum eine «Sommerschule» aus und publizierten die kritische Zeitschrift «Praxis». 1975 verbot das Regime die Praxis-Gruppe, Popov wurde zusammen mit anderen von der Universität gewiesen. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Regimes war Popov in den neunziger Jahren einer der schärfsten Kritiker von Milosevic und dessen grossserbischem Nationalismus gewesen. Zivilcourage und kritischer Geist haben den 73-jährigen Intellektuellen zu einer moralischen Instanz gemacht. Als Chefredakteur der Zeitschrift «Republika» war Popov einer der wenigen, die den Arbeitskampf der Belegschaft von Jugoremedija unterstützten.

«Nach dem Zusammenbruch des Systems hätte man einen Konsens finden müssen», sagt Popov im oberen Stock seines einfachen Holzhauses in Zrenjanin. Einen Konsens darüber, «wie man die chaotische Situation in eine rationale Eigentumsform privater oder öffentlicher Art überführen könnte». Ein Bretterverschlag schützt das Grundstück zur Strasse hin, über eine Galerie gelangt man zur knarrigen Tür. Obwohl er krank ist, empfängt uns Popov in einem schummrigen Zimmer und schält sich aus dem schweren Teppich, der von der Decke hängt, um die Schlafnische zu verbergen. Über dem Pyjama trägt er eine grau-weisse Strickjacke. Noch heute hält er es für fatal, dass die postsozialistischen Gesellschaften es versäumt hätten, die Neuverteilung des gesellschaftlichen Besitzes auf demokratische, verfassungsgestützte Weise zu organisieren. Der «wilde Kapitalismus», den der Systemwechsel stattdessen gebracht habe, kenne «weder rechtliche noch politische oder moralische Normen».

Umso mehr liegt Popov Jugoremedija am Herzen. Denn tatsächlich kam es im aufreibenden Arbeitskampf Ende 2006 zu einer überraschenden und positiven Wendung: Ein Gericht erklärte den Verkauf von Jugoremedija für illegal. Der Staat erhielt sein Aktienpaket zurück, und die 150 ausgesperrten ArbeiterInnen konnten in die Fabrik zurückkehren. Zwar bestätigte das Urteil lediglich verbürgtes Recht; in einem dysfunktionalen und korrupten Rechtssystem wie dem von Serbien war die Entscheidung aber sensationell. Ohne die jahrelangen Proteste – davon sind alle Beteiligten überzeugt – wäre dieser Gerichtsentscheid nie gefällt worden.

Viele Knüppel

Im März 2007 folgte dann eine weitere Überraschung: Die Aktionärsversammlung von Jugoremedija wählte die Wortführer des Widerstands in die Geschäftsleitung. Direktor wurde der Maschinenmechaniker und Gewerkschaftssekretär Zdravko Deuric, Branislav Markus nahm zusammen mit anderen ArbeiterInnen im Verwaltungsrat Einsitz. All dies macht Jugoremedija für Popov zum «rettenden Strohhalm», zum Zeichen der Hoffnung, dass mit Kampfeswille und Beharrlichkeit in Serbien vielleicht doch noch ein konsensorientiertes Wirtschaftssystem und die Geltung des Rechts verwirklicht werden könnten.

Der Kampf der Belegschaft um den Erhalt ihrer Fabrik und ihrer Arbeitsplätze war damit jedoch noch lange nicht vorbei. Deuric und sein Team standen bei Arbeitsantritt vor einem Scherbenhaufen. Stefanovic hatte Jugoremedija ausgeschlachtet: Die gesamten Lagerbestände hatte er verscherbelt und eine hohe Hypothek auf das Fabrikgebäude aufgenommen. Zudem war Jugoremedija 2007 mit umgerechnet 38 Millionen Franken verschuldet: Steuerzahlungen, Löhne und Kreditraten waren ausgeblieben, Rechnungen von Zulieferfirmen und LizenzgeberInnen hatte Stefanovic über Monate hinweg nicht beglichen. Nach der Urteilsverkündung hatte er auch noch die Produktion stoppen lassen, um Jugoremedija vollends in den Bankrott zu treiben.

Und was tat der Staat, der ja für das ganze Schlamassel mitverantwortlich war? Unterstützte er die Betriebsleitung, die die Fabrik wieder flottzumachen versuchte? Nein, er warf dem jetzt selbstverwalteten Betrieb weitere Stöcke zwischen die Beine. So drohte das serbische Gesundheitsministerium damit, Jugoremedija die Produktionsgenehmigung zu entziehen, falls die Werkhallen nicht innert kürzester Frist gemäss europäischen Standards von Good Manufacturing Practice (GMP) saniert würden. Gleichzeitig wollten die Behörden das Unternehmen um jeden Preis an einen privaten Investor veräussern.

