Managed Care: Eine heimtückische Mogelpackung? Oder ein vernünftiger Kompromiss?
Am 17. Juni 2012 wird über die heftig umstrittene Managed-Care-Vorlage abgestimmt Die BefürworterInnen hoffen, mit der Stärkung der Ärztenetzwerke die Kosten in den Griff zu bekommen – die GegnerInnen glauben, die Vorlage zerstöre eine an sich gute Idee.
Pro: Hans Zaugg
Dass Managed Care (MC) grundsätzlich eine gute Sache ist, attestieren ihr sogar die Gegner. Da unbestritten, muss an dieser Stelle auf die Vorteile der bedarfsgerechten Lenkung von PatientInnen durch den Dschungel des Gesundheitswesens also nicht mehr eingetreten werden. Ob mit MC durch die Vermeidung unnötiger, allenfalls sogar gefährlicher Mehrfachbehandlungen Geld gespart werden kann, wird diskutiert. Tatsache ist, dass es mehrere Studien gibt, die für die Schweiz Einsparungen prognostizieren. Tatsache ist auch, dass der Schreibende keine einzige Studie kennt, die das Gegenteil beweist.
Um die Gesundheitskosten solidarischer und sozial verträglicher zu verteilen, wäre es jedoch vor allem sinnvoll, wenn die Politik sich dafür einsetzen würde, die entsozialisierenden hohen Wahlfranchisen mit Prämienrabatten abzuschaffen. Diese werden nur von Gesunden gewählt, entziehen dem Gesundheitssystem aber Prämiengelder, die für die Behandlung Kranker dann fehlen. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.
Da die Managed-Care-Vorlage eher komplexer Natur und somit schwer zu verstehen ist, gibt es viele angstmachende Missverständnisse, die von der Gegnerschaft auch gezielt für Werbezwecke missbraucht werden. Da wollen wir ansetzen.
Es sind nicht die Versicherer, die ihre eigenen Netze zusammenstellen (das wird mit dem Gesetz sogar explizit untersagt), sondern medizinische Leistungserbringer verschiedenster Herkunft wie Ärzte, Spitäler oder Spitex schliessen sich unabhängig zu einem Netz zusammen. Es gibt keine Vorschriften, wie ein solches Netz zusammengesetzt sein muss. Die Netze bieten dann ihre Leistungen einzelnen Kassen an, um MC-Verträge abzuschliessen, in denen die Modalitäten der Zusammenarbeit geregelt werden. Bei Einigkeit über die Konditionen werden die Verträge unterschrieben, sonst nicht.
Einzige Gesetzesvorschrift für diese Verträge ist eine Budgetmitverantwortung (BMV) des Netzes. Das Ausmass einer BMV und somit einer Kostenbeteiligung ist zwischen Netz und Kasse verhandelbar! Wird bezüglich der Kostenbeteiligung durch eine Kasse zu viel Druck auf ein Netz ausgeübt, wird der Vertrag nicht unterzeichnet. Werden keine Verträge unterzeichnet, wird MC sich selbst beenden.
Welche Absicht steckt dahinter?
Managed Care ist in erster Linie ein Versuch, die ausufernden Gesundheitskosten durch bessere Kostenkontrolle einzudämmen. Eine Kostenkontrolle können entweder die Kassen oder die Ärzte ausüben. Mit der BMV geht es vor allem darum, das Kostenbewusstsein der Ärzte zu stärken. Sicher ist es nicht verwerflich, wenn Hausarzt und Patientin sich darüber Gedanken machen, was eine Abklärung oder Behandlung kostet und vielleicht zwei- statt nur einmal überlegen, ob eine entsprechende Massnahme tatsächlich notwendig ist.
Kein vernünftig agierender Hausarzt wird jedoch einem Patienten eine notwendige Massnahme aus Budget- beziehungsweise Kostengründen verweigern. Einerseits ist der Arzt verpflichtet, dem Patienten jederzeit zur passenden Behandlung zu verhelfen (er möchte ja auch keine Haftpflichtfälle provozieren), andererseits würde der Arzt einen unzufriedenen Patienten spätestens Ende des Kalenderjahrs verlieren. Wer glaubt, dass Ärzte sich als willige Apparatschiks der Kassen missbrauchen lassen, kennt diesen Berufsstand äusserst schlecht.
Zur freien Arztwahl
Die Gegner der Vorlage reden das Ende der freien Arztwahl herbei. Klar, das macht den PatientInnen Angst. Wer Managed Care wählt, verpflichtet sich jedoch einzig dazu, im Krankheitsfall zuerst seinen Hausarzt (der einem Ärztenetz angeschlossen ist) aufzusuchen. Dieser weist den Patienten bei Bedarf an einen geeigneten Spezialisten oder ein Spital weiter. In erster Linie wird der Hausarzt dem Patienten einen Spezialisten vorschlagen, mit dem er bezüglich Kompetenz, Zusammenarbeit und Patientenzufriedenheit gute Erfahrungen gemacht hat.
Es gibt aber für PatientInnen keinen Zwang, ausschliesslich SpezialistInnen des Netzes zu berücksichtigen – was auch gar nicht umsetzbar wäre, da viele Netze netzintern gar nicht über die entsprechenden SpezialistInnen verfügen. Somit können alle PatientInnen sich auch an Institutionen überweisen lassen, die dem Netz nicht angehören.
Jetzt oder nie
Managed Care wird auch ohne Verankerung im Gesetz weitergehen. Da die MC-Vorlage bereits eine umkämpfte Kompromisslösung darstellt, bei der sämtliche beteiligten Kreise Abstriche von ihrer Idealvorstellung machen mussten, ist aber davon auszugehen, dass bei einer Ablehnung keine nachgebesserte Vorlage folgen wird.
Das Parlament will jedoch die Gesundheitskosten in den Griff bekommen. Es ist absehbar, dass in diesem Fall die Aufhebung des Vertragszwangs zwischen ÄrztInnen und Kassen angegangen wird. Damit würden nur noch die Kassen bestimmen, was eine Ärztin kosten darf und welche ÄrztInnen überhaupt noch für Behandlungen zulasten der Kassen zugelassen sind. Damit wäre dann definitiv und für alle Schluss mit der freien Arztwahl! Wer dies nicht will, sollte am 17. Juni ein Ja in die Urne legen.
Hans Zaugg (57) ist Facharzt für Handchirurgie in Zürich.
Kontra: Beat Ringger
Werden wir ernsthaft krank, dann wollen wir uns auf professionelle Hilfe verlassen können. Wir wollen uns nicht fragen müssen, ob die Handlungen und Unterlassungen der uns behandelnden Ärztin von ökonomischen Zwängen bestimmt sind. Wir wollen nicht, dass uns dasselbe passiert wie dem folgenden, bereits in einem Managed-Care-artigen Modell versicherten Patienten – es handelt sich um einen authentischen Fall: Der Patient verspürt eine Verminderung des Geruchssinns und teilt dies dem Hausarzt mit. Er wird vertröstet. Alle paar Monate sagt er beim Arztbesuch, es werde schlimmer. Er wird vertröstet. Nach einem Jahr riecht er gar nichts mehr. Er fordert den Hausarzt ultimativ zur weiteren Abklärung auf. Diese zeigt einen bereits fortgeschrittenen Hirntumor (Meningeom) im Bereich der Stirn. Der Riechnerv ist wahrscheinlich definitiv zerstört, und das Operationsrisiko mittlerweile erheblich gestiegen.
Die sogenannte Budgetmitverantwortung führt dazu, dass die Managed-Care-Netze Gewinne machen, wenn sie weniger als budgetiert ausgegeben. Wenden sie für ihre PatientInnen hingegen mehr als budgetiert auf, machen sie Verluste. Im vorliegenden Fall wird niemand je «beweisen» können, dass die Unterlassungen des Arztes mit ökonomischen Motiven zusammenhängen. Vielleicht waren es auch schlicht mangelnde Sorgfalt und fehlendes Engagement.
Doch wenn ökonomische Motive ins Spiel gebracht werden – und das tut die Managed-Care-Vorlage –, so doch wohl deshalb, weil sie wirkungsvoll sein sollen, nicht wirkungslos. Sie sollen sich in die Köpfe der medizinischen Fachleute einschleichen und die Entscheide mitsteuern. Und damit sind wir beim Grund Nummer eins, warum die Managed-Care-Vorlage abgelehnt werden muss.
Ähnlich wie in den USA
Grund Nummer zwei: Die Krankenkassen und die Versorgungsnetze können frei darüber bestimmen, ob und welche Verträge sie miteinander abschliessen. Diese Verträge sind überdies geheim; eine Kontrolle der Inhalte ist nicht vorgesehen. Niemand kann mit Sicherheit vorhersagen, wohin uns dies führt. Die Gefahr, dass sich auf allen Seiten die gewieften Businessleute durchsetzen, ist jedoch beträchtlich. Die Kassen werden versuchen, nur mit jenen Versorgungsnetzen zusammenzuarbeiten, die tiefe Kosten aufweisen. Die Netze werden versuchen, sich möglichst hohe Marktanteile zu holen.
Und Achtung: Es geht nicht um das Netzwerk der netten HausärztInnen von nebenan. Es geht um künftige Gesundheitskonzerne, die die gesamte Versorgungskette anbieten: Spitäler, Kliniken, Arztpraxen, Spitex, SpezialistInnen – «Netz» ist da ein Euphemismus. Meine Prognose: Die Managed-Care-Vorlage führt dazu, dass die Gesundheitsversorgung künftig durch ein Geflecht von Krankenkassen, Gesundheitskonzernen und Pharmamultis dominiert wird – ähnlich wie im Managed-Care-Erfinderland USA.
Fast auf allen Netzwerk-Sites tauchen als Sponsor Spirig, Sandoz, Mepha, Novartis und weitere Pharmakonzerne auf. Laut Aussage des Präsidenten des Berner Mednet wäre der Betrieb des Netzes ohne die Unterstützung durch die Pharmaindustrie gar nicht möglich. Ein deutliches Warnsignal ist auch der Versuch der Managed-Care-Lobby, einen Netzwerkarzt mundtot zu machen, der sich in WOZ Nr. 15/12 (12. April) kritisch zur Managed-Care-Vorlage geäussert hatte. NetzwerkärztInnen sollen sich keine eigene Meinung mehr leisten – schliesslich wirken kritische Stimmen ja auch «geschäftsschädigend».
Grund Nummer drei für ein Nein: Knebelverträge. Wer sich einem Managed-Care-Netz anschliesst, wird die Kasse und das Netz bis zu drei Jahre nicht mehr wechseln können – es sei denn, sie oder er bezahlt ein Austrittsgeld in einer vom Gesetz nicht begrenzten Höhe, zum Beispiel eine volle Jahresprämie. Mögliche Folge: Wird die versicherte Person während der Vertragsdauer pflegebedürftig, muss sie in die Heime, die sich dem Netz angeschlossen haben – auch wenn sie am andern Ende der Schweiz liegen.
Wie brauchen eine neue Vorlage
Grund Nummer vier: Zweiklassenmedizin. Noch sind gemäss den Santésuisse-Zahlen erst rund drei Prozent der Versicherten in einem Netz mit Budgetmitverantwortung. Der Bundesrat erwartet, dass sich nach Annahme der Vorlage zwei Drittel der Bevölkerung aus Kostengründen einem Netzwerk anschliessen werden. Laut der Vergleichswebsite Comparis liegt die Prämie bei freier Arztwahl bereits heute bis zu 25 Prozent über derjenigen für Managed-Care-Netze. Das macht für eine Familie mit zwei Kindern gut und gern 2500 Franken im Jahr oder 6.85 Franken pro Tag. Dazu soll jetzt neu noch der erhöhte Selbstbehalt von maximal 3.26 Franken pro Tag kommen.
Fazit: Die Vorlage muss zurück an den Absender. Sie macht die integrierte Versorgung kaputt, anstatt sie zu stärken. Wir brauchen eine neue Vorlage – ohne Budgetmitverantwortung und ohne erhöhten Selbstbehalt und mit der freien Wahl des Netzes durch die Versicherten. Und das geht nur, wenn die Kassen mit allen Netzen Verträge abschliessen müssen, wie sie dies heute schon mit den frei praktizierenden ÄrztInnen tun.
Beat Ringger (56) ist Zentralsekretär der Gewerkschaft der öffentlichen Angestellten VPOD.