Kroatien: Mit voller Kraft voraus?

Nr. 25 –

Am 1. Juli 2013 tritt Kroatien der EU bei. Die kroatische Gesellschaft ist geprägt von ihrer nationalistischen Vergangenheit, einer desolaten Gegenwart und einer unsicheren Zukunft.

Kroatien ist ein vielgestaltiges Land. Dies zeigt allein die Topografie des kleinen, ein wenig wie ein Bumerang geformten Staatsgebiets: Östlich der Metropole Zagreb erstreckt sich zwischen Save und Donau weites, fruchtbares Tiefland, durchsetzt mit Dörfern und habsburgisch geprägten Städtchen. Die hügeligen Ausläufer der Julischen Alpen im Nordwesten und der Karstgebirge von Lika und Gorski Kotar erinnern an die Schweizer Voralpen oder den Jura. Der sich nach Süden hin verengende Landstreifen entlang der Adria schliesslich besticht durch eine mediterrane Landschaft und ist ein seit Jahrtausenden für Landwirtschaft und Seefahrt rege genutzter Kulturraum mit einer bis in die Antike zurückreichenden urbanen Tradition.

Unter den beliebtesten Feriendestinationen der Schweizer Bevölkerung nimmt das Land einen festen Platz ein. Bereits in den späten sechziger Jahren, als Kroatien noch zu Jugoslawien gehörte, bereisten jährlich weit über 100 000 SchweizerInnen seine malerische, wenn auch zunehmend überbaute Adriaküste und den ihr vorgelagerten Inselarchipel. Während des Kriegs in den neunziger Jahren ging der Tourismus stark zurück, erholte sich dann aber anschliessend und gilt heute als Zugpferd der gesamten Wirtschaft. Rund ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts wird durch den Fremdenverkehr generiert. Letztes Jahr besuchten rund 11 Millionen ausländische TouristInnen, darunter 176 000  SchweizerInnen, das Land mit nur 4,5 Millionen EinwohnerInnen.

«Traumhafte Küstenlandschaften, zahlreiche Inseln, kristallklares Meer und unzählige Sonnenstunden. Das ist Kroatien von seiner besten Seite», wirbt ein grosser Schweizer Reiseanbieter für die Sommersaison 2013. Doch gibt es auch die hässliche Seite des «schönen Sommergesichts», wie sich die kroatische Schriftstellerin und Journalistin Slavenka Drakulic in einem Artikel ausdrückt. Der virulente radikale Nationalismus werfe «einen dunklen Schatten auf das kleine Touristenparadies an der Adria», schreibt sie. Drakulic gehörte zu den prononciertesten KritikerInnen des Regimes von Franjo Tudjman, der Kroatien seit der Unabhängigkeitserklärung zu Beginn der neunziger Jahre weit über seinen Tod 1999 hinaus dominierte (vgl. «Wie ein ‹Volk› entsteht »).

«Balkan» als Schimpfwort

Hierzulande wird nur noch wenig über die kleine Republik berichtet, die aus der Konkursmasse des sozialistischen Jugoslawiens hervorgegangen ist. Die Medien fokussieren, wenn überhaupt, auf latente Konfliktregionen wie den Kosovo, Bosnien oder Serbien.

Paul Widmer, der frühere Schweizer Botschafter in Kroatien, hat 2004 immerhin einen anekdotischen Erlebnisbericht über seine Zeit als Botschafter in Zagreb zwischen 1999 und 2003 verfasst. Der publikationsfreudige Diplomat scheint ein Faible für Menschen und Länder mit ramponiertem Ruf zu haben. 2012 veröffentlichte er eine Biografie über den «umstrittensten Schweizer Diplomaten» Hans Frölicher, der während des «Dritten Reichs» nazifreundlicher Gesandter in Berlin war. Auch mit «Kroatien im Umbruch» (NZZ-Verlag) versuchte Widmer, bei einem skeptischen Publikum Verständnis zu wecken. Auf viel Resonanz stiess die Publikation nicht. Wo Kroatien nicht Ferien bedeutet, scheint es im toten Winkel zu liegen.

Es sei «ein Land zwischen Balkan und Europa», steht als Untertitel unter dem Postkartenmotiv der malerischen Altstadt von Dubrovnik, das den Umschlag von Widmers Buch ziert. Eine gängige Umschreibung, doch was genau bedeutet sie? Offensichtlich meint Widmer damit keine geografische Verortung, liegt doch die Balkanhalbinsel eindeutig auf dem europäischen Kontinent. Vielmehr geht es um die Vorstellungen, die mit diesen Raumbegriffen in Verbindung gebracht werden. «Balkan» ist eine Chiffre für Rückständigkeit und Primitivität, «Europa» symbolisiert dagegen die hehren Ideale von Fortschritt und Zivilisation.

Als «Balkanismus» bezeichnet Maria Todorova, Historikerin an der Universität von Illinois, den Komplex von Klischeevorstellungen über den Südosten Europas. In ihrem 1999 unter dem Titel «Die Erfindung des Balkans» in deutscher Übersetzung erschienenen Buch beschreibt Todorova anhand historischer Quellen, wie westeuropäische Eliten seit dem 19. Jahrhundert den lange Zeit türkisch dominierten Balkan zur Betonung der eigenen Überlegenheit als ein «kulturelles Anderes» konstruiert haben. Zivilisationskritische Balkanreisende romantisierten die «Ursprünglichkeit», die Naturbezogenheit und das Traditionsbewusstsein der dortigen Gesellschaften.

Die Kehrseite dieser Medaille waren imperialistische Herrschaftsansprüche der Grossmächte gegenüber der Region: Die rückständige sowie religiös und sprachlich gemischte Bevölkerung Südosteuropas stelle ein «Pulverfass» dar. Selbst könnten diese «unreifen Völker» keine Ordnung in diesen Flickenteppich bringen. Vor dem Ersten Weltkrieg, so Todorova, habe sich der Balkan vollends zu «Europas bequemem Vorurteil» für Instabilität, Chaos, Gewalt und Barbarismus verfestigt. Auch Kroatien, das seit 1918 zum neu gegründeten Königreich Jugoslawien gehörte, haftet dieses Stigma an.

Allerdings blieb diese Wahrnehmung nicht immer gleich ausgeprägt. Im Kalten Krieg etwa wurde Europa in anderen Raumkategorien gedacht. Im Zentrum stand der ideologische Gegensatz zwischen «freier Welt» im Westen und dem kommunistischen Ostblock. Als sozialistischer Staat erlebte Jugoslawien seit Ende des Zweiten Weltkriegs einen starken wirtschaftlichen Aufschwung und verfolgte politisch einen von Moskau unabhängigen Kurs. Entsprechend brachte der Westen viel Sympathie für Titos Vielvölkerstaat auf. Man kategorisierte ihn nach Merkmalen von Moderne, Fortschritt und ökonomischem Potenzial. Der «Balkanismus» schlummerte jedoch unter der Oberfläche. Als Jugoslawien im Bürgerkrieg gewaltsam zerfiel, waren die alten Stereotype schnell aufgewärmt. Anstatt deren komplexe Ursachen zu analysieren, stempelte der mediale und politische Mainstream die Konflikte als «typisch balkanisch» und «uneuropäisch» ab.

«Ein Land zwischen Balkan und Europa» – das in Widmers Buchtitel hervorgerufene Bild zeigt das zentrale Missverständnis auf. Die NationalistInnen, die an die Spitze des unabhängigen Kroatiens gewählt wurden und es in den Krieg führten, wurden nicht müde zu betonen, wie «westlich» und «europäisch» ihr «Volk» sei. Kroatien – bis zum Ersten Weltkrieg ein Teil der Habsburgermonarchie – sei seit Jahrhunderten ein «Bollwerk» Europas gegen «Orient» und «Balkan», gegen muslimische TürkInnen und orthodoxe SerbInnen gewesen. Ihren «Heimatkrieg» erachteten sie als legitimen und heroischen Abwehrkampf. «Europa» dagegen warf Kroatien in denselben Topf wie dessen Kriegsgegner: «Balkan».

Aggressiver Nationalismus, politische Radikalisierung, Kriegshetze, organisierte Gewalt und Massenmord, Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen: Diese Begriffe bezeichnen nichts exklusiv «Balkanisches», sondern finden sich in zahlreichen Kapiteln europäischer Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Vorstellung davon, was eine Nation ausmacht – eine sprachlich und konfessionell homogene Bevölkerung mit einem eigenen Staatsgebiet –, wurde in West- und Mitteleuropa entwickelt. Sie gab den Anstoss zum Wahn, ein überlebensfähiges Gemeinwesen müsse «ethnisch rein» sein.

Langwieriger Beitrittsprozess

Der Titel «zwischen Balkan und Europa» kann nicht nur als Bezugnahme auf die «kulturelle Lage» Kroatiens gelesen werden, sondern auch als eine angestrebte Bewegung: vom Balkan nach Europa. Die Ankunft im sicheren Hafen ist auf den 1. Juli festgesetzt. An diesem Tag wird Kroatien als 28. Mitglied in die Europäische Union aufgenommen. Es ist der Schlusspunkt eines von Brüssel diktierten Prozesses, der nach Tudjmans Tod von 1999 und der Niederlage seiner Kroatischen Demokratischen Union (HDZ) bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom 3. Januar 2000 begonnen hatte. Die danach neu regierende Koalition, angeführt von der Sozialdemokratischen Partei (SDP) unter Ministerpräsident Ivica Racan und Staatspräsident Stipe Mesic, führte das Land aus der internationalen Isolation. In Brüssel wurde ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen unterzeichnet (2001) und ein EU-Beitrittsgesuch gestellt (2003). Als die HDZ unter Ivo Sanader 2004 wieder an die Regierung zurückkehrte, war sie bereits zu einer moderaten konservativen Partei umgewandelt. Unter Sanader wurden die EU-Beitrittsverhandlungen eingeleitet (2005), und Kroatien trat der Nato bei (2009).

Verzögernd auf den Beitrittsprozess wirkte sich die mangelnde Kooperation mit dem Haager Kriegsverbrechertribunal aus. Im Umgang von Regierung und Bevölkerung mit mutmasslichen Kriegsverbrechern zeigt sich, wie stark das nationalistische Erbe die Gesellschaft noch heute prägt. Der überraschende Freispruch zweier ehemaliger Generäle im letzten Herbst wurde in Kroatien frenetisch gefeiert – was im Ausland mit Befremden wahrgenommen wurde.

Der Beitritt Kroatiens zur EU bedeutet auch eine Erweiterung der bilateralen Verträge der Schweiz mit der EU auf den neuen Mitgliedstaat. Die Schweizerische Volkspartei hat bereits angekündigt, sie werde gegen eine Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien das Referendum ergreifen. SVP-Generalsekretär Martin Baltisser argumentiert gegenüber der WOZ mit dem prinzipiellen Engagement seiner Partei «gegen Masseneinwanderung». Der eine oder andere «Balkanismus» wird sich im Abstimmungskampf wohl dennoch bemerkbar machen.

Aus Kroatien stammte ein Grossteil der qualifizierten Arbeitskräfte, die seit den fünfziger Jahren als jugoslawische GastarbeiterInnen in die Schweiz kamen – so Hunderte Ingenieure, die bei der Brown Boveri & Cie. in Baden arbeiteten, oder Krankenschwestern, die der Spitaldachverband Veska (heute H+) rekrutiert hatte. Mit den ETH-Professoren Leopold Ruzicka (1939) und Vladimir Prelog (1975) wurden zwei Schweizer kroatischer Herkunft mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet. Heute wohnen knapp 33 000  KroatInnen in der Schweiz. Tausende sind bereits eingebürgert worden, nachdem sie hier jahrzehntelang gelebt und gearbeitet hatten.

Nicht nur in Bezug auf die Migration waren die Beziehungen der Schweiz zu Kroatien im 20. Jahrhundert durchaus intensiv. Die Exporte von schweizerischen Unternehmen der Pharma- und Maschinenindustrie nach Kroatien sind – verglichen mit den anderen Nachfolgestaaten Jugoslawiens – auch heute noch hoch. Der Handelsverkehr mit der einstmals wirtschaftsstärksten Republik Jugoslawiens hatte sich früh entwickelt: Seit 1961 laufen in der landesweit grössten Werft in Rijeka – der Werft 3. Mai – Frachtschiffe vom Stapel, die mit in Lizenz hergestellten Sulzer-Dieselmotoren ausgerüstet sind. Der Zagreber Arzneimittelkonzern Pliva war lange Zeit der wichtigste Kooperationspartner und Lizenznehmer des früheren Basler Pharmamultis Ciba in der Region.

Transformation weg von der Selbstverwaltung

Zu jugoslawischer Zeit befanden sich alle Unternehmen – zumindest nominell – in «gesellschaftlichem Eigentum», und die Belegschaften wählten ihre Betriebsleitung selbst. «Selbstverwaltungssozialismus» und «sozialistische Marktwirtschaft» waren zu Titos Zeiten zentrale ideologische Prinzipien einer Politik des sogenannten dritten Weges. In der chaotischen Bürgerkriegssituation nach der Unabhängigkeit wurden in allen Nachfolgestaaten zahlreiche dubiose Privatisierungen durchgedrückt, an denen sich die korrupten Machtcliquen bereicherten. Der Abbau von Kroatiens ökonomischem Potenzial setzte sich auch nach der Ära Tudjman fort. Unter dem Schlagwort «Transformation» implementierten seine politischen Erben einen von Brüssel diktierten neoliberalen Wirtschaftskurs.

Die Zagreber Pliva etwa hätte als gut ausgestatteter und renommierter Konzern eigentlich beste Startbedingungen gehabt. Gemäss KritikerInnen wurde der grösste Arzneimittelfabrikant im mittel- und osteuropäischen Raum jedoch von einem unfähigen und korrupten Management niedergewirtschaftet. 2006 wurde der Betrieb unter ominösen Umständen an den US-Pharmakonzern Barr verscherbelt und mittlerweile von der israelischen Teva, führend auf dem weltweiten Generikamarkt, geschluckt. Mehrere Zweigstellen und Produktionsstätten von Pliva wurden liquidiert. Die Umstellung auf eine reine Generikaproduktion führte zur Schliessung von Forschungsbereichen. Fast ein Drittel der Belegschaft wurde 2009 entlassen.

Werften wie die Werft 3. Mai in Rijeka blieben dagegen lange Zeit in staatlicher Hand. Am strategischen Schiffbausektor hängen insgesamt rund 60 000  Arbeitsplätze. Eine durch Korruption und Misswirtschaft fast durchgehend defizitäre Bilanz machte ihn von massiven staatlichen Subventionen abhängig. Über der Traditionswerft 3. Mai in Rijeka hängt nun der 1. Juli wie ein Damoklesschwert. Beim EU-Beitritt muss sie privatisiert werden, so lautet die Vorlage aus Brüssel. Sie wird kaum für mehr als einen symbolischen Betrag verkauft werden, eventuell droht ihr in naher Zukunft das endgültige Aus.

Skepsis und Proteste

Sowohl der Staat wie auch die Bevölkerung sind in Kroatien hoch verschuldet. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über zwanzig Prozent. Welches Ausmass die Korruption im Land erreicht hat, zeigt der Kollaps der HDZ. Kurz nach seinem überstürzten Rücktritt als Partei- und Regierungschef 2009 wurde Ivo Sanader wegen Korruptionsverdacht verhaftet, 2012 verurteilt. Nicht nur Sanader, die gesamte HDZ geriet ins Visier der Justiz. Millionen soll die Partei aus öffentlichen Unternehmen in schwarze Kassen abgezweigt haben. 2011 wurde die HDZ an der Wahlurne abgestraft. Seither regiert wieder die SDP.

Angesichts dieser Entwicklungen überrascht die weitverbreitete Skepsis der Bevölkerung gegenüber dem Annäherungsprozess an die EU nicht. Das Ja zum Beitritt, für das alle grossen Parteien und die einflussreiche katholische Kirche geworben hatten, fiel beim Volksreferendum Anfang des Jahres verhalten aus. Während der Widerstand gegen den EU-Beitritt zuvor vornehmlich aus der rechtsextremen Ecke gekommen war, manifestierte sich in den letzten Jahren zunehmend auch Opposition von links.

Ein Ausdruck des Stimmungswandels waren die Proteste von Studierenden an den kroatischen Hochschulen zwischen 2008 und 2011. Deren bildungspolitische Forderungen wurden im Zuge der Wirtschaftskrise auf eine Kritik am rigiden Sparkurs der Regierung und einer neuen Privatisierungswelle im öffentlichen Sektor ausgeweitet. An den Demonstrationen, die sich gegen das gesamte politische Establishment richteten, beteiligten sich verschiedene soziale Gruppen, so auch ArbeiterInnen betroffener Betriebe. Gleichzeitig erstarken am rechten Rand der zerrütteten HDZ wieder vermehrt radikale Kräfte, die mit nationalistischen Themen immer noch eine breite Basis ansprechen können. Der bevorstehende EU-Beitritt dürfte die bestehenden Konflikte im komplexen Gesellschaftsgefüge weiter akzentuieren.