Grundeinkommen und Psychologie: «Neue Freiheit, neue Zumutung»
Theo Wehner, Professor für Sozialpsychologie, erhofft sich von der Initiative zum Grundeinkommen eine Debatte über die Zukunft der Arbeitswelt.
WOZ: «Befreiung der Schweiz» heisst das kleine weisse Büchlein, mit dem das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) vorgestellt wird. Was oder wer genau wird denn da befreit?
Theo Wehner: Das BGE könnte uns von Arbeitsstrukturen befreien, die ungerecht sind, die krank machen, entfremden, stigmatisieren. Es wird aber nicht nur neue Freiheit geben. Das Grundeinkommen stellt auch eine Zumutung für alle dar. In der BGE-Zukunft müssten wir mehr Fantasie aufbringen und Eigenverantwortung übernehmen für unser Tun und unsere Arbeit, die nicht mehr in erster Linie Existenzsicherung wäre. Unser Tätigsein würde eventuell eine arbeitsvertraglich gesicherte Stelle sein. Vielleicht würden wir aber auch «Arbeitskraftunternehmer» werden und so eine neue Selbstständigkeit gewinnen. Die ganze Arbeitswelt wird sich ändern, wenn das BGE eingeführt wird.
Ist es wirklich eine grössere Freiheit, wenn «Menschen ihrem Herzen folgen» können, wie es in der BGE-Broschüre steht, als wenn sie sich mit der «Aussenwelt» auseinandersetzen
müssen?
Die Integration in eine Gesellschaft, ein soziales Milieu, muss nicht glatt und reibungslos sein. Wir werden durch vorgegebene, nicht frei gewählte Bedingungen durchaus auch zu Leistungen angespornt. Doch dabei beachten wir zu wenig, was unsere eigenen Bedürfnisse sind – genau das zeigt die Erwerbsarbeitsgesellschaft sehr klar. Wir haben dies etwa in der gemeinnützigen Arbeit erforschen können. Da sagen einige: Wenn ich das, was ich hier freiwillig tue, bezahlt bekäme, würde ich es nicht mehr machen. Das zeigt, dass die Bezahlung einer Tätigkeit unter Umständen unsere intrinsischen Motive korrumpiert. Bezahlung muss nichts Schlechtes sein. Aber sie verunmöglicht den Freiwilligen in diesem Fall, etwas so zu tun, wie sie es tun möchten.
Die BGE-BefürworterInnen erhoffen sich, dass die arbeitsbedingten Burn-outs verschwinden, die Eltern sich mehr Zeit für ihre Kinder nehmen und viele Menschen ihre künstlerischen Fähigkeiten entdecken.
Solche Versprechen würde ich nicht machen, da ich sie wissenschaftlich belegen müsste. Ich bin mir nicht so sicher, ob das BGE für all die Probleme, die wir uns eingehandelt haben, Antworten parat hat. Das BGE überzeugt mich nicht als Lösung, sondern als Denkanstoss.
Es braucht so einen radikalen Anstoss, um die Arbeitsgesellschaft weiterzudenken. Die Initianten haben uns angefragt, welches arbeitspsychologische Wissen wir haben, um zu belegen, dass das BGE funktioniert. Solches Wissen liegt heute nicht vor. Auch da braucht es Innovation.
Was man bereits jetzt weiss: Auch in einer Gesellschaft mit einem BGE wird es gesellschaftlich notwendige Arbeit geben. Wie soll diese organisiert werden?
Es wird vermehrt sogenannte Arbeitskraftunternehmer geben, BGE-Empfänger und Erwerbstätige, die losziehen mit ihren eigenen Ideen. Schon heute gehen Firmenneugründungen nicht auf Konzerne zurück, sondern auf junge Leute, die mit ihren Ideen von der Universität kommen oder ihre herkömmlichen Betriebe verlassen. Innovative Produkte und Dienstleistungen beginnen mit kreativen Ideen von einzelnen Personen.
Gilt das auch für den ganzen Care-Bereich, für die Krankenpflege und Kinderbetreuung zum Beispiel?
Die Bedürfnisse werden weiterhin da sein. Der Care-Bereich will versorgt werden. Aber die Fantasie, wie man diese Herausforderung löst, die wird in mehr Köpfen heranreifen. Da mehr Menschen über das Problem nachdenken könnten – da ihre Existenz materiell bereits gesichert wäre. Im Care-Bereich würden vielleicht viele die Tätigkeit selbst übernehmen und gar nicht erst an Dritte weitergeben. Oder sie würden sie zum Teil übernehmen. Oder sich mit zwei, drei andern zusammenschliessen. Ob immer alles gleich in Organisationen institutionalisiert und mit einem Businessplan legitimiert werden muss, müsste man sehen.
Die Utopie des Grundeinkommens funktioniert am besten für den gesunden jungen Mann um die dreissig, auf den auch schon die Realität der Erwerbsarbeit ausgerichtet war. Müsste ein neues Gesellschaftsmodell nicht alle Menschen im Blick haben?
Auf dem Grabstein des Philosophen Ernst Bloch steht: «Denken heisst überschreiten.» Das hat er wirklich so gemeint: Wenn wir anfangen, ein Problem zu bedenken, dann gelingt uns häufig mehr, oder etwas anderes, als es lediglich zu lösen. Bei der BGE-Debatte habe ich manchmal – etwas weniger bei den Initianten als bei den Widersachern – das Gefühl, wir bleiben hinter unseren Überschreitungsmöglichkeiten zurück. Wir buchstabieren das durch, was in unserer Gesellschaft jetzt schon schlecht funktioniert. Und können uns eigentlich nur vorstellen, dass es unter anderen Bedingungen eventuell ein wenig besser wird. Ich denke, das BGE ist ein Angebot, das man nicht von der Reparaturseite oder von der Seite des Statusunterhalts her denken sollte. Man muss einen neuen Blick auf die Bedürfnisse nicht nur des Individuums, sondern auch der Gesellschaft werfen. Mich interessiert das BGE als fundamentale Herausforderung an unser Menschenbild, denn für mich ist der Mensch ein tätiges, und das meint: ein soziales Wesen.
Das BGE wird etwas kosten. Und je grosszügiger es gehandhabt wird, je mehr Freiheiten es ermöglicht, desto höher werden diese Kosten sein. Wie kann das nötige Geld umverteilt werden?
Die Sechs-Wochen-Ferien-Initiative wollte genau das: Rationalisierungsgewinne als zeitliche Entlastung an die Lohnabhängigen weitergeben. In der Mitte des 21. Jahrhunderts wird keiner mehr vierzig Wochenstunden arbeiten, vielleicht werden es noch dreissig oder fünfundzwanzig Stunden sein. Aber in der Schweiz haben wir erlebt, dass selbst sechs Wochen Ferien in den Augen von zwei Dritteln der Schweizerinnen und Schweizer eine Bedrohung – für sie selbst oder für die Wirtschaft – darstellen. Sie glauben offenbar, dass wir nicht in der Lage wären, Arbeit durch soziale Innovationen anders zu organisieren. Dieses Abstimmungsergebnis gibt mir sehr zu denken.
Beeinflusst die BGE-Debatte auch ihre eigene Arbeit als Arbeitswissenschaftler?
Die Arbeitswissenschaft muss darüber nachdenken, was es heisst, in einer Gesellschaft tätig zu sein. Einer Gesellschaft, in der man nicht nur der Erwerbsarbeit nachgeht und alles andere so organisiert, dass es für die Erwerbsarbeit nicht störend wirkt. Das ist eine Herausforderung für die Arbeitswissenschaft: Wir wissen zu wenig über Hobbys, Ehrenamt, Hausarbeit …
Wird zur Hausarbeit nicht seit Jahrzehnten geforscht?
Ja, aber mit den Methoden, die die Erwerbsarbeitsgesellschaft hervorgebracht hat. Haus-
arbeit, aber auch Care-Arbeit kann man nur unvollkommen mit de der klassischen Lohnarbeitspsychologie angehen. Bei solchen Themen sollte uns die BGE-Debatte anregen und beeinflussen. Nicht umsonst haben sich die meisten grossen Ökonomen damit beschäftigt. Warum hat es bereits Thomas Morus im 16. Jahrhundert getan? Die Idee des gesicherten Grundeinkommens ist seit 500 Jahren in der Welt. Und immer noch hat sie so viel Sprengkraft, dass sie eine friedliche
Familienfeier innerhalb von fünf Minuten in zwei feindliche Lager spalten kann. Zum Glück wird in der Schweiz in den nächsten Jahren über diese Fragen nachgedacht werden. Hoffentlich diskutieren wir nicht nur über das Ja oder das Nein.
Theo Wehner (63) ist Professor für Arbeits- und Organisationpsychologie an der ETH Zürich. Eines seiner Spezialgebiete ist das «Volunteering», also die gemeinnützige Arbeit