«Die Arbeiter erwiesen sich als sehr solide und unternehmenslustig», sagt Popov, «sie haben den Grossteil ihrer Löhne in die Wertsteigerung ihrer Firma reinvestiert.» Umgerechnet etwa fünfzehn Millionen Franken steckten die Belegschaft und die KleinaktionärInnen in die Renovierung der Anlage für die Tablettenherstellung. Sie erhielten dafür Anfang 2011 das GMP-Zertifikat, sicherten die Produktion, erhöhten die Kapazitäten und schufen zusätzliche Arbeitsplätze. 460 ArbeiterInnen sind heute bei Jugoremedija angestellt.

Engagement durch Selbstbestimmung

Stolz führt Markus im weissen Kittel durch die modernen Werkhallen und die Verpackungsabteilung: «Wir haben aus einem Yugo einen Mercedes gemacht», freut er sich. Und nicht nur das. 2010 begann ein Teil der Arbeiterinnen und Kleinaktionäre von Jugoremedija mit dem Bau eines weiteren Arzneimittelwerks, in dem Penizillin hergestellt werden soll; sie haben dafür privates Kapital und Tausende Arbeitsstunden investiert. Über Monate hinweg arbeiteten sie auch in ihrer Freizeit auf der Baustelle, sie betonierten das Fundament, errichteten das Mauerwerk und verlegten Leitungen.

All dies bewerkstelligte die Belegschaft unter den schwierigen Bedingungen der Weltwirtschaftskrise, die Serbien besonders hart getroffen hat. Ein solches Engagement, sagt Markus, ist nur möglich, «wenn ich mich demokratisch in die Entscheidungsfindung einbringen kann». Und noch etwas hat das Beharren auf ihrem Mitspracherecht bewirkt: Die ArbeiterInnen von Jugoremedija entwickelten ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein. So gründeten sie Ende 2007 zusammen mit BetriebsaktivistInnen anderer Zrenjaniner Betriebe wie des Schienenfahrzeugunternehmens Sinvoz und der Fleischfabrik BEK, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben, die Bewegung Ravnopravnost (Gleichberechtigung). Bei den Lokalwahlen 2008 erreichte Ravnopravnost über fünf Prozent der Stimmen und zog in den Gemeinderat ein. Sogar ein Mandat in der lokalen Exekutive hat die Bewegung gewonnen: Markus’ Sitz im Stadtrat. Ravnopravnost sucht auch den internationalen Austausch – und hat sich beispielsweise mit der gewerkschaftlichen Bewegung Giù le mani im Tessin vernetzt, die 2008 erfolgreich die SBB-Güterwagen- und Lokomotivwerkstätten verteidigt hatte.

Doch inzwischen steht Jugoremedija das Wasser wieder bis zum Hals: Seit über einem halben Jahr kann der Betrieb keine Löhne mehr auszahlen. Die desolate Finanzlage ist dem Jugoremedija-Direktor Zdravko Deuric ins Gesicht geschrieben. Im Büro des dunkelhaarigen Mittvierzigers klingeln unablässig die Telefone; Sekretärinnen und Mitarbeiter linsen durch die Tür, stellen Fragen und warten auf Anweisungen. Zwar sei die von Stefanovic geerbte Schuldenlast mittlerweile abbezahlt, doch fehle Geld, weil der staatliche Gesundheitsfonds seit über einem Jahr die bestellten und gelieferten Medikamente nicht bezahlt habe, erläutert Deuric. Zudem nähmen die Behörden Einfluss auf die Banken, damit diese Jugoremedija keine Kredite mehr gewähren – oder nur noch zu horrenden Bedingungen. Und nun habe auch noch der wichtigste Lizenzgeber, der französische Pharmagigant Sanofi-Aventis, den Betrieb wegen ausstehender Rechnungen verklagt.

Jugoremedija erwirtschaftete im letzten Finanzjahr einen Überschuss und konnte einen Durchschnittslohn in Höhe von monatlich immerhin rund 420 Franken auszahlen. Doch das Unternehmen ist von Lizenzen abhängig, da es selber keine Forschung betreibt. Die aktuelle Misere, beteuert Deuric, sei auf Machenschaften höchster Chargen des serbischen Gesundheitsministeriums zurückzuführen, die den Betrieb in den Ruin treiben wollen, ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen. «Aventis ist – bewusst oder unbewusst – der Auftragskiller», sagt Markus.

Und schon wieder läuft eine Kampagne in den regionalen Medien. Und nicht nur dort. Die Polizei hat Jugoremedija mehrfach durchsucht. Deuric, dem Bereicherung vorgeworfen wird, wurde mehrmals festgenommen, aber jeweils wegen mangelnder Beweise wieder freigelassen. Und es trifft nicht nur ihn. Immer wieder gibt es dubiose Übergriffe auf AktivistInnen von Ravnopravnost. Erst Ende Februar wurde auf Robert Fai, der ebenfalls im Verwaltungsrat von Jugoremedija sitzt, ein Anschlag verübt. Ein Betonklotz, der nachts durch sein Schlafzimmerfenster geflogen kam, verfehlte seinen Kopf nur knapp. Wegen der verleumderischen Gerüchte, der drohenden Insolvenz und der Ungewissheit könnten nun die Mehrheitsverhältnisse in der Aktionärsversammlung kippen. «Einige glauben immer noch, der Staat werde alle Probleme für sie lösen.» Deuric schüttelt den Kopf. Er ist nicht dagegen, dass der Staat sein Aktienpaket veräussert, doch sollte es an einen strategischen Partner gehen, der am Erhalt von Jugoremedija interessiert ist. «Wir haben gezeigt, was an der Privatisierung schlecht ist, und den Beweis erbracht, dass es auch anders geht», sagt Markus. «Deshalb wollen sie uns vernichten.»

Das sieht auch Boris Kanzleiter in Belgrad so, der Leiter des Regionalbüros Südosteuropa der linken deutschen Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS), die die Aktivitäten von Ravnopravnost unterstützt. Einerseits passe ein von KleinaktionärInnen und ArbeiterInnen verwalteter Betrieb nicht in das vom Staat propagierte neoliberale Privatisierungsmodell. Andererseits hätten Importunternehmen, die den serbischen Markt selbst mit Medikamenten beliefern wollen, ein handfestes Interesse daran, dass das Werk in Zrenjanin pleitegehe. Über Regierung, Justiz und Behörden nehme die Importlobby Einfluss. «Jugoremedija gleicht einem Prisma», sagt Kanzleiter. «Es zeigt, was an den makroökonomischen Strukturen zu kritisieren ist und welche Alternativen es gäbe, den politischen Willen vorausgesetzt.» Der Fall Jugoremedija sei für die RLS auch deswegen interessant, weil sich hier eine Belegschaft in einem neuen und zeitgemässen Sinn als links definiere und nach Modellen sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Partizipation suche.

Jugoremedija-Direktor Deuric: «Einige glauben noch immer, der Staat löst alle Probleme.» Foto: Thomas Bürgisser
Branislav Markus, Aufsichtsrat: «Aventis ist – bewusst oder unbewusst – unser Auftragskiller.» Foto: Thomas Bürgisser

So gesehen liegt die politische Sprengkraft von Jugoremedija darin, dass hier ArbeiterInnen unter widrigen Umständen den Beweis erbrachten, dass ein selbstverwalteter Betrieb durchaus rentabel sein und marktfähige Produkte hervorbringen kann – sogar in Serbien.

Geschichte von Zrenjanin : Hier leben viele Nationalitäten zusammen

«Sowohl Europa als auch der Kosovo» – mit diesem Slogan führt die Demokratische Partei des amtierenden serbischen Präsidenten Boris Tadic den Kampf um die Parlamentswahlen im Mai. Tadic will das Land in die EU führen, ohne den Anspruch auf die ehemalige serbische Provinz aufzugeben – obwohl Brüssel die serbische Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo zur Bedingung für einen Beitritt macht. So steht die Kosovo-Frage noch immer im Vordergrund – auch in den Medien.

Dabei haben die Menschen in Serbien andere Sorgen: Die Arbeitslosigkeit ist immens, Hunderte Betriebe sind in den letzten zehn Jahren im Zuge von Privatisierungen zugrunde gegangen, Tausende Arbeitsplätze wurden vernichtet. Der Prozess der Deindustrialisierung trifft vor allem den Norden des Landes, zu jugoslawischer Zeit der Wirtschaftsmotor der Republik. Zrenjanin ist nicht nur geografisch weit weg vom Kosovo. Die mittelgrosse Stadt liegt in der nordserbischen autonomen Provinz Vojvodina. Der östliche Teil der Vojvodina gehört zum Banat, einem Gebiet, das auch Teile Ungarns und Rumäniens umfasst und eine bewegte Geschichte hat: Das Gebiet um Zrenjanin gehörte einst zum Königreich Ungarn, war während der Türkenkriege fast 200 Jahre lang Teil des Osmanischen Reichs, fiel danach unter die Herrschaft der Habsburgermonarchie und wurde erst 1918 Jugoslawien zugesprochen. Bis zu den grossen Vertreibungen im Zuge des Zweiten Weltkriegs war die Bevölkerungsstruktur im Banat stark durchmischt. Auch heute leben in der Umgebung von Zrenjanin noch viele UngarInnen, aber auch RumänInnen, Roma und SlowakInnen. JüdInnen sowie Angehörige der ehemals bedeutenden deutschen Minderheit gibt es dagegen kaum noch hier. Der alte Name der Stadt – Nagybecskerek – erinnert an ihren ungarischen Ursprung. Erst später wurde sie nach dem lokalen kommunistischen Partisanenkämpfer Zarko Zrenjanin benannt, der 1942 von der Gestapo ermordet worden war.

Anders als in anderen ethnisch stark durchmischten Gebieten Jugoslawiens kam es in der Vojvodina nach 1991 nicht zu einem Bürgerkrieg. Die Region ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie über ein Dutzend verschiedene Nationalitäten auf friedvolle Art und Weise das Zusammenleben organisieren können. Als schwierig erwies sich teilweise die Integration der SerbInnen, die aufgrund der Bürgerkriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina zu Hunderttausenden als Flüchtlinge in die Vojvodina kamen. Prekär ist auch die soziale Situation vieler Roma in der Provinz.
Thomas Bürgisser

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