Sozialismus in Jugoslawien: Der «dritte Weg» wurde auf Pump beschritten
Im Reich des jugoslawischen Staatspräsidenten Josip Broz Tito gab es viel mehr Luft zum Atmen als im alten Sowjetblock. Aber sein Machtanspruch durfte nicht infrage gestellt werden.
«Von den Wiesengründen unter dem Festungshügel tönen Geige und Tamburin herauf. Dort tanzen sie, Arm in Arm im Kreise wirbelnd, den Kolo, kurzberockte Mädchen, Zigeunerinnen in Pluderhosen, junge Männer mit Backenbärten, Soldaten, auch Frauen bestandenen Alters und Herren von akademischem Habitus. Froh, für ein paar Stunden Wohnverhältnissen entronnen zu sein, die vor allem für die meisten Stadtbewohner noch immer sehr eng und veraltet sind, freuen sie sich doch über den besonders seit den Reformen von 1966 entstandenen Atemraum, der vielen ermöglicht hat, sich wirtschaftlich besser zu stellen, und fast allen, sich freier zu fühlen.» Es ist der 1. Mai 1969, und die Bevölkerung der jugoslawischen Hauptstadt Belgrad begeht den proletarischen Feiertag beim Kalemegdan, der alten Türkenfestung am Zusammenfluss von Save und Donau.
Die Zeilen, die wohl auch beim kommunistischen Parteiapparat Anklang fanden, entstammen einer Feder, die über jeden Verdacht der Liebäugelei mit sozialistischen Ideen erhaben ist. Sie stehen in einer Reportage von Eric Mettler, damals Chef der Auslandredaktion der NZZ.
Kein Land zum Davonrennen
Die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien genoss international eine einzigartige Sonderstellung. Aufgrund der geostrategisch wichtigen Position des Landes zwischen den Machtblöcken konnte sich das Regime im Kalten Krieg erhebliche Handlungsspielräume erstreiten. Zwar herrschte im Vielvölkerstaat unter dem autoritären Staatspräsidenten Josip Broz Tito eine sozialistische Einheitspartei. Verglichen mit der Sowjetunion und ihren osteuropäischen Vasallenstaaten atmete es sich in Jugoslawien aber deutlich leichter. Während in Berlin die Mauer gebaut wurde, konnten die JugoslawInnen frei ins westliche Ausland reisen. Es war kein Land zum Davonrennen. Im Gegenteil sonnten sich jährlich Millionen TouristInnen aus dem Westen an seiner malerischen Adriaküste. Eine relativ liberale Gesellschaftsordnung liess Medien- und Kulturschaffenden Freiräume.
Mit umfassenden Reformprogrammen integrierte die Regierung Wirtschaftsordnung und Währungssystem in die Strukturen des internationalen Freihandels. In der «sozialistischen Marktwirtschaft» konnten die Unternehmen ohne zentrale Planung direkt mit dem Ausland wirtschaften. Ob als weitgehend liberalisierter Absatzmarkt für Produkte oder als Lizenznehmer und Zulieferer von Waren und Rohstoffen – Jugoslawien war für Industrieunternehmen und Banken aus dem Westen ein interessanter Handelspartner und Investitionsobjekt zugleich. Hier wurde eine Art von Sozialismus praktiziert, mit dem sich lukrative Geschäfte machen liessen.
Die Macht der Arbeiterräte
Im Gegensatz zu anderen Widerstandsbewegungen Europas hatten die jugoslawischen PartisanInnen ihr Land im Zweiten Weltkrieg weitgehend selbst befreit. Dies erlaubte der Kommunistischen Partei Jugoslawiens ein selbstbewusstes Auftreten gegenüber Moskau. Der latente Konflikt mit der Sowjetunion eskalierte 1948 im Bruch zwischen Stalin und Tito. Für Moskau und seine Satelliten galt Jugoslawien fortan als abtrünnig; das Regime in Belgrad musste sich neue Partner suchen und tat das im Westen.
