Freie Kunstschaffende in der Schweiz : Die Kunst des Überlebens

Nr. 18 –

Wer kreativ sein will, muss frei sein. Doch eben diese Freiheit ist nicht die der Kunst – sondern jene des Marktes. Viele Schweizer KünstlerInnen leben an der Grenze zum Existenzminimum.

Sonnenlicht flutet den hohen Raum, in dem sich ein geordnetes Chaos breitgemacht hat. Neben der Eingangstür stehen Gipsfiguren, an den Wänden hängen Bilder, auf den Tischen liegen Skizzen. Im Atelier, das sich Gabi Kopp mit fünf KollegInnen teilt, duftet es nach frischem Kaffee. Draussen auf der Reuss tanzen Milliarden glitzernder Punkte. Drinnen, neben dem Fenster, sind schwarze Ordner in einem Gestell aufgereiht. Auf einem der Rücken steht «Buchhaltung».

«Im Februar und März waren meine Einkünfte gering», sagt Kopp, die seit 25 Jahren als freie Illustratorin arbeitet. «Annabelle», «Das Magazin», «Tages-Anzeiger», NZZ und «Parisienne» heissen ihre KundInnen. Die 53-Jährige ist etabliert, ihre Illustrationen und Cartoons sind beliebt. Doch vergangenes Jahr klingelte ihr Telefon weniger als sonst. Ihre Kunden sparen. Konkurrenz im Kampf um die Aufträge von Verlagen und Werbeagenturen erhält Kopp nicht nur von Illustratorinnen, sondern auch von Agenturfotografen. «Als freie Illustratorin», sagt Kopp, «muss ich mit einem extrem schwankenden Auftragseingang leben.»

«In fast jeder Künstlerkarriere gibt es Phasen mit geringem Einkommen», sagt auch Hans Läubli, Geschäftsführer von Suisseculture, dem Dachverband der professionellen Kulturschaffenden. «Viele Schweizer Künstler leben an der Grenze zum Existenzminimum.» Oft brauche nur etwas Unvorhergesehenes zu passieren, und schon gerieten sie in finanzielle Schwierigkeiten. «Unvorhergesehenes»: Das kann eine Schwangerschaft, eine Trennung, ein Todesfall – oder auch nur schon eine hohe Zahnarztrechnung sein. Existenzängste begleiten KünstlerInnen oft ihr Leben lang. Auch bei Gabi Kopp kehrt ab und an wieder die Angst ein – wie eine alte Bekannte, die sie nicht mag. Ausschalten kann Kopp die Existenzangst nicht, ignorieren schon: «Habe ich wenig zu tun, arbeite ich am meisten», sagt sie.

Sie sei sich wohl der strengste Chef, sagt Kopp. Oft arbeitet sie zu Hause, wo sie die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit durchlässiger gestalten kann. Lange sitzt sie dann an einer Skizze. Länger als es ihr das Richthonorar ihres Auftraggebers eigentlich erlauben würde. Kopp liebt, was sie tut. Doch dafür zahlt sie einen hohen Preis. Manchmal fragt sie sich, ob dieser Preis nicht zu hoch sei.

Angestellte auf Zeit

Um aus diesem Prekariat auszubrechen, suchen sich viele Kunstschaffende einen Nebenjob. Doch längst nicht alle können das. Schauspielerinnen, Sänger, Tänzerinnen, Regisseure oder Maskenbildnerinnen erhalten für ihre Auftritte meist einen Anstellungsvertrag, sind Angestellte auf Zeit. Nur selten finden sie zwischen zwei Engagements einen Nebenjob. Denn wer will schon jemanden anstellen, der gleich in der ersten Arbeitswoche wieder kündigen muss, weil aus heiterem Himmel ein grösserer Auftrag hereingeschneit kommt?

Freie Illustratorinnen, Grafiker, Texterinnen und Fotografen hingegen können sich im Allgemeinen einfacher ein zweites Standbein aufbauen. Doch auch sie arbeiten oft im Graubereich zwischen Selbstständigkeit und Anstellung. Immer wieder erhalten sie einzelne Aufträge von einzelnen Firmen, arbeiten manchmal über längere Zeit als Angestellte, dann wieder auf eigene Rechnung. Eine wahre Kunst liegt oft darin, die beiden Arbeitsverhältnisse zu trennen. Bei Jobverlust bergen solche Anstellungsverhältnisse ebenfalls ein Risiko. Wegen der oft wechselnden Auftraggeber zahlen viele Kunstschaffende, trotz Sonderregelung, zu wenig lange in die Arbeitslosenkasse ein. Laufen die meist befristeten Arbeitsverhältnisse aus, haben die KünstlerInnen keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Doch selbst wenn erwerbslose KünstlerInnen Geld aus der Kasse beziehen dürften, machen sie es oft nicht. Denn ein Künstler ist ein Künstler ist ein Künstler – nur kein Arbeitsloser.

Wer Gesetzbücher wälzt und nach dem Wort «freischaffend» sucht, sucht lange. Nur die Wörter «selbstständig» oder «unselbstständig erwerbend» kennt das Schweizer Gesetz. Oft sind freie KünstlerInnen beides. Dies wirkt sich vor allem auf die Sozialversicherungen aus. Manche AuftraggeberInnen zahlen den Sozialversicherungsbeitrag, manche nicht. Immer wieder zwingen Betriebe KünstlerInnen in der Schweiz zur Scheinselbstständigkeit, um Sozialabgaben zu sparen. Kopp bekommt für weniger als die Hälfte ihrer Aufträge einen Arbeitgeberbeitrag. Der beruflichen Vorsorge hat sie sich freiwillig angeschlossen. Nur wenige machen das – die meisten können aus der Rentenkasse im Alter deshalb auch nicht viel erwarten. Das Risiko der Altersarmut ist bei Kulturschaffenden besonders hoch.

Beseelt vom Geschmack der Freiheit

Kunstschaffende sozial abzusichern: Das ist ein Hauptanliegen von Suisseculture Sociale. Der Verein setzt sich bei Politikerinnen und Kulturinstitutionen für die Bedürfnisse der Künstler ein und unterstützt sie in wirtschaftlichen Notlagen. Das macht auch die Berner Forberg-Stiftung. Im Gegensatz zu den meisten anderen Stiftungen allerdings unterstützt die Organisation nicht junge aufstrebende Kulturschaffende, sondern hilft KünstlerInnen ab vierzig. Die Institution möchte vor allem jenen helfen, die schon etwas geleistet haben – nicht jenen, die am Anfang ihrer Karriere stehen. Vierzig Nothilfegesuche pro Jahr gehen bei der Stiftung ein: «Die meisten Künstler», sagt Marian Amstutz, die Geschäftsführerin der Stiftung, «stellen erst ein Gesuch, wenn sie keinen anderen Ausweg mehr sehen.» Nötig sei daher vor allem schnelle und unbürokratische Hilfe.

Prekariat hin oder her: Gabi Kopp fasziniert ihre Arbeit noch immer. Nächstes Jahr will sie – und darauf freut sie sich besonders – ein persisches Kochbuch mit Illustrationen herausgeben. Beseelt vom Geschmack der Freiheit und der iranischen Küche, erzählt sie von der geplanten Recherchereise in den Iran. Draussen auf der Reuss tanzen Milliarden glitzernder Punkte. Drinnen auf dem Regal, da wartet der Ordner «Buchhaltung».

Mehr über die Vorsorgeeinrichtungen auf 
www.suisseculture.ch und www.forbergstiftung.org.