Gleichwohl musste die Partei ihren Herrschaftsanspruch legitimieren und brauchte dazu eine neue ideologische Basis, die sich vom Kommandostaat sowjetischer Prägung unterschied. Die ParteiideologInnen des ursprünglich stalinistisch geprägten Regimes besannen sich deshalb auf die marxistischen Klassiker zurück und entwarfen in den fünfziger Jahren ein Konzept, das vorsah, dass der Staat absterben und einer «Assoziation freier Produzenten» weichen sollte. In Abgrenzung von Dirigismus und Bürokratie realsozialistischer Planwirtschaft setzten die jugoslawischen KommunistInnen auf Dezentralisierung und Demokratisierung politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen. Die Betriebe wurden an Produktionsgenossenschaften übergeben, die sich über Arbeiterräte selbst organisierten.
Die Organe dieser ArbeiterInnenselbstverwaltung hatten in vielen Bereichen der Unternehmensführung – von der strategischen Ausrichtung bis hin zur Preis- und Lohnpolitik – ein Mitspracherecht. Das Management musste gegenüber der Betriebsversammlung Rechenschaft ablegen und konnte von ihr abgewählt werden. So weit die Theorie.
Auf SozialdemokratInnen und undogmatische Linke übte Titos «dritter Weg» eine erhebliche Faszination aus. Dabei war allen klar, dass in Jugoslawien nicht alles perfekt war. Von links hörte man die Kritik, die Arbeiterräte seien pseudodemokratische Staffage, die «Herrschaft der roten Manager» bleibe unangetastet. Tatsächlich rückte die Partei zu keinem Zeitpunkt von ihrem Machtmonopol ab, und Übervater Tito blieb zeitlebens unantastbar.
Unterdrückte Opposition
Dissidente Stimmen, die früh die Korruption der «neuen Klasse» der Parteifunktionäre anprangerten, wurden zum Schweigen gebracht. Die «rote Bourgeoisie» unterdrückte Intellektuelle und studentische AktivistInnen, die im Zuge der 68er-Rebellion einen wahrhaft demokratischen Sozialismus forderten. Die Geheimpolizei blieb ein brutaler Repressionsapparat. Bestrebungen nach mehr Unabhängigkeit der einzelnen Republiken und Regionen, wie sie etwa im Kroatischen Frühling von 1971 oder in den Protesten im Kosovo in den achtziger Jahren zutage traten, wurden als «konterrevolutionär» etikettiert.
Von rechts hiess es, die ArbeiterInnen missbrauchten ihren Einfluss auf die Unternehmen: Viel Freizeit, hohe Saläre und Sozialleistungen lägen ihnen mehr am Herzen als kluge Investitionen in die Zukunft. Tatsächlich funktionierte das jugoslawische Wirtschaftssystem immer auf Pump. Das Land war von Anfang an und dann in wachsendem Ausmass von Krediten aus Ost und West abhängig. Hunderttausende «gastarbajteri» mussten im westlichen Ausland eine Beschäftigung finden. Ohne ihre Überweisungen an die Familien zu Hause wäre die Devisenlage noch weitaus dramatischer gewesen. Nur «aus weiterem Abstand betrachtet, mutet die Situation in ganz Jugoslawien wie ein – relatives und gefährdetes – Idyll nach mehreren politischen und sozialen Beben an», schloss Mettlers NZZ-Reportage 1969.
Zwei weitere Jahrzehnte überdauerte der jugoslawische Sozialismus, in dem es Rock ’n’ Roll und Coca-Cola gab – beides sowohl hausgemacht wie aus dem Westen. Der Staat bot seinen BürgerInnen relativen Wohlstand, Konsumkultur und durch die Selbstverwaltung ein positives Identifikationsmodell sowie gewisse Mitbestimmungsrechte. Die Heftigkeit, mit der dieses System 1990 zerbrach, kam überraschend. Das Vermächtnis des gescheiterten Staats bleibt sein Versuch eines eigenen unabhängigen linken Wegs.
* Wunsch von Jolanda Krummenacher: «Wie funktionierte Jugoslawien unter Tito